P. Terhoeven (Hrsg.): Italien, Blicke

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Titel
Italien, Blicke. Neue Perspektiven der italienischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts


Herausgeber
Terhoeven, Petra
Erschienen
Göttingen 2010: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
302 S.
Preis
€ 32,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Moritz Buchner, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung

Der von der Neuzeithistorikerin Petra Terhoeven herausgegebene Sammelband geht auf eine an der Universität Göttingen veranstaltete Vorlesungsreihe zur Geschichte Italiens im 19. und 20. Jahrhundert zurück. Ohne einen dezidierten inhaltlichen Schwerpunkt zu setzen, fragt er nach der Beschaffenheit eines spezifischen deutschen Blicks auf die italienische Geschichte. Dabei stützt er sich auf eine thematisch wie methodisch abwechslungsreiche Auswahl von zwölf Beiträgen aus den Federn jüngerer und etablierter Vertreter der deutschsprachigen Italienforschung, die qualitativ durchaus unterschiedlich ausfallen.

Die thematische Bandbreite der Beiträge macht deutlich, dass das deutsche Forschungsinteresse an der italienischen Geschichte noch immer stark vom Bewusstsein einer shared history beider Länder geprägt ist. Hauptbezugspunkte sind hier die Themenfelder des Faschismus sowie des Linksterrorismus und linken Milieus der 1960er- und 1970er-Jahre, wohingegen die in etwa parallel verlaufenden nationalen Einigungsprozesse beider Länder im 19. Jahrhundert eher in den Hintergrund getreten zu sein scheinen.

Das am stärksten vertretene Untersuchungsfeld markiert der Faschismus und dessen Auswirkungen. Martin Baumeister thematisiert das Schicksal der Juden im faschistischen Italien und regt an, die bis heute verbreitete Interpretation der Rassegesetze von 1938 als jähes Ende einer reinen Erfolgsgeschichte der jüdischen Integration in die italienische Gesellschaft zu hinterfragen. Damit zielt er auch darauf ab, den noch immer gut gepflegten Mythos des buono italiano kritisch zu beleuchten, der Italien zum Opfer einer deutschen und faschistischen Fremdherrschaft stilisiert.

Mit der Inszenierung als zentralem Element faschistischer Herrschaftspraxis befasst sich Wolfgang Schieder in seinem Beitrag zur „Audienz bei Mussolini“. Diese macht er – neben akklamatorischen Massenveranstaltungen – als wichtiges Element der Führerdiktatur Mussolinis aus. Dabei handelt es sich um Vier-Augen Gespräche mit italienischen und ausländischen Gästen, denen der Duce einen relevanten Teil seiner Arbeitszeit widmete. Die Besucher schätzten diese Audienzen wegen ihres vermeintlich individuellen Charakters, die Schieder jedoch als in hohem Maße geplant und standardisiert entlarvt. Dies betraf sowohl die räumliche Inszenierung, als auch den Gesprächsablauf, wie die exemplarisch angeführten Berichte deutscher Besucher zeigen. Die Fokussierung auf die deutschen Audienz-Besucher ist dabei in mehrerlei Hinsicht interessant. Sie erlaubt einerseits einen Blick auf die außenpolitischen Absichten des Diktators, kann darüber hinaus aber auch Hinweise auf eine Vorbildwirkung des Faschismus für die Nationalsozialisten geben, die auf diese Weise vermittelt wurde: Fast alle NS-Granden statteten Mussolini wenigstens eine dieser Audienzen ab. Schieder stellt in seinem Beitrag jedoch nur erste Untersuchungsergebnisse vor. Die für eine in Kürze erscheinende Monographie angekündigte umfassende Analyse des Phänomens verspricht bereits auf dieser Basis sehr interessante Ergebnisse und kann mit Spannung erwartet werden.

