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Titel
Gustav Schickedanz. Biographie eines Revolutionärs


Autor(en)
Schöllgen, Gregor
Erschienen
Berlin 2010: Berlin Verlag
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dieter Ziegler, Lehrstuhl für Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte, Ruhr-Universität Bochum

Dieses Buch "brilliert […] nicht durch Fußnotenakrobatik". So könnte man die hier zu rezensierende Biographie des Versandhändlers und Wirtschaftswunder-"Revolutionärs" Gustav Schickedanz sicherlich auch überschreiben; aber dieses Zitat stammt nicht von Gregor Schöllgen und auch nicht von Freiherr zu Guttenberg, sondern von einem Journalisten, der sich in den 1980er-Jahren mit der wirtschaftlichen Verfolgung deutscher jüdischer Unternehmer durch ihre "arischen" Berufskollegen beschäftigt hat. Journalisten dürfen so vorgehen.1 Schöllgen aber verzichtet nicht nur auf "Fußnotenakrobatik", sondern überhaupt auf Fußnoten. Historiker gelten innerhalb der Wissenschaften als besonders pedantisch, wenn es um Quellennachweise geht. Sie sind gewissenmaßen die Meister unter den "Fußnotenakrobaten", denn sie arbeiten häufig mit nicht veröffentlichten Quellen. Intensiver als in den anderen Geistes- und Sozialwissenschaften werden die Studierenden der Geschichtswissenschaft deshalb in der "Fußnotenakrobatik" ihrer künftigen Profession geschult. Wie will aber ein Hochschullehrer im Fach Geschichte seinen Studierenden die Bedeutung korrekter Zitationsweise glaubhaft machen, wenn er in seinen eigenen, auf Archivquellen fußenden Werken glaubt darauf verzichten zu dürfen?

Schöllgen verzichtet auch auf ein Quellen- und Literaturverzeichnis. Stattdessen erzählt er dem nach Nachweisen suchenden Leser in einem "Anhang", welche Quellen er für seinen Text zu Rate gezogen hat. Für einen naiven Leser mag es sorgfältig recherchiert erscheinen, wenn dort ein knappes Dutzend Archive, garniert mit allerlei Geschichtchen, aufgezählt werden. Aber schon jeder Studierende der Geschichtswissenschaft müsste erkennen können, warum Schöllgen so vorgeht: Durch den Verzicht auf Fußnoten vermeidet er die exakte Angabe der Fundstelle, durch den Fließtext seines Quellenverzeichnisses vermeidet er darüber hinaus auch noch die Angabe der Bestände, aus denen die zu Rate gezogenen Akten stammen. Es ist zu erwarten, dass bei diesem "Quellenverzeichnis" der Nachrecherche-Aufwand endgültig so groß wird, dass sich niemand dieser Mühe unterziehen wird.

Das ist eine böswillige Unterstellung? Wenn es hier nicht um das Verschleiern ginge, hätte Schöllgen seinen Fließtext-Anhang ja nutzen können, um Quellenkritik zu leisten. Man muss sich gar nicht selber wissenschaftlich mit der Verfolgung der Juden im "Dritten Reich" beschäftigt haben, um sich denken zu können, dass viele, insbesondere Nachkriegsquellen "lügen". Ausgerechnet diejenige Quellengruppe, in der der Nachwelt in der Regel die dreistesten Lügengeschichten aufgetischt werden, wird uns vom Historiker Schöllgen als besonders zuverlässig präsentiert: die Spruchkammer- (vulgo: Entnazifizierungs-) Akten. Dazu heißt es bereits in der Einleitung: "Wegen der Prominenz des Namens wurde der Fall Schickedanz in einer Serie von Entnazifizierung- und Wiedergutmachungsverfahren mit einer Gründlichkeit aufgerollt und untersucht wie kein zweiter." (S. 8) Im Anhang wird noch einmal betont, es erkläre den "ungewöhnlichen Umfang" der Akten, dass die Untersuchung besonders "gründlich und umfassend" gewesen sei (S. 449). Den Umfang der Quellenbestände wird wohl niemand in Zweifel ziehen wollen. Es dürfte einem Gustav Schickedanz ein Leichtes gewesen sein, in jeder gewünschten Anzahl "Persilscheine" beizubringen. Aber was sagt die Quantität über deren Glaubwürdigkeit aus, was heißt "Gründlichkeit"? Anders liegt das Problem bei den ebenfalls herangezogenen Akten des Bayerischen Landesamtes für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung. Da in den Restitutionsverfahren um die Rückgabe "arisierten" gewerblichen Vermögens immer beide Seiten ausführlich Stellung genommen haben, ist es hier besonders wichtig, die Bewertung dieser Stellungnahmen transparent und im Argumentationsgang nachvollziehbar zu machen. Fehlende Nachweise sind dafür eine denkbar schlechte Voraussetzung.

