C. J. Classen: Herrscher, Bürger und Erzieher

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Titel
Herrscher, Bürger und Erzieher. Beobachtungen zu den Reden des Isokrates


Autor(en)
Classen, Carl Joachim
Reihe
Spudasmata 133
Anzahl Seiten
136 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Dreßler, Excellence Cluster Topoi, Humboldt-Universität zu Berlin

Als herausragender Vertreter der klassischen Rhetorik gehörte Isokrates (436–338 v.Chr.) seit hellenistischer Zeit zum Kanon der zehn großen attischen Redner. Für spätere Kommentatoren wie Cicero und Quintilian war er – als einflussreicher Lehrer der Rhetorik – außerdem maßgeblich daran beteiligt, dass sich die Redekunst neben der Philosophie als eigenständiger Bildungsweg etablierte.1 Isokrates selbst bezeichnete allerdings seine vorwiegend rhetorisch geprägte Bildung als philosophía.2 Dies verweist zum einen auf den noch durchaus offenen (und umstrittenen) Bedeutungsgehalt des Wortes im zeitgenössischen Sprachgebrauch. Zum anderen bringt es aber auch Isokrates’ Anspruch zum Ausdruck, wonach Rhetorik weit mehr als die bloße Fähigkeit sein sollte, kunstvoll und überzeugend zu reden. Für ihn hatte die Ausbildung nicht nur den guten Redner, sondern vor allem den guten Bürger zum Ziel, der seine intellektuellen und kommunikativen Fähigkeiten in den Dienst der Allgemeinheit stellt.3 Rhetorik-Unterricht hatte damit auch eine wichtige ethische Komponente, und ein Mittel zu diesem Ziel waren eben die Reden: Die politischen Ratschläge, moralischen Belehrungen und (positiven wie negativen) Exempla, die sie bereithielten, dienten schließlich auch dazu, Schülern wie Allgemeinheit grundlegende soziale Werte und Normen vermitteln.4

Der emeritierte Göttinger Altphilologe Carl Joachim Classen widmet sich also einem für Isokrates selbst durchaus zentralen Thema, wenn er die Reden mit Hinblick auf „die Frage nach den von Isokrates herausgestellten Werten und Normen und den Mitteln und Wegen, mit deren Hilfe sie nach seiner Meinung erreicht werden können“, (S. 3) untersucht. Zu diesem Zweck zieht der Autor eine repräsentative Auswahl aus dem Corpus Isocrateum heran, die er wiederum in mehrere Gruppen untergliedert: ‚Die Gerichtsreden‘ (S. 4–28), ‚Helena und Busiris‘ (S. 29–40), ‚Die kyprischen Reden‘ (S. 41–59), ‚Gegen die Sophisten‘ (S. 60–63), ‚Panegyrikos‘ (S. 64–79) sowie die Rede ‚Über den Vermögenstausch‘ (S. 80–104). Der kurzen Zusammenfassung der Ergebnisse am Schluss der Arbeit (S. 105–109) folgt ein längeres Register fast aller griechischer Wörter, die in den im Anmerkungsapparat ausführlich angeführten griechischen Originalstellen enthalten sind (S. 110–136) – wobei letztlich fraglich bleibt, ob Wörter wie állos, hápas, _mégas oder mónos (um nur einige von vielen Beispielen zu geben) tatsächlich einen Registereintrag erfordert hätten.

Die Lektüre der einzelne Texte führt Classen schließlich zu dem Schluss, „dass Isokrates in seinen Reden unabhängig von der jeweils gewählten Gattung und dem speziellen Anlass stets den unmittelbaren Bezug zur Öffentlichkeit, zum Interesse und dem Wohl der Polis herausstellt und zum Maßstab für alle Urteile macht“ (S. 105). Die eigenen Interessen sollen also jeweils denen der Polis untergeordnet werden (S. 108); diese Forderung gilt vor allem für Redner und Philosophen, die in ihrer Eigenschaft als Erzieher Verantwortung für ihre Mitbürger, insbesondere die Jugend, übernehmen sollen (S. 107). Isokrates reklamiert also für sein eigenes rednerisches Wirken, dass es am Wohl der Polis orientiert sei, und fordert eine solche Gesinnung auch von seinen Mitbürgern, insbesondere der gebildeten Elite. Wie ein solches polisfreundliches Verhalten in der Realität aussehen soll, wird in den Reden an einer Vielzahl konkreter Beispiele moralischen bzw. unmoralischen Verhaltens verdeutlicht (zusammenfassend dazu S. 108).

