D. Blatman: Die Todesmärsche 1944/45

Titel
Die Todesmärsche 1944/45. Das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmordes


Autor(en)
Blatman, Daniel
Erschienen
Reinbek 2011: Rowohlt Verlag
Anzahl Seiten
851 S.
Preis
€ 34,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin C. Winter, Leipzig

Als zu Beginn des Jahres Daniel Blatmans umfassende Studie über die Todesmärsche der Häftlinge aus den nationalsozialistischen Konzentrationslagern in deutscher Übersetzung erschien, wurde deren Veröffentlichung von einem großen Medienecho begleitet. Zweifelsohne wurde dies der Bedeutung des Buches durchaus gerecht; schließlich liegt mit Blatmans Monographie erstmals eine annähernde Gesamtdarstellung der Todesmärsche vor. Irritierend war hingegen, dass anhand der Berichterstattung der Eindruck entstehen konnte, als widme sich damit überhaupt erstmalig ein Historiker dezidiert diesem Themenkomplex.1

Dazu trägt jedoch auch Blatmans knappe Einleitung bei. In dieser werden zwar wichtige Monographien zu verschiedenen Lagerevakuierungen erwähnt, allerdings wird die kaum zu überblickende Fülle an kleineren Beiträgen und ganzen Sammelbänden zum Thema, die seit Jahren stetig wächst – und auf die auch der Autor häufig zurückgreift –, nicht diskutiert. Befremdlich wirkt insbesondere beim Vergleich mit der französischen Originalausgabe, dass offenbar in der vorliegenden Übersetzung aktuelle Studien in die Endnoten Eingang gefunden haben, diese jedoch kaum in den Text eingearbeitet wurden und schließlich im Literaturverzeichnis gänzlich fehlen.2

Leider vermisst man zudem eine explizite Kritik an den von Blatman zahlreich herangezogenen Quellen. Diese – und dabei insbesondere die Strafprozessakten – in ihrer Genese stärker zu kontextualisieren wäre nicht nur im Hinblick auf eine zu erwartende breite LeserInnenschaft durchaus angebracht gewesen.

Die herausragende Leistung Blatmans besteht indes nicht darin, erstmals gänzlich unerforschte Todesmärsche oder Tatorte aufzudecken; vielmehr bietet der erste Teil seines Buches nach einer kurzen Einführung zum System der Konzentrationslager eine bisher beispiellose, weitgehend chronologische Kompilation der Abläufe von Evakuierungen zahlreicher Lager. Die Räumungen von Majdanek im Osten und Natzweiler-Struthof im Westen werden als Auftakt beschrieben, bevor in der zweiten Phase die Häftlinge aus Auschwitz, Groß-Rosen und Stutthof ins Reichsinnere verschoben werden sollten. Doch wurden kurz darauf auch diejenigen Lager, die zunächst Ziel dieser Transporte geworden waren, mitsamt ihrer Außenlager vor dem Eintreffen der Alliierten geräumt und die Häftlinge auf tage- und wochenlangen Bahntransporten und Evakuierungsmärschen zwischen den Fronten hin- und hergetrieben. Die Lektüre dieser ersten 400 Seiten ist in jeder Hinsicht als anregend zu bezeichnen. Daniel Blatman versteht es stets, angesichts der Unübersichtlichkeit sowohl der Geschehnisse als auch der Quellenlage die Fäden zusammenzuhalten und präzise zu einem äußerst instruktiven, aber auch erschütternden Panorama zu verweben. Die sorgsam ausgewählten Zitate von Überlebenden und ZeugInnen der Märsche exemplifizieren dabei eindrucksvoll die Ereignisse, die Blatman hier erstmals überblicksartig zusammenfasst.

