W. Kaiser u.a. (Hrsg.): European Union History

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Titel
European Union History. Themes and Debates


Herausgeber
Kaiser, Wolfram; Varsori, Antonio
Erschienen
Basingstoke 2010: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
268 S.
Preis
€ 24,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manuel Müller, Graduiertenkolleg „Verfassung jenseits des Staates: Von der europäischen zur globalen Rechtsgemeinschaft?“, Humboldt-Universität zu Berlin

Der prominent besetzte Sammelband erhebt schon in der Einleitung einen hohen Anspruch: Nicht weniger als eine „indispensable introduction to the state of the art […] for some years to come“ (S. 5) soll er für sein Forschungsfeld sein. Gemeint ist damit – dem Titel zum Trotz – nicht nur die Geschichte der 1993 gegründeten Europäischen Union, sondern die gesamte Geschichte der europäischen Integration seit der Nachkriegszeit. Der Band basiert auf der Feststellung, dass trotz umfangreicher Forschung dieser Themenbereich in Gesamtdarstellungen zur europäischen Geschichte allgemein meist nur wenig Aufmerksamkeit finde. Als Grund dafür wird die starke Fragmentierung der Integrationsgeschichtsschreibung sowohl durch nationale und sprachliche Unterschiede als auch durch eine methodologische und archivalische Vielfältigkeit angesehen, die eine Synthese erschwere. Ziel des Bandes ist es daher, einen Überblick der Forschungslandschaft zu geben, der die Verständigung einerseits innerhalb des Feldes, andererseits mit Forschern anderer Teilbereiche und Disziplinen verbessern soll.

Besonders nützlich in diesem Sinne sind die ersten drei Kapitel des Buches, die den Forschungskontext der Integrationshistoriografie erläutern. Antonio Varsori beschreibt zunächst die institutionelle Etablierung der Integrationsgeschichte als eines eigenen Forschungsfelds seit den 1980er-Jahren, insbesondere durch die Aktivitäten des 1983 gegründeten „European Liaison Committee of Historians“ sowie durch die ab 1989 von der Europäischen Kommission eingerichteten Jean-Monnet-Lehrstühle. Dabei sei die starke Rolle der Kommission, die Varsori als Hindernis für die Professionalisierung und einen Grund für die zunächst allzu EG-freundliche Ausrichtung des Forschungsfelds sieht, seit der Jahrtausendwende stark zurückgegangen; die bestehenden Netzwerke entwickelten seither stärkere Unabhängigkeit und theoretisch anspruchsvollere Ansätze. Zu einer ähnlichen Beobachtung gelangt Katja Seidel, die bei der Untersuchung von Publikationstrends in der Integrationsgeschichte drei Phasen identifiziert: erstens die vor allem diplomatiegeschichtlich ausgerichtete „Pionierarbeit“ unmittelbar nach Öffnung der Archive, zweitens die Verbreiterung der Analyse auf eine größere Zahl verschiedener, auch nichtstaatlicher Akteure, drittens eine – erst in den letzten Jahren einsetzende – Phase der „Raffinierung“ mit höherer methodischer Reflexion und einer differenzierteren, nicht mehr auf eine reine Erfolgsgeschichte abzielenden Lesart der Integration. Wolfram Kaiser schließlich beklagt die fehlende Anbindung der Integrationsgeschichte sowohl an die allgemeine europäische Geschichte als auch an Nachbardisziplinen wie die Sozial- und Politikwissenschaft. Als Gründe hierfür nennt er die anfangs stark teleologische Ausrichtung sowie die diplomatiegeschichtliche Verengung der Integrationsgeschichtsschreibung. In jüngerer Zeit werde diese Isolierung zu überwinden versucht, indem etwa theoretische Konzepte der Sozialwissenschaften für die Integrationsgeschichte adaptiert würden. Trotz mancher damit verbundener Schwierigkeiten plädiert Kaiser für die Fortsetzung dieser interdisziplinären Verzahnung, die analytisch besser durchdachte historische Narrationen ermögliche.

In den folgenden drei Kapiteln des Buches, die unterschiedlichen konzeptionellen Herangehensweisen gewidmet sind, betrachtet zunächst Daniele Pasquinucci die Tradition der föderalistischen Geschichtsschreibung durch oft selbst politisch engagierte Historiker. Während Pasquinucci diese als Vorreiter bei der Themenerschließung und Überwindung eines rein diplomatiegeschichtlichen Ansatzes würdigt, kritisiert er die oft schwache empirische Grundlage, mit der der Einfluss föderalistischer Bewegungen auf die Integration postuliert worden sei. In seiner Analyse der Geschichtsschreibung nationaler Europapolitik regt Michael Gehler mehr vergleichende Ansätze sowie eine stärkere Einbeziehung nichtstaatlicher Akteure an. N. Piers Ludlow schließlich kritisiert die noch unzureichende Forschung zu den supranationalen Institutionen, insbesondere zum Europäischen Gerichtshof und zum Europäischen Parlament. Gehler wie Ludlow betonen gleichermaßen, dass ein Verständnis der Integration ohne die Wechselwirkungen zwischen nationaler und supranationaler Ebene kaum möglich sei.