Das Idealbild des guten Bürgers, das Classen als wesentlichen Orientierungspunkt in Isokrates’ Reden aufzeigt, fügt sich ohne Weiteres in das Bild der seit Längerem betriebenen Forschungen zur Konstruktion bürgerschaftlicher Identität in der Polis und zu Isokrates’ Stellung in diesem Zusammenhang ein. Allerdings verzichtet Classen darauf, seine Ergebnisse an diese Debatten anzubinden – wie er überhaupt in der gesamten Arbeit auf jegliche Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur verzichtet.5 Auch ansonsten wird das Potenzial der Untersuchung keineswegs ausgeschöpft: Eine Einordnung der Quellen in ihren historischen Kontext, insbesondere in Bezug auf den zeitgenössischen Diskurs, findet nicht statt. Weitere Quellen, die ähnliche Positionen vertreten (oder sich davon absetzen), werden weder erörtert noch erwähnt.6 Classens Untersuchung bietet in weiten Teilen keine Interpretation im eigentlichen Sinne, sondern eher ein detailliertes Quellenreferat: Im Hinblick auf die übergeordnete Fragestellung werden Isokrates’ Texte Schritt für Schritt durchgegangen und in indirekter Rede wiedergegeben.

Eine Folge dieses Verfahrens ist es, dass Classen sich bei seiner Auswertung weitgehend den Standpunkt der Quellen zueigen macht: So hätte etwa Isokrates den Schlusssatz auf S. 109 auch selbst so formulieren können. Die spezifische Perspektive und Motivation der Texte wird weder als solche kenntlich gemacht noch hinterfragt. Eine kritische Analyse hätten daneben auch Isokrates’ Äußerungen zu seinen ‚Gegnern‘ verdient; schließlich war er in der Auseinandersetzung mit anderen Philosophen und Rhetoriklehrern, die sich wiederholt in seinen Texten niederschlägt, keineswegs ein neutraler Beobachter.7

Beachtenswert wäre auch die Tatsache gewesen, dass die Orientierung am Gemeinwohl der Stadt eben nicht nur ein von Isokrates vertretener Gedanke, sondern einer der gängigsten Topoi im zeitgenössischen Diskurs überhaupt ist. Eine Ausweitung des Blickwinkels auf weitere Quellen hätte also zur Einordnung und Bewertung der isokrateischen Aussagen einiges beitragen können. Dabei wäre dann auch nach der Motivation zu fragen gewesen, mit der Isokrates gängige Topoi aufgreift: Genuine Überzeugung und das Bestreben, die Mitbürger zu tugendhaftem und gemeinnützigem Verhalten zu ermuntern, sind sicher nicht von der Hand zu weisen. Doch ist die Behauptung, man selbst sei einzig am Wohl der Stadt interessiert, während dies für andere nicht gelte, eben immer auch ein rhetorisches Mittel, die eigene moralische Autorität zu betonen und den vertretenen Standpunkt zu rechtfertigen. Dies gilt in unterschiedlichem Maße für alle Reden des Isokrates, wäre aber insbesondere für die Gerichtsreden sowie die Sophisten- und die Antidosis-Rede zu berücksichtigen.

Classens Untersuchung kann den Rezensenten insgesamt leider nur zum Teil überzeugen: Der Autor kommt auf der Grundlage einer umfangreichen und sorgfältigen Auswertung der Quellen zu einer fundierten Zusammenstellung der Werte und Normen, die für Isokrates einen guten Bürger ausmachen und die er in seinen Reden sowohl für sich selbst in Anspruch nimmt als auch von anderen einfordert. Allerdings bietet die Arbeit großenteils lediglich eine Wiedergabe der Quellen, leistet also keine kritische Auseinandersetzung mit den Reden, stellt keinen Bezug zu anderen zeitgenössischen Texten her und stellt ihre Ergebnisse auch nicht in den Kontext der modernen Forschung. Das Potenzial der Fragestellung kann daher noch keineswegs als ausgeschöpft gelten – was die Untersuchung wiederum als gute Grundlage für weitere Arbeiten qualifiziert.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Cic. inv. 2,3,8; Quint. inst. 3,1,14.
2 Vgl. Christoph Eucken, Isokrates. Seine Positionen in der Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Philosophen, Berlin 1983, S. 14–18.
3 Vgl. Isok. Nik. 1–9; Panath. 87; Antid. 33–50.
4 Vgl. Isok. Soph. 20–21; ad Dem. 4–4; Panath. 1–2, 271.
5 In der kurzen Einleitung werden einige in jüngerer Vergangenheit erschienene Arbeiten genannt (S. 1 mit Anm. 1–5); allerdings setzt sich die Untersuchung im Folgenden an keiner Stelle mit ihnen auseinander. Zu nennen wäre außerdem: Takis Poulakos / David Depew (Hrsg.), Isocrates and Civic Education, Austin 2004.
6 Am Ende der Arbeit findet sich eine kurze Gesamtcharakterisierung von Platon und Demosthenes im Vergleich mit Isokrates (S. 108f.).
7 Zur Auseinandersetzung mit Konkurrenten: Isok. Hel. (vgl. S. 29f. u. 34), Bus. (vgl. S. 39f.), Soph. (vgl. S. 60–62), Antid. (vgl. S. 80 mit Anm. 4, 86, Anm. 35, u. 98f.). Außer in Bezug auf die Busiris-Rede, in der Isokrates selber seinen Konkurrenten Polykrates direkt anspricht, bemüht sich Classen auch nicht um eine Identifizierung der jeweiligen, nicht namentlich genannten ‚Gegner‘. Zu dieser Frage vgl. Eucken (wie Anm. 2).

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