Titel
Die Wahrheit der Historiker.


Autor(en)
Paravicini, Werner
Erschienen
München 2010: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
VII, 94 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Achim Landwehr, Historisches Seminar VIII, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Am Ende seines Essays über das Problem der Wahrheit (in) der Geschichte zitiert Werner Paravicini das Exlibris von Marc Bloch mit dessen Motto „Veritas vinum vitae“ – die Wahrheit ist der Wein des Lebens. Paravicini entdeckt darin ein Lebensmotto, denn Bloch habe die Wahrheit geliebt, ja, er habe „an die Wahrheit geglaubt.“ (S. 41) Der Autor scheint an dieser Stelle in gleicher Weise von Bloch wie von sich selbst zu sprechen. Denn man geht wohl nicht fehl, in Paravicinis Schrift nicht zuletzt eine Abhandlung zu sehen, die den Glauben an die Wahrheit nicht aufgeben will.

Von welcher Wahrheit allerdings genau die Rede ist, lässt sich auf unterschiedliche Art und Weise beantworten. Der Titel verkündet eine „Wahrheit der Historiker“ und rekurriert damit auf die Wahrheit eines Berufsstandes. Im Text selbst ist aber davon kaum mehr die Rede, vielmehr geht es dort um die Wahrheit der Geschichte – was ja nun zwei Paar Stiefel sind. Aber auch diese Wahrheit der Geschichte lässt sich schwerlich greifen, denn Paravicini gibt unterschiedliche Antworten darauf, wie sie ausgestaltet sein könnte. In seinem Bemühen, die Wahrheit gegen vermeintliche oder tatsächliche Gegner zu verteidigen, spricht er einerseits davon, dass es eine „Wahrheit an sich“ nicht gebe und der „Abschied von der nackten Wahrheit vollzogen worden sei.“ (S. 24f.) Zugleich postuliert er aber: „Wahrheit zu ermitteln bleibt die Aufgabe nicht nur der Historiker, sondern jeder Wissenschaft, wobei es sich nicht lediglich um jemandes Wahrheit handeln kann, sondern nur um eine Wahrheit an und für sich.“ (S. 40) Die Leserschaft könnte also etwas verwirrt zurückbleiben, weil nicht klar wird, ob es ‚die eine Wahrheit‘ nach Ansicht Paravicinis nun noch geben soll oder ob sie sich in eine Pluralität von Wahrheiten auflöst.

Doch zurück zum Anfang: Eingangs seiner Abhandlung formuliert Paravicini seine beiden Fragestellungen. Einerseits möchte er darlegen, worum es sich bei ‚der Wahrheit‘ handelt, von der Leserschaft und Autoren in einer Art ‚Pakt‘ ausgehen, wenn sie sich historischen Darstellungen zuwenden. Andererseits geht es ihm um das beständige Umschreiben der Geschichte, also um das Problem, wo die Wahrheit historischer Beschreibungen zu verorten ist, wenn ‚die Geschichte‘ in mehr oder weniger großen Abständen revidiert wird. Von diesen Leitfragen ausgehend, kreist die Argumentation vornehmlich um drei Problemfelder, die verschiedentlich aufgegriffen werden: Wahrheit, Quelle und Tatsache. Zunächst wird in einer Art Feldforschung der erkenntnistheoretischen Kritik an diesen Begrifflichkeiten nachgegangen. In einem zweiten Durchgang versucht Paravicini Möglichkeiten aufzuzeigen, um diese zentralen Kategorien historischen Arbeitens trotz der geäußerten Kritik zu bewahren. Und in einem letzten Abschnitt entwirft er dann ein Verständnis geschichtswissenschaftlichen Tuns, das möglicherweise als Kompromissvorschlag gedacht ist, zugleich aber so uneindeutig bleibt, dass es zu der bereits erwähnten begrifflichen Verwirrung führt.