Es soll an dieser Stelle nicht unterschlagen werden, dass die Zeit des "Dritten Reichs" nur knapp die Hälfte des gesamten Buchs umfasst. Aber dieser Teil ist für mich der weitaus interessantere. Denn nur hier sehe ich mich in der Lage, den Umgang des Autors mit seinen Quellen zu hinterfragen. Für die Zeit der Bundesrepublik hat Schöllgen sich nach eigener Aussage in noch viel stärkerem Maße auf den privaten Nachlass gestützt (S. 450), den außer ihm und seinen Mitarbeitern wohl niemand kennt. Wird hier nun also "braune Wäsche weiß gewaschen"? Die Machart legt diesen Verdacht nahe, mehr aber auch nicht. Als jemand, der sehr viel mit Akten zur wirtschaftlichen Verfolgung der Juden im "Dritten Reich" gearbeitet hat2, fällt mir lediglich eine Vielzahl von einseitigen Interpretationen auf.

Ich möchte das im Folgenden an der "Arisierung" der Vereinigten Papierwerke AG durch Gustav Schickedanz im Jahr 1934 erläutern: Es wird Schickedanz durch Schöllgen zugestanden, dass er im Jahr 1932 nicht aus Überzeugung in die NSDAP eingetreten sei, sondern um sich bei der zu befürchtenden Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wegen seiner Vergangenheit im Arbeiter- und Soldatenrat und wegen seines mit der NS-Mittelstandsideologie nicht gerade kompatiblen Versandhandelsgeschäfts gegen mögliche Übergriffe seitens der Partei zu schützen (S. 68f., 76ff.). Diese Bewertung stützt Schöllgen auf eine Aussage Schickedanz' gegenüber der US-Militärregierung vom Oktober 1945 – eine höchst problematische Quelle, wie er selbst einräumt (S. 78). Andererseits gesteht er den Brüdern Emil und Oskar Rosenfelder, denen die Aktienmehrheit der Vereinigten Papierwerke gehörte, nicht zu, dass sie wegen des massiven Drucks der NS-Gauleitung im August 1933 zur Flucht aus Deutschland gezwungen worden seien. Zum Beleg führt Schöllgen unter anderem die Aussage eines Gutachters an, wonach zwar eine Verhaftung gedroht habe, diese aber ausschließlich aufgrund von Devisenvergehen erfolgt wäre (S. 91). Schöllgen folgert daraus, dass die Flucht "ursprünglich nur bedingt mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten zu tun" gehabt habe. Denn die Devisengesetzgebung sei ebenso wie die Reichsfluchtsteuer in Folge der Bankenkrise 1931/32 und nicht durch die Nationalsozialisten eingeführt worden (S. 93).

Hier wird mit zweierlei Maß gemessen: Während Schickedanz' frühzeitige NSDAP-Mitgliedschaft und die spätere Bewerbung seines Geschäftes als "arisch" (S. 83) als "Konzessionsbereitschaft" (S. 84) bagatellisiert werden, bestreitet Schöllgen angesichts der Umstände der Flucht der Brüder Rosenfelder, dass der Erwerb der Papierwerke eine "Arisierung" gewesen sei, da er "weder auf der Basis des geltenden Rechts noch gar hinsichtlich der Absicht des Käufers in diese Kategorie gehört" (S. 101). Warum kann die Übertragung von Eigentums- und Verfügungsrechten an gewerblichem Vermögen in Deutschland auf eine englische Firma im Jahr 1932 nicht genauso eine Vorkehrung gegen eine absehbare Verfolgung gewesen sein wie der Beitritt eines nichtjüdischen Unternehmers zur NSDAP in demselben Jahr? Das Perfide an der nationalsozialistischen Drangsalierung jüdischer Unternehmer war in den ersten Jahren nach der Machtübernahme ja gerade die Anwendung vermeintlich legaler Maßnahmen. "Arisierungen" sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, immer auf "Basis des geltenden Rechts" erfolgt. In sehr vielen "Arisierungs"-Fällen der frühen Jahre spielten vermeintliche (oder tatsächliche) Devisen- und Steuervergehen eine große Rolle, um einen jüdischen Unternehmer "verkaufswillig" zu machen. Der Gutachter im Restitutionsverfahren und mit ihm der Historiker Schöllgen gehen hier der Camouflage der nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen auf den Leim. Der Unrechtscharakter eines Erwerbs erschließt sich erst durch die Umstände, unter denen der Vertrag zustande gekommen ist, und durch eine vergleichende Betrachtung des Verkaufspreises.