Immer wieder verdeutlicht er bereits in diesem Teil die radikalisierende Wirkung der unklaren Befehlslage, durch die konkrete Entscheidungen an untere Chargen und lokale Instanzen delegiert worden waren. Blatmans Rekonstruktionen der Massaker an Häftlingen in Palmnicken, Lüneburg oder in der Nähe des österreichischen Städtchens Eisenerz wirken dabei wie erste Ausblicke auf den zweiten Teil seines Buches mit dem Titel „Kriminelle Gemeinschaften“. Die Tatvorgänge an diesen Orten sind zwar bekannt und bereits in einschlägigen Publikationen detailliert beschrieben worden. Blatman ergänzt diese Forschungen jedoch, indem er weitere Quellen hinzuzieht, und spitzt die Analyse von Tätern und Taten pointiert zu.

Diese Methode wendet der Autor auch auf das Beispiel an, welches er als Paradigma für die Verbrechen an KZ-Häftlingen auf den Todesmärschen quasi mikroskopisch untersucht: das Massaker von Gardelegen, bei dem kurz vor dem Eintreffen der US-Armee über 1.000 Häftlinge in einer Scheune durch Feuer und Schüsse ermordet wurden. Vor dem Hintergrund einer von ihm postulierten „zerfallenden Gesellschaft“ stellt Blatman die Geschehnisse in und um die Kleinstadt Gardelegen in den letzten Tagen des Krieges geradezu minutiös dar: die Evakuierungstransporte aus verschiedenen Lagern, welche fast zeitgleich in der Region strandeten, die an der Tat beteiligten Gruppen und Personen genauso wie den Prozess der Entscheidung zum Massenmord und die Durchführung des Massakers. Im Anschluss daran widmet sich Blatman der Nachgeschichte und damit der Strafverfolgung der Täter und dem Gedenken an das Verbrechen und seine Opfer. Ausgehend von diesen Ausführungen zu Gardelegen fasst der Autor seine Ergebnisse im letzten, besonders lesenswerten Teil seines Buches zusammen und diskutiert sie in Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen neuerer Forschungen zu NS-Tätern. Blatman konstatiert dabei für die Todesmärsche das „Auftreten einer neuen Gemeinschaft von Mördern, einer ‚lokalen Abwicklungsgemeinschaft‘, deren Mitglieder sowohl altgediente Mörder waren [...] als auch Personen, die sich dem mörderischen Treiben erst anschlossen, als es ihr Lebensumfeld und ihre Familie unmittelbar betraf: Mitglieder des Volkssturms, Polizisten, lokale Parteifunktionäre, Angehörige der Hitlerjugend und andere Normalbürger“ (S. 692). Diese heterogenen Tätergruppen hätten tausende von Gefangenen ungeachtet ihrer Haftkategorie oder Nationalität getötet, weil sie in ihnen das per se „Andere“ erblickt hätten. Das treibende utilitaristische Motiv zum Mord an den wehrlosen und entkräfteten Häftlingen sei Furcht vor deren vermeintlicher Bösartigkeit und Vergeltungswut nach der Befreiung gewesen, vor der man die eigenen Angehörigen hätte schützen wollen.

Diese besondere Gemengelage veranlasst Daniel Blatman zur Kritik daran, dass bisher in der Forschung die Evakuierungen methodologisch stets als fester Bestandteil der Geschichte der Lager angesehen worden seien (S. 21). Hingegen müssten die Todesmärsche als „eigenständiges Kapitel [...] in der Geschichte des nationalsozialistischen Völkermords“ betrachtet werden (S. 27). Diese Argumentation erscheint jedoch nicht unbedingt plausibler als die von Blatman zu Recht zurückgewiesene Interpretation der Todesmärsche als weitgehend funktionstüchtige „Konzentrationslager auf Wanderschaft“.3 Zudem beschreibt der Autor selbst die Todesmärsche notwendigerweise ebenfalls aus den Interdependenzen des KZ-Systems heraus. Er konstatiert zum Beispiel, dass die Vernichtung größerer Gruppen von Häftlingen durch Massentötungen und gezielte Vernachlässigung in einigen Lagern kurz vor deren Räumung und damit die letzte Phase des KZ-Systems „untrennbar zu den Todesmärschen [gehört]“ (S. 221). Die von Blatman vorgeschlagene Abgrenzung erscheint daher etwas bemüht und vor allem zu statisch – was die generellen Schwierigkeiten verdeutlicht, die Todesmärsche auf einen analytischen Nenner zu bringen.