Folgen wir dem Verfasser zunächst in seiner Beschreibung der Probleme. Und die sind durchaus grundlegender Natur. Wie gesagt, Paravicini betreibt Feldforschung und sammelt zunächst diverse Stimmen zur Wahrheitsfrage in den Geschichtswissenschaften. Die Rollen sind dabei klar verteilt, wie man es aus diversen anderen Veröffentlichungen zu diesem Diskussionsfeld bereits kennt. Paravicini spricht davon, dass „das Wort ‚Wahrheit‘ von allen Fachleuten mit hohem Mißtrauen betrachtet wird“, dass „vorschnell“ der „Tod der Wahrheit“ verkündet worden und der „Rubikon“ in Richtung Konstruktivismus überschritten worden sei. Wer sich hingegen auf Rankesche Positionen beziehe, ernte „müdes Lächeln“ und „schlimmstenfalls Hohn“ (S. 2f.). So weit, so bekannt – und auch so wenig interessant. Denn die Entgegensetzung vermeintlich diametraler Positionen ist in all den geschichtswissenschaftlichen Grundlagendebatten der jüngeren Vergangenheit bis zur Neige ausgeschöpft worden, ohne dass die Darstellung dieser harschen Opposition dadurch überzeugender geworden oder der Debatte gar eine neue Wendung gegeben worden wäre.

Zu einem Anlass der Verärgerung wird die Abhandlung, wenn an manchen Stellen Pappkameraden aufgebaut werden, denen – wie nicht selten in solchen Debatten – unzutreffende Argumente aus zweiter Hand untergeschoben werden können, um ihnen diese dann zum Vorwurf zu machen. Das ist, offen gestanden, schlechter, wenn auch vielfach geübter Stil. Einige Beispiele: Paravicini schreibt, dass sich der „radikale Konstruktivismus“ „durch keine greifbare Tatsachenwelt mehr beschränken lassen“ wolle (S. 4). Die Mühe der etwas intensiveren Auseinandersetzung mit dem radikalen Konstruktivismus wäre mit der Einsicht belohnt worden, dass dieser sich sehr wohl durch eine „Tatsachenwelt beschränken“ lässt. Das Gegenteil zu behaupten, kommt einer Peinlichkeit gleich. Auch wird einmal mehr Paul Feyerabends „Anything goes“ als das gänzliche Fehlen methodischer Prinzipien, als Aufgabe wissenschaftlicher Verbindlichkeiten und Freifahrtschein für das Mitreden trotz Ahnungslosigkeit zitiert (S. 11), obwohl Feyerabend eben das nicht damit gemeint hat, wie eine Lektüre von „Wider den Methodenzwang“ erweisen könnte.1 Kaum überzeugender ist es, wenn Paravicini indirekt zugibt, Foucault nicht zur Kenntnis genommen zu haben (S. 13), zugleich aber verkündet, dass selbst dieser Foucault sich gegen Ende seines Lebens zu den Wahrheiten bekannt habe (S. 28). Ich möchte behaupten, Foucault hat fast sein ganzes wissenschaftliches Leben nichts anderes getan, als sich mit Wahrheiten auseinander zu setzen, wenn vielleicht auch auf andere als der von Paravicini erwarteten Weise. Die Erfindung gänzlich neuer, bis dato unbekannter Wissenschaftstypen wie dem „radikalen Dekonstruktivisten“ (S. 14) erscheint da eher amüsant.

Um richtig verstanden zu werden: Mir geht es nicht um erbsenzählerische Beckmesserei. Ich möchte noch nicht einmal die Frage aufwerfen, wie Paravicini es mit der von ihm so hoch gehaltenen Wahrheit auf der Basis fundierter Fakten- und Quellenarbeit hält, wenn er nicht einmal die ‚Quellen‘ seiner Diskussionspartner zur Kenntnis nimmt. Vielmehr zeigen solche Stellen, wie sich das Vorgehen des Verfassers gegen ihn selbst richtet. Denn diese Auseinandersetzungen werfen die Frage auf, von welcher und wessen Wahrheit wir sprechen?