Inwieweit die Kaufpreise bei "Arisierungen" angemessen waren, ist heute nur noch sehr schwer nachzuvollziehen. Viele Unternehmen waren nach den Krisenjahren wirtschaftlich schwer angeschlagen und viele jüdische Unternehmer hätten ihr Unternehmen 1933/34 verkaufen oder gar schließen müssen, selbst wenn die Nationalsozialisten nicht an die Macht gekommen wären. Schöllgen deutet solche Schwierigkeiten auch bei den Vereinigten Papierwerken an, führt das aber nicht weiter aus (S. 194). Dass sie existenzbedrohend gewesen sein sollen, erscheint aber nicht unbedingt plausibel, selbst wenn der Maschinenpark nicht im besten Zustand gewesen sein sollte, wie Schöllgen anführt (S. 96). Die Markennamen "Camelia" und "Tempo" waren auch damals schon "Assets", und beides waren Produkte, die nur geringfügigen Nachfrageschwankungen ausgesetzt gewesen sein dürften. Es stellt sich also die Frage nach der Vergütung des "Goodwill", des immateriellen Unternehmenswerts, der etwa in den genannten Markennamen steckte. Dazu schweigt sich Schöllgen jedoch aus. Der Begriff "Goodwill" taucht an keiner Stelle auf, es wird nur einmal durch eine zitierte Gutachteraussage sehr vage darauf Bezug genommen (S. 227).

Wenn Schöllgen also Betrachtungen über die Angemessenheit des Kaufpreises anstellt, tut er das implizit wohl immer unter der Voraussetzung, dass der immaterielle Wert von vornherein gar nicht in Betracht gezogen wurde ("zeitgenössisch übliche Konditionen", S. 95). Aber selbst unter dieser Prämisse hat er Probleme, seine Bewertung zu stützen, dass "Schickedanz die missliche Situation der Brüder Rosenfelder nicht genutzt" habe (S. 100). Denn der ursprüngliche, durch einen Abwesenheitspfleger festgesetzte Verkaufspreis lag mit 140 Prozent des Nominalwerts der Aktien deutlich über dem Preis, den Schickedanz mit 110 Prozent schließlich bezahlte. Deshalb wird die Bewertung des Kaufpreises als "zeitgenössisch üblich" durch die ähnlich vage Formulierung "nicht unter der Anstandsgrenze" ergänzt – aber nur, um sogleich ein apologetisches Argument nachzuschieben. Durch den Kauf habe sich Schickedanz nämlich "in eine erhebliche Abhängigkeit von den lokalen Parteigrößen" begeben, was wiederum erklärt, dass er einiges tun musste, "um sich das Wohlwollen der Gauleitung zu sichern" (ebd.). Konkret geht es dabei um eine Spende von 20.000 Reichsmark. Da bekommt die Qualifikation "zeitgenössisch üblich" ganz unabsichtlich eine ganz andere Bedeutung.