Der folgende Beitrag von Charlotte Tacke macht sich daran, am Beispiel der Parade der Jäger von 1932 die Funktion faschistischer Massenveranstaltungen (adunate) zu untersuchen. Die Jägerparade erweist sich in diesem aufschlussreichen Aufsatz jedoch als ambivalentes Fallbeispiel, denn die Jagd beschwor zahlreiche Konflikte herauf, die hier sogar zum Eklat führten: Die römische Landsmannschaft verweigerte ihre Teilnahme an dem Aufmarsch, um gegen die Angleichung des dortigen Jagdrechts an nationale Gesetze sowie Fälle von Funktionärskorruption zu protestieren. Unter erhellender Bezugnahme auf die webersche Herrschaftssoziologie zeigt Tacke, dass die adunate nicht nur zur Abbildung faschistischer Wirklichkeit, sondern auch zu deren Verstetigung dienten. Dass dies ein zentraler Aspekt war, verdeutlicht ein Blick auf die Konjunktur solcher Massenveranstaltungen, deren Höhepunkt ab Ende der 1920er-Jahre erreicht wird. Damit fallen sie in eine zweite Regimephase, die sich von der ersten Phase charismatischer Führerherrschaft dadurch abhob, dass nun auf vor allem die Stabilisierung und Perpetuierung des Systems durch die ideologische Abrichtung der Bevölkerung im Vordergrund stand. Durch die Veralltäglichung der faschistischen Herrschaft gewannen Kriterien rationalen Handelns an Bedeutung. Am Beispiel der Jägerparade wird deutlich, dass hier auch regionale und soziale Konfliktlinien wieder an die Oberfläche kamen, für deren Deckelung die Strahlkraft der Führerfigur Mussolini und dessen Botschaften allein nun nicht mehr ausreichten. Neben der öffentlich praktizierten symbolischen Abrichtung (inquadramento) in den adunate wurde dazu auch auf gezielte Strafmaßnahmen gegen vermeintliche Störenfriede zurückgegriffen.

Ein weiterer thematischer Schwerpunkt der Italienforschung der letzten Jahre sind der Linksterrorismus und das linke Milieu der Nachkriegszeit. Sie finden – neben anderen – in Gestalt eines Beitrags von Petra Terhoeven Eingang in den Band, die eine Entprovinzialisierung der Geschichtsschreibung des deutschen Linksterrorismus anstrebt. Ihre rezeptions- und beziehungsgeschichtliche Untersuchung widmet sich der italienischen Perzeption der „Nacht von Stammheim“ von 1977. Die Wahrnehmung dieses zentralen Ereignisses des „Deutschen Herbstes“ durch die italienische Linke beschreibt sie als stark von nationalen Wahrnehmungsstrukturen geprägt. Als wichtige Faktoren stellt sie dabei vor allem die italienische Haltung zum Staat und seinem Gewaltmonopol, die öffentliche Wirkung der Regierung Schmidt sowie die jüngere Geschichte der deutsch-italienischen Beziehungen heraus. Eine wichtige Rolle wird aber auch der transnationalen Vernetzung der am Linksterrorismus beteiligten Kräfte, die durch Diskussionsveranstaltungen und Informationsübermittlung an sympathisierende Zeitungen die Debatte in Italien maßgeblich mitprägte. Terhoeven wählt damit einen für die gegenseitige Wahrnehmung beider Länder aufschlussreichen Ansatz, deren Verhältnis bis heute immer wieder von Missverständnissen und Fehlinterpretationen geprägt ist.