Die Rettung naht in bekannter Gestalt. Paravicini macht ‚die Quellen‘ stark, um ‚die Wahrheit‘ ‚der Geschichte‘ auf eine sichere Grundlage zu stellen, denn in diesen Quellen ließen sich die Tatsachen ausfindig machen, auf denen die Wahrheit basiere. Paravicini räumt zwar ein, dass die Ermittlung historischer Tatsachen noch keine Geschichte ausmache, aber deren „kleinere Wahrheit ist die Grundlage der größeren und die Voraussetzung jeder wie auch immer gearteten Interpretation.“ (S. 16) Man könne daher von „Grundtatsachen“ sprechen, die sich beispielsweise in einem Lebenslauf dingfest machen ließen (Geburt, Tod etc.), in kalendarischen Zusammenhängen (Jahreszeiten etc.) oder in Ereignissen (Schlachten usw.).

Damit wäre der erste Schritt auf der Suche nach der Wahrheit auf die Ermittlung einer Chronologie reduziert. Allerdings ergeben sich hier mindestens zwei Probleme. Erstens unterstellt Paravicini, dass die Wahrheitsdiskussion sich auch um diese Aspekte drehen würde, dass Kritiker einer allzu schlichten Wahrheitstheorie also auch bezweifeln würden, dass und wann der Sturm auf die Bastille vonstattengegangen sei. Darum geht es aber nicht, denn es gibt keinen Grund, an diesem Ereignis Zweifel anzumelden. Zu Wahrheit und Wirklichkeit wird dieses Ereignis aber erst, wenn es in irgendeiner Art und Weise in Relation gesetzt wird, wenn es also zur Wahrheit für jemanden wird. Und dann muss man feststellen, dass der Sturm auf die Bastille eben nicht mehr einfach nur ein Ereignis ist, sondern spezifische Wahrheiten ausbildet, die sich durchaus widersprechen können.

Das zweite Problem besteht darin, dass Paravicini die Auswahl bei den von ihm identifizierten „Grundtatsachen“ nicht reflektiert. Wie wird denn eine Tatsache zur historischen Tatsache? Indem man alle Fakten sammelt, chronologisch hintereinander stellt, um dann mit diesem vermeintlich nackten Gerüst eine Geschichte zu schreiben? Wohl kaum, denn wie nicht großartig bewiesen werden muss, ist jede Ermittlung von ‚Tatsachen‘ immer ein Selektionsprozess, also bereits Teil derjenigen Herstellung von Wahrheit, die Paravicini um jeden Preis vermeiden will. Schon bevor auch nur ein Wort einer historischen Darstellung seinen Weg auf das Papier gefunden hat, hat das Schreiben der Geschichte längst begonnen. Und zudem sind es bei weitem nicht nur diejenigen, die sich geschichtswissenschaftlich befleißigen, die eine entsprechende Auswahl (und damit Wahrheitsformation) vornehmen müssen, sondern auf der anderen Seite ist schon längst ausgewählt worden. Archive, diese Sakralbauten geschichtswissenschaftlichen Selbstverständnisses, sind bekanntermaßen alles andere als neutrale Speicher historischer Überlieferung, sind vielmehr eindeutig zweckgebundene Gedächtnisbanken des Staates, die höchst selektiv vorgehen. Welche Wahrheit wird man dort wohl präsentiert bekommen?

Ein weiteres Problem liegt auf einer anderen Ebene: Paravicini reflektiert seine Voraussetzungen nicht, die sich als fundamentale Dualismen bemerkbar machen. So nimmt er völlig selbstverständlich an, dass das Gegenteil von Wahrheit die Lüge sei. Vielleicht könnte aber das Gegenteil von Wahrheit auch eine andere Wahrheit sein? Es wird auch nicht die Frage gestellt, was denn ‚die Geschichte‘ ist, deren ‚Wahrheit‘ gerettet werden müsste. Diese ‚Geschichte‘ existiert auf jeden Fall nicht einfach ‚dort draußen‘, wo sie nur gefunden und angemessen erkannt werden müsste.

Paravicini nimmt eine in der abendländischen Tradition etablierte Dualisierung zwischen der Welt und ihrer Beschreibung vor. Damit werden Dinge voneinander getrennt, die sich überhaupt nicht trennen lassen: Die Welt und unsere Beschreibung von ihr bilden eine unauflösliche Einheit, einfach deswegen, weil wir ohne Beschreibung überhaupt keine Welt hätten (oder zumindest nicht den Teil der Welt, der Gegenstand der Beschreibung ist). Die Beschreibung aber von ihrem Gegenstand abzukoppeln, um dann zu fragen, ob sie ‚wahr‘ ist, produziert erst all die wahrheitstheoretischen Diskussionen, in denen aufwändig Korrespondenzen zwischen Welt und Beschreibung hergestellt oder behauptet werden müssen.

