Titel
Surviving Hitler's War. Family Life in Germany, 1939-48


Autor(en)
Vaizey, Hester
Reihe
Genders and Sexualities in History
Erschienen
Basingstoke 2010: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
252 S.
Preis
€ 24,03
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christopher Neumaier, Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Während der Zeit des Nationalsozialismus und in den unmittelbaren Nachkriegsjahren beeinflussten externe Faktoren wie die NS-Familienpolitik, der Zweite Weltkrieg und das Chaos nach der Kriegsniederlage das Familienleben in Deutschland massiv. So leisteten im Kriegsverlauf bis zu 18 Millionen Männer ihren Militärdienst ab und waren infolgedessen von ihren Familien getrennt. In diesen Familien wandelte sich das innerfamiliäre Beziehungsgeflecht erheblich: die Ehefrauen waren nun allein für Haushaltsführung und Kindererziehung zuständig. Viele Historikerinnen und Historiker haben behauptet, dass die Position der Frauen deshalb gestärkt worden und ein neuer, unabhängiger Frauentypus entstanden sei. Zugleich habe der Krieg die Männer physisch und psychologisch gebrochen, sodass sich traditionelle Männlichkeitsvorstellungen auflösten. Diese Entwicklung sei von entscheidender Bedeutung für die Emanzipation der Frauen aus den bis dahin vorherrschenden patriarchalischen Strukturen gewesen. Zudem habe die Kernfamilie akute Auflösungserscheinungen gezeigt. Diese Krise der Familie habe auch die gesellschaftliche Realität in den ersten Nachkriegsjahren geprägt.1

Hester Vaizey hinterfragt mit ihrer Studie über das deutsche Familienleben zwischen 1939 und 1948 diesen Forschungskonsens und kommt zu einem gänzlich anderen Ergebnis: Sie betont die Spannkraft der Kernfamilie und die Stärke der emotionalen Bindungen zwischen den Familienmitgliedern. Eine Krise der Familie hat es demnach weder während des NS-Regimes noch in der Nachkriegszeit gegeben. Vielmehr sei der Zusammenhalt der Familienbeziehungen in dieser Zeit sogar noch gestärkt worden.

Auf den ersten Blick scheint es, als würden beide Interpretationen zur Situation der Familie unvereinbar nebeneinander stehen. Doch bei genauerem Hinsehen offenbart sich, dass Vaizey mit ihrer Studie über die Familie „von unten“ ein komplementäres Versatzstück zu den Studien „von oben“ geliefert hat. Während bisherige Arbeiten zur Familie stets die externen, auf das Familienleben einwirkenden Faktoren untersuchten, ohne das Familienleben selbst zu analysieren, wendet sich Vaizey „the emotional side of family life“ zu (S. 5). Ihr geht es mit ihrem alltagsgeschichtlichen Ansatz vorrangig um die Analyse der innerfamiliären Beziehungen, um die Gedanken und Gefühle der Familienmitglieder.

Dass dieser Zugang aufgrund der Quellenlage durchaus problematisch ist, erörtert Vaizey in der Einleitung ihrer Arbeit eingehend. Sie betont „the validity and necessity of trying to access lived experiences in the past, for all the complexities inherent in such an attempt.“ (S. 9) Damit bezieht sie sich einerseits auf die Interpretation eines sehr heterogenen Quellenmaterials, das von Briefkorrespondenz und Tagebüchern über zeitgenössische soziologische Studien bis hin zu Augenzeugenberichten reicht. Andererseits verweist sie auf das Spannungsverhältnis zwischen individueller Kriegserfahrung, wie sie in Briefen zum Ausdruck kommt, und der kollektiven Erinnerung an den Krieg. Eben diese Multiperspektivität auf jedes einzelne Ereignis wirft unweigerlich die Frage auf, inwiefern aus Vaizeys Ansatz überhaupt generalisierende Aussagen abgeleitet werden können. Vaizey selbst erläutert, dass ihre Forschungsergebnisse lediglich für die zitierten Personen repräsentativ seien. Allerdings lassen sich aufgrund ihres Samples, das mehr als 1.000 Personen aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten umfasst, durchaus valide Aussagen über das Innenleben der Kernfamilien in Deutschland zwischen 1939 und 1948 ableiten.

Damit ist bereits eine Einschränkung angedeutet, die sich aus dem Untersuchungsgegenstand ergibt. Vaizey analysiert ausschließlich Familien mit zwei Elternteilen und minderjährigen Kindern, wohingegen sie geschiedene Ehepaare oder Witwen genauso wenig in den Blick nimmt wie Familien, deren Väter nach Kriegsende in Kriegsgefangenschaft weilten. Auch beschränkt sich Vaizey für die Zeit nach der Kriegsniederlage auf Westdeutschland. Diese Eingrenzung verengt jedoch die Perspektive der Studie, sodass wichtige Teile der deutschen Gesellschaft vernachlässigt werden.

Ungeachtet dieses Einwands gelingt es Vaizey in fünf dicht geschriebenen Kapiteln, das Innenleben der Familien gekonnt nachzuzeichnen. Zeitlich setzt das erste inhaltliche Kapitel Family Life Under National Socialism mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933 ein. Vaizey argumentiert, dass weder der innerfamiliäre Zusammenhalt noch die „emotionale Intimität“ (S. 33) der Familie durch die rasse- und gesellschaftsideologischen Maßnahmen des NS-Regimes zerbrach. Für viele blieb die Familie ein Refugium, dessen Privatsphäre Schutz bot.