Die letzten vier Kapitel schließlich sind spezielleren Themenbereichen gewidmet. Morten Rasmussen stellt die Geschichtsschreibung der wirtschaftlichen Integration dar, in der bislang einerseits die Rolle der Integration für die nationalstaatliche Wirtschaftspolitik, andererseits die wirtschaftlichen Mentalitäten in Europa viel untersucht worden seien. Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Integration sowie die Rolle transnationaler Wirtschaftsnetzwerke seien hingegen noch kaum erforscht. Lorenzo Mechi beschreibt überaus dicht die Forschung zu den sozialen und kulturellen Dimensionen der Integrationsgeschichte, die von der Konvergenz der europäischen Gesellschaften über die Entstehung einer europäischen Identität und Öffentlichkeit, transnationale Elitennetzwerke, soziale Auswirkungen der EG-Politik bis zur Entstehung eines europäischen Sozialmodells reichen – eine Aufteilung in zwei Kapitel, von denen eines den sozioökonomischen und eines den kommunikativen Kontext der Integration in den Blick genommen hätte, wäre hier womöglich angebracht gewesen. Die letzten beiden Kapitel schließlich sind den Außenbeziehungen gewidmet, wobei Mark Gilbert die Forschungsdebatte zur Rolle der USA für die Integration darstellt und Giuliano Garavini die Forschung zu den außenpolitischen Aktivitäten der EG vor den 1980er-Jahren skizziert, etwa ihre Rolle bei der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und ihre entwicklungspolitischen Ansätze.

Jedes Kapitel folgt einer klaren Struktur. Obwohl einige unter ihnen (speziell die Beiträge von Gehler, Gilbert und Garavini) auch gewisse narrative Elemente enthalten, stehen grundsätzlich die verschiedenen methodischen und interpretatorischen Ansätze im Vordergrund, die die Forschungsdebatte beherrschen. Ganz im Sinn einer eben beginnenden „Phase der Raffinierung“ werden dabei konsequent auch die jüngsten Forschungstrends einbezogen und Desiderate identifiziert. Während jedes Einzelkapitel mit einer Zusammenfassung endet, fehlt eine solche für den Band als Ganzes – dem zehnten Kapitel folgen nur ein umfangreiches Literaturverzeichnis und ein Index. Dafür nehmen jedoch die einzelnen Kapitel häufig aufeinander Bezug, so dass die Kohärenz zwischen den einzelnen Teilen gewahrt bleibt.

Dadurch wird ein Gesamtbild erkennbar, wohin sich die Integrationsgeschichte aus Sicht der Autoren insgesamt bewegt (und bewegen soll): Dies betrifft zunächst die bessere Anbindung an die europäische Geschichte als Ganzes und die Betrachtung von Wechselwirkungen mit Phänomenen wie dem Kalten Krieg, der Globalisierung oder der Entwicklung des Wohlfahrtsstaats. Zugleich wird für eine bessere analytische Reflexion wiederholt eine stärker interdisziplinäre Ausrichtung gefordert – mit Ausnahme von Ludlow, der im Import spezialisierten politikwissenschaftlichen Vokabulars auch die Gefahr sieht, dass die Integrationshistoriografie sich innerhalb der Geschichtswissenschaft weiter isolieren könnte. Eine stärkere Einbeziehung von Süd- und Osteuropa ist ebenso ein wiederkehrender Appell wie die Betrachtung längerer Zeiträume, einschließlich der Kontinuitäten seit der Zwischenkriegszeit. Anstelle rein diplomatiegeschichtlicher Fragestellungen wird schließlich ein Verständnis der EU als komplexes Mehrebenensystem mit zahlreichen Wechselwirkungen zwischen europäischer und nationaler Ebene sowie zwischen Politik und Gesellschaft postuliert. Immer wieder angeregt wird schließlich die Analyse transnationaler Netzwerke.

Ein anderes Problem wird allerdings nur von Varsori und lediglich am Rande angesprochen: Die Integrationsgeschichtsschreibung endet aufgrund der 30-Jahre-Archivregelungen bislang meist in den 1970er-Jahren und erreicht noch nicht die seit dem Rat von Fontainebleau 1984 neu angefachte Integrationsdynamik. Die in Maastricht gegründete Europäische Union kommt deshalb in dem Buch „European Union History“ kaum vor. Ein Kapitel zur Justiz- und Innenpolitik etwa sucht man vergebens, obwohl dies heute ein zentraler, für die Nachbardisziplinen hoch relevanter Politikbereich der EU ist. Gerade wenn man den interdisziplinären Dialog stärken möchte, bedeutet das für die Integrationsgeschichtswissenschaft auch die Notwendigkeit, über Möglichkeiten einer gegenwartsnahen Zeitgeschichte diesseits der Archivsperrfrist nachzudenken, um ein interessanter Gesprächspartner zu sein. Als Nachbarwissenschaften scheinen die Autoren zudem meist die Soziologie und die Politikwissenschaft, teils auch die Ökonomie im Blick zu haben – seltener aber die Rechtswissenschaft, obwohl auch die juristische Debatte etwa über die „Konstitutionalisierung“ der Europäischen Union durchaus interessante konzeptionelle Anknüpfungspunkte bietet.

Trotz dieser kleineren Kritikpunkte handelt es sich um ein außerordentlich gewinnbringendes Buch, das den Forschungsstand gut strukturiert darstellt und seinem eigenen hohen Anspruch vollauf gerecht wird. Es kann ebenso Historikern der europäischen Integration zur Selbstverortung dienen wie Historikern anderer Themenfelder Orientierung über mögliche Anknüpfungspunkte bieten; zudem lädt es zur Reflexion über die künftige Ausrichtung des Forschungsbereichs ein.

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