„Die Wahrheitstheorien sind eine erkenntnistheoretische Verschleierung des Faustrechts.“2 Aber auch diesen Zusammenhang blendet Paravicini aus, negiert ihn sogar explizit, wenn er sich gegen Begrifflichkeiten wie „Deutungshoheit“ und „Deutungsmacht“ wehrt, die ‚der Wahrheit‘ das Wasser abzugraben drohen. Man kann sich, wie gesagt, dafür einsetzen, die ‚eine Wahrheit‘ in Form eines Glaubensbekenntnisses zu verteidigen. Wenn man sich aber dazu durchringen könnte, die Pluralität von Wahrheiten zu akzeptieren, dann müsste sich die Folgefrage stellen, wie der Zusammenhang von Wahrheit und Macht ausgestaltet ist. Dass ein solcher Zusammenhang existiert, führen uns alle Wahrheitsverkünder, auch aus den Wissenschaften, tagtäglich vor Augen. Es ist also nicht nur die Frage, mit welcher Wahrheit wir es jeweils zu tun haben, sondern auch mit wessen Wahrheit. Denn Wahrheit wird als Kategorie erst dann nötig, wenn Zweifel auftreten, wenn sich kognitives Unwohlsein ausbreitet und wenn Handlungen misslingen. Sich selbst muss man von einer Wahrheit schwerlich überzeugen, weshalb diese Kategorie immer nur im gesellschaftlichen Miteinander auftaucht.

Das moralische Problem, das in diesem Essay thematisiert wird, kommt an einer Stelle recht gut zum Ausdruck. Paravicini schreibt: „Wenn man so will, hat die Säkularisierung in der Form des radikalen Historismus jetzt endlich die Geschichtswissenschaft voll und ganz ergriffen. Wenn uns nichts mehr wirklich ist, ist uns auch nichts mehr wertvoll, geschweige denn heilig.“ (S. 10) Die Gleichung, die hier aufgemacht wird, ist recht simpel – zu simpel, würde ich sagen: Es gibt laut Paravicini Menschen, die grundsätzlich jede Wahrheit und jede Wirklichkeit negieren, damit auch alle Werte negieren und insbesondere die Errungenschaften der westlich-europäischen Zivilisation und der Aufklärung in den Wind schlagen. Hier liegt allerdings ein kategorialer Fehler vor. Bruno Latour hat einmal gefragt, ob die Wirklichkeit denn etwas sei, an das man glauben müsse.3 In der alltäglichen Konfrontation mit dieser ‚Wirklichkeit‘ gibt es keinen Anlass, eine solche Glaubensfrage überhaupt aufzuwerfen. Das Problem ist also nicht, ob es Wirklichkeit und Wahrheit gibt, sondern nur wie es sie gibt. Und dann wird man ebenso unzweifelhaft feststellen müssen, dass keine Form von Wahrheit existiert, die universale Geltung für sich nicht nur beanspruchen, sondern auch tatsächlich einlösen kann. Und das ist ein Problem, bei dem die Geschichtswissenschaften schon seit Langem und immer noch dazu aufgerufen sind, Antworten zu geben – Antworten, die über schlichte Dichotomisierungen hinausgehen. Denn wie Marcel Proust schon wusste: „Die Welt ist wahr für uns alle, doch verschieden für jeden einzelnen.“4

Anmerkungen:
1 Paul Hoyningen-Huene, Geht wirklich alles? Das missverstandene „Anything goes“ Paul Feyerabends, in: Neue Zürcher Zeitung, 16./17. September 2000, S. 54.
2 Josef Mitterer, Das Jenseits der Philosophie. Wider das dualistische Erkenntnisprinzip, 3. Aufl. Wien 2000, S. 110.
3 Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt am Main 2000, S. 7.
4 Marcel Proust, Die Gefangene. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 5, Frankfurt am Main 1983, S. 252.

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