Möglicherweise wäre es lohnender gewesen, Blatmans Ergebnisse gegenüber den mittlerweile fortgeschrittenen Erkenntnissen zu den als solchen definierten „Verbrechen der Endphase“ zu verorten 4 oder sich explizit auf die systematisierenden Überlegungen Diana Grings zu „Todesmarschverbrechen“ als Verbrechenskategorie zu beziehen, welche sie ebenfalls am Beispiel des Massakers von Gardelegen ausgeführt hat.5

Grundsätzlich bleibt fraglich, ob Gardelegen tatsächlich als paradigmatisches Beispiel für den Mord an KZ-Häftlingen während der Todesmärsche gelten kann, oder ob Gräueltaten dieser Größenordnung und Verbrechensdynamik nicht doch eher als exzeptionell bezeichnet werden sollten. Blatmans eigene Darstellung, aber auch zahlreiche von ihm nicht ausgewertete Quellen zeigen, dass sich die für die Todesmärsche typischen Gewalttaten und Morde an Häftlingen genauso unter den Augen und mit Beteiligung der zivilen Bevölkerung ereigneten. Sie wurden jedoch auf weitaus unspektakulärere Art sowie durch kleinere Tätergruppen verübt und sind in den Archivalien dementsprechend schwerer auszumachen als die bekannten Fälle wie Gardelegen, Celle oder Palmnicken. Insbesondere hier liegen Anknüpfungspunkte für zukünftige Forschungen, die Blatmans Thesen anhand weiterer Fragestellungen und Tatorte überprüfen müssen.

Diese Kritikpunkte sollen nicht den Blick darauf verstellen, dass Daniel Blatman mit seiner Studie ein überzeugendes Werk verfasst hat, welches zudem klar strukturiert und hervorragend lesbar ist. Vor allem die Hervorhebung der breiten gesellschaftlichen Beteiligung an den Verbrechen während der Todesmärsche erscheint dabei als sinnvolle Fortführung der aktuellen Erkenntnisse zu NS-Tätern. Wer in Zukunft zu den Todesmärschen forscht, dürfte an Blatmans 850 Seiten schwerlich vorbeikommen.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Volker Ullrich, Das Ende, in: Die Zeit, 27.01.2011, S. 51: „Dieses letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmords hat in der Forschung lange Zeit kaum Beachtung gefunden. Einer der wenigen, die sich überhaupt des Themas annahmen, war Daniel J. Goldhagen [...].“
2 So die Studie von Katrin Greiser, Die Todesmärsche von Buchenwald. Räumung, Befreiung und Spuren der Erinnerung, Göttingen 2008. Vgl. S. 21, Anmerkung 9. Eine knappe Auseinandersetzung mit Greisers Thesen findet hingegen im letzten Kapitel statt. Ähnlich verhält es sich mit dem Sammelband von Detlef Garbe / Carmen Lange (Hrsg.), Häftlinge zwischen Vernichtung und Befreiung. Die Auflösung des KZ Neuengamme und seiner Außenlager durch die SS im Frühjahr 1945, Bremen 2005.
3 Greiser, Todesmärsche, S. 137. Blatmans Kritik daran auf S. 678 f.
4 Hierzu unter anderem die Beiträge in: Cord Arendes / Edgar Wolfrum / Jörg Zedler (Hrsg.), Terror nach innen. Verbrechen am Ende des Zweiten Weltkrieges, Göttingen 2006.
5 Diana Gring, Das Massaker von Gardelegen, in: Dachauer Hefte 20 (2004), S. 112-126.

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