Im Umkreis des linken Milieus dieser Zeit bewegt sich auch Malte Königs Studie zu dem 1978 vom italienischen Parlament verabschiedeten Gesetz über die Auflösung der psychiatrischen Anstalten, dessen Zustandekommen sich maßgeblich aus der politischen Atmosphäre der 1960er- und 1970er-Jahre erklärt. Dabei betont er vor allem die vorangegangene reformerische Arbeit Franco Basaglias, neben Foucault einem der wichtigsten Exponenten der Antipsychiatrie, der erstmals Bewegung in die menschenunwürdigen Verhältnisse der italienischen Psychiatrie gebracht hatte. Der lesenswerte Beitrag zeigt, dass die Abschaffung des bis hier gültigen Gesetzes von 1904 am Ende maßgeblich durch die politische Taktik der christlich-konservativen Regierung Andreotti und einen Mangel an Alternativen begünstigt wurde. Die Folgen werden differenziert beurteilt, indem auch auf die großen Umsetzungsprobleme der Reform hingewiesen wird. Nichtsdestotrotz bilanziert König das Gesetz als revolutionäre Neuerung und Sieg der Menschenwürde, das in Westdeutschland in dieser Form damals kaum denkbar gewesen wäre. Dieser Befund ist gerade aus vergleichender Perspektive interessant, wird Italien doch von deutscher Seite immer noch allzu gern als vergleichsweise rückständiges Land betrachtet – ein Motiv, das im Beitrag von Christof Dipper noch einmal aufgegriffen wird.

Ina Brandt widmet sich dem 25. April in der Erinnerungskultur im Italien der Nachkriegszeit bis heute. Sie zeigt die politischen Konjunkturen der Festa della liberazione seit 1946 auf, mit dem an die Befreiung Italiens von Faschismus und deutschen Besatzern erinnert wird – eine Vermischung, die die italienische Erinnerung an den Faschismus besonders in den Augen deutscher Beobachter als problematisch erscheinen lässt, wie auch Lutz Klinkhammer in seinem Beitrag deutlich macht. Im Sinne der nach wie vor äußerst populären Erforschung von Erinnerungskulturen referiert Brandt mit der Nachkriegszeit, dem compromesso storico zwischen Democrazia Cristiana und PCI und dem Zusammenbruch des alten Parteiensystems Anfang der 1990er-Jahre die wichtigsten politischen Konjunkturen der Erinnerung an den 25. April 1945 und deren Relevanz für die jeweiligen Festlichkeiten. Die einige Male am Beispiel politischer Plakate angeschnittene Untersuchung der Medialisierung und Visualisierung von Erinnerungskulturen stellt dabei eine interessante Forschungsperspektive dar, die hier aber leider nur peripher behandelt wird.

Den Konjunkturen der Erinnerung an Faschismus und Resistenza widmet sich auch Lutz Klinkhammer, und zwar am Beispiel des Ex-Neofaschisten, aktuellen Parlamentspräsidenten und mittlerweile vom designierten Nachfolger zum Intimfeind Berlusconis mutierten Gianfranco Fini. Dessen Weg vom Post- zum Antifaschisten wird als durchaus glaubhaft skizziert. Als Nebenwirkung dieses vermeintlichen Links-Schwenks stellt Klinkhammer allerdings zu Recht heraus, dass auch die Erinnerungskultur der heutigen „neuen“ Rechten – ähnlich dem Konsens-Gedenken der „ersten Republik“ – Italien vor allem in einer Opferrolle sieht und damit von der Verdrängung eigener Schuld gezeichnet ist. Die Lektüre dieses Beitrags, dessen Fokussierung auf Fini sich angesichts der jüngeren politischen Entwicklungen in Italien als sehr glückliche Wahl erweist, lohnt sich nicht zuletzt aufgrund seines hohen Aktualitätswerts und dem Fazit, dass diese erinnerungspolitische Volte der „neuen Rechten“ die ohnehin seit Jahren in Apathie verharrende politische Linke vor neue Probleme stellt, die auf diese Weise auch noch ihre erinnerungskulturelle Alleinstellung verlor.