Als jedoch mit dem Kriegsbeginn mehrere Millionen Männer in die Wehrmacht einberufen wurden, löste sich der Privatraum Familie auf. Diese Veränderung belastete die Familien emotional; eine direkte Kommunikation zwischen den Familienmitgliedern war nicht mehr möglich. An die Stelle der Gespräche und des körperlichen Kontakts trat die indirekte Kommunikation über Briefe, die allerdings durch die Zensur, den Kriegsverlauf und das Chaos nach Kriegsende behindert wurde. Gleichwohl betont Vaizey, dass der Briefwechsel einer Entfremdung zwischen den Familienmitgliedern vorgebeugt und die gegenseitige Annäherung beim Wiedersehen erleichtert habe.

Im Kapitel Staying in Love fällt Vaizey ein differenziertes und abwägendes Urteil zur gegenseitigen Liebe der Eheleute. Sicherlich sei die Neigung, eine Affäre zu beginnen, bei beiden Eheleuten während des Krieges wesentlich höher gewesen als zu Friedenszeiten. Auf diesen Umstand würden die außerehelichen Beziehungen von Wehrmachtsoldaten zu Frauen in den besetzten Gebieten genauso hindeuten wie der Anteil der unehelich geborenen Kinder, der sich im Jahr 1945 auf geschätzte 20 Prozent belief gegenüber vier Prozent 1930. Auch hätten Notlagen wie Versorgungsengpässe oder der Mangel an Wohnraum oder die Angst vor dem Tod des Ehepartners zu einer zusätzlichen emotionalen Belastung der Familienbeziehungen geführt. Dennoch entwickelte die Familie „a centripetal force holding individuals together, mentally if not physically, even from afar.“ (S. 77f.) Da Sorgen und Nöte die Familienmitglieder stärker aneinander banden, die gegenseitige Wertschätzung infolge der Trennung zunahm und traditionelle Familienwerte hochgehalten wurden, ging die Familie letztlich gestärkt aus dieser Situation hervor. Selbst der Anstieg der unehelichen Geburten und der Scheidungszahlen nach Kriegsende konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Mehrzahl der Familien intakt blieb.

Im vierten Kapitel geht es um den behaupteten Bruch der Geschlechterrollen. Vaizey zeigt, dass die meisten verheirateten Paare weiterhin nach traditionellen Rollenmustern lebten. Ebenso einmütig fällt Vaizeys Urteil zur „Stunde der Frau“ aus: „Suggestions that women were toughened by war neglect to mention how difficult conditions for mere survival were. These conditions wore down women’s strength and endurance rather than the opposite.“ (S. 103) Folglich waren Frauen wie Männer von der Trennung und den Kriegserlebnissen körperlich und emotional gezeichnet. Vaizey kommt infolgedessen zu dem Ergebnis, dass sich beide eine Rückkehr zur Normalität wünschten, was auch eine Rückbesinnung auf traditionelle Familienwerte beinhaltete.

Abschließend arbeitet die Autorin die Rolle der Kinder in den zerrissenen Familien heraus. Für die Mütter waren die Kinder ein wichtiger Trost- und Kraftspender. Die Väter konnten daran nicht teilhaben, versuchten aber über Briefe einen Kontakt zu ihren Kindern aufrechtzuerhalten. Dessen ungeachtet führte das Wiedersehen oftmals zu Komplikationen – das traf gleichermaßen für die Mann-Frau- und Vater-Kind-Beziehung zu. So kam es oft vor, dass die Familienmitglieder einander nicht wieder erkannten und die gegenseitige Entfremdung zu schwerwiegenden innerfamiliären Problemen führte. Andererseits zeigt Vaizeys Untersuchung, dass sich bei vielen Familien relativ schnell ein geregeltes Familienleben einstellte und die Kernfamilie für alle ein Fixpunkt wurde.

Zusammenfassend stellt Vaizey fest, dass es aufgrund der Kriegserlebnisse in vielen Familien wohl Verwerfungen gab, aber von einer generellen Krise der Familie nicht gesprochen werden könne. Während des Krieges war die Familie für viele ein Refugium und „[a] source of emotional comfort“; mit dem Kriegsende entwickelte sie sich zu einer „support“ oder „practical survival unit“ (S. 151). Letztlich erscheint die Refamiliarisierung der 1950er-Jahre Dank der gelungenen Studie von Vaizey in einem neuen Licht: Sie wurde nicht nur durch externe Einflüsse wie die politischen Entscheidungen begünstigt, sondern resultierte zugleich aus den endogenen Wünschen der Familienmitglieder, die sich nach einer Rückkehr zur „Normalität“ sehnten.

Anmerkung:
1 Vgl. hierzu insbesondere Lisa Pine, Nazi Family Policy, 1933-1945, Oxford 1997; Michelle Mouton, From Nurturing the Nation to Purifying the Volk. Weimar and Nazi Family Policy, 1918-1945, Cambridge 2007; Robert G. Moeller, Geschützte Mütter. Frauen und Familien in der westdeutschen Nachkriegspolitik, München 1997; Merith Niehuss, Familie, Frau und Gesellschaft. Studien zur Strukturgeschichte der Familie in Westdeutschland. 1945-1960, Göttingen 2001.

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