Ich möchte hier bei aller Kritik nicht missverstanden werden: Ich behaupte nicht, dass alles ganz anders gewesen sei. Das kann ich nicht, weil ich die von Schöllgen ausgewerteten Quellen nicht kenne, jedenfalls bei weitem nicht alle. Mein Eindruck ist vielmehr, dass Schöllgen durchaus Fakten auf den Tisch legt, die seiner Interpretation widersprechen. Deren Bedeutung für die Gesamtbewertung des Vorgangs wird aber regelmäßig durch äußerst einseitig interpretierte, vermeintlich entlastende Tatsachen entkräftet. Den Text habe ich wie den berühmten Pudding gelesen, den ich versuche an die Wand zu nageln. Schöllgen hat eine Vorliebe für Begriffe, die eine (erwünschte) Bewertung mitschwingen lassen, aber nicht wirklich fassbar sind. Ob es sich um die "Gründlichkeit" handelt, mit der der Fall Schickedanz in den Nachkriegsverfahren untersucht wurde, oder um einen Kaufpreis oberhalb der "Anstandsgrenze": Das ist eher suggestiv als präzise. Daran ändert auch die später ausführlich zitierte Bewertung durch einen Gutachter im Restitutionsprozess nichts. Denn statt diesen sehr umfangreichen Aktenbestand mit sehr verschiedenartigen Bewertungen derselben Tatbestände zu präsentieren, adelt Schöllgen dieses Gutachten wie folgt: "Man wird lange und wohl vergeblich suchen, um ein zweites [gemeint ist: ähnlich stark entlastendes] Urteil in einem vergleichbaren Fall zu finden" (S. 195).

Dieses Werk stellt einen Rückfall in die Vergangenheit der deutschen Unternehmensgeschichtsschreibung dar. Wie sehr der Autor sich von den Usancen der jüngeren wissenschaftlichen Arbeiten entfernt, zeigt auch die Tatsache, dass er es offensichtlich versäumt hat, den von ihm eingesehenen Nachlass Schickedanz' für andere Forscher zugänglich zu halten. Das ist besonders deswegen eine schwerwiegende Unterlassung, weil Schöllgen diesen Nachlass selber als "die mit Abstand wichtigste Grundlage für die Erforschung der Nachkriegskarriere" bezeichnet (S. 450). Üblich ist es inzwischen auch und gerade bei Auftragsforschung, dass sich der Auftraggeber erstens verpflichtet, dem Auftragnehmer sämtliche sich in seiner Verfügungsgewalt befindenden Akten für Recherchezwecke zur Verfügung zu stellen (was offenbar geschehen ist) und er zweitens gewährleistet, dass die benutzten Akten nach der Benutzung durch den Auftragnehmer nicht wieder weggeschlossen werden. Das scheint nicht geschehen zu sein. Denn im "Anhang" wird zwar über einige Kuriosa dieses Nachlasses räsoniert (Schmetterlingssammlung, "dreidimensionale Gegenstände aller Art", S. 445); auch erfährt der Leser, dass Schöllgens Mitarbeiter ihn für die Benutzung gesichtet und geordnet haben. Aber aufbewahrt wird er nach Abschluss der Recherchen wieder in einem Privathaus der Familie, so dass es wohl sehr unwahrscheinlich ist, dass Historiker dort Einblick nehmen dürfen, die nicht Auftragnehmer der Familie sind.

Ganz anders sieht die Situation bei den großen, ebenfalls überwiegend als Auftragsforschung durchgeführten Projekten zur Geschichte von Unternehmen und Unternehmern im "Dritten Reich" aus, die in den 1990er- und 2000er-Jahren den Boom in der Unternehmensgeschichtsforschung maßgeblich getragen haben. In manchen Fällen existierte bereits ein Historisches Archiv, in der Regel musste jedoch erst eines aufgebaut bzw. mussten die Aktenbestände aus der Zeit des "Dritten Reichs" für die Benutzung aufbereitet werden. Das gilt etwa für die Volkswagen AG, die Allianz AG oder die Dresdner Bank AG. In allen diesen Fällen sind die benutzten Quellen für die wissenschaftliche Öffentlichkeit frei zugänglich. Wenn Schöllgen nun ausgerechnet die Bestände der Dresdner Bank, dieser wichtigsten Bankverbindung Schickedanz', als "der Öffentlichkeit nicht zugänglich" bezeichnet (S. 449), rundet das den Eindruck mangelnder Professionalität und Seriosität dieses Werkes nur noch ab.

Anmerkungen:
1 Johannes Ludwig, Boykott, Enteignung, Mord. Die "Entjudung" der deutschen Wirtschaft, 2. Aufl. München 1992, S. 12.
2 Vgl. Dieter Ziegler, Die Dresdner Bank und die deutschen Juden. Unter Mitarbeit von Maren Janetzko, Ingo Köhler und Jörg Osterloh, München 2006.

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