Der abschließende Beitrag von Christof Dipper nähert sich aus theoretischer Perspektive der Problematik des historischen Vergleichs an. Ausgehend von der verbreiteten Annahme einer fortschreitenden kulturellen Egalisierung, zeigt er am Beispiel einer historischen Analyse das in Italien und Deutschland jeweils unterschiedliche Verständnis von Technik und Familie auf. Dabei wird Wert darauf gelegt, diese Unterschiede nicht als Abweichungen von einem imaginierten Fortschrittsmodell zu bemessen, sondern als Ergebnisse divergierender Entwicklungsprozesse zu verstehen. Dipper insistiert damit einmal mehr auf seiner These, dass maßgebliche Ursachen für die Unterschiede zwischen Deutschland und Italien in den unterschiedlichen Entwicklungen beider Länder liegen, wobei er dem Modernisierungsprozess des 19. Jahrhunderts eine besondere Bedeutung beimisst. Der Beitrag verweist somit insbesondere auf das Erkenntnispotenzial vergleichender Studien, ohne die mit ihnen verbundenen interpretatorischen Risiken zu verschweigen.

Gerade das im letzten Beitrag deutlich gemachte Potenzial komparativer Untersuchungen hätte es durchaus wünschenswert gemacht, wenn sich unter den Beiträgen noch weitere vergleichende Analysen befunden hätten. Trotz einiger aufschlussreicher beziehungsgeschichtlicher Ansätze dominieren hier letztlich nationalgeschichtlich orientierte Perspektiven. Inhaltlich sind mit Faschismus, linkem Milieu der Nachkriegszeit und Erinnerungskulturen zwar die zentralen Forschungsfelder der derzeitigen deutschen Italienforschung abgedeckt, gemessen am Untertitel fokussieren sich die Beiträge jedoch allzu deutlich auf das 20. Jahrhundert.

Die eigentliche Schwäche des Bandes ist jedoch die wohl dem organisatorischen Rahmen der Vorlesungsreihe geschuldete Tatsache, dass vier der zwölf enthaltenen Beiträge teilweise bereits schon vor Jahren im Rahmen von Monographien1 oder Sammelbänden2 publiziert worden sind. Deren Qualität steht zwar durchweg außer Frage, den Erkenntniswert des Sammelbandes kann dies jedoch kaum erhöhen; Auf eine nähere Besprechung dieser bereits rezipierten Forschungen wurde hier verzichtet. Neben der etwas unglücklichen Titelreferenz auf Wolf-Dieter Brinkmanns „Rom, Blicke“, die wohl nur schwerlich positive Impulse für Italien als historisches Forschungsfeld zu erzeugen vermag, fällt auch das Fehlen eines Fazits ins Auge, das angesichts der informativen und ausführlichen Einleitung aber nicht ins Gewicht fällt.

Insgesamt bietet der Sammelband dennoch einen interessanten Einblick in die neuere deutsche Italienhistoriographie, deren Forschungsschwerpunkte deutlich auf das Bewusstsein einer geteilten Geschichte beider Länder verweisen. Daneben versprechen einige Beiträge interessante Befunde für kommende Publikationen.

Anmerkungen:
1 Dabei handelt es sich um Abschnitte aus folgenden Monographien: Gabriele B. Clemens, „Sanctus amor patriae“. Eine vergleichende Studie zu deutschen und italienischen Geschichtsvereinen im 19. Jahrhundert, Tübingen 2004; Thomas Kroll, Kommunistische Intellektuelle in Westeuropa. Frankreich, Österreich, Italien und Großbritannien im Vergleich, Köln 2007; Frauke Wildvang, Der Feind von nebenan. Judenverfolgung im faschistischen Italien 1936-1944, Köln 2008.
2 Aram Mattioli, Harald Dunajtschik, Die „Città nuova“ in Bozen. Eine Gegenstadt für eine Parallelgesellschaft, in: Aram Mattioli / Gerald Steinacher (Hrsg.), Für den Faschismus bauen. Architektur und Städtebau im Italien Mussolinis, Zürich 2009, S. 259-286.