Titel
Das Gespenst des Kapitals.


Autor(en)
Vogl, Joseph
Erschienen
Zürich 2011: diaphanes
Anzahl Seiten
223 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan-Otmar Hesse, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie / Abteilung Geschichte, Universität Bielefeld

Die Wirtschaftsgeschichte gehört als wissenschaftliche Disziplin zweifellos zu den Gewinnern der internationalen Finanzkrise der letzten Jahre. War in der jüngeren Vergangenheit bald kritisch, bald freudestrahlend von einer "Entökonomisierung" der Geschichtswissenschaft die Rede, scheint sich in deutschen Universitäten derzeit eine Welle neu erweckten kulturalistischen Interesses an der Wirtschaft aufzutürmen. Ob diese in Bewegung geratenden Wassermassen freilich zu einer Steigerung des Badevergnügens beitragen oder langfristig für das Verständnis ökonomischer Entwicklungen eher zerstörerisch wirken, muss sich erst noch zeigen.

Als einer der ersten Vorboten wurde nun ein Bändchen des Berliner Literaturwissenschaftlers Joseph Vogl an den Strand des Faches gespült, das zuvor mächtigen Auftrieb in der Brandung des Zeitungsfeuilletons erhalten hatte. Auf kaum 180 Textseiten beschreibt Vogl hierin die Herausbildung eines spezifischen wirtschaftswissenschaftlichen Wissensfeldes seit dem 18. Jahrhundert, welches den Charakter einer quasi-religiösen Oikodizee angenommen habe. Das Buch endet mit dem Plädoyer für eine umfassende Kritik des ökonomischen Mainstream: Der Glaube an sich automatisch einstellende ökonomische Gleichgewichte, an die Wohlstand vermehrende und damit segensreiche Wirkung von Markt und Wettbewerb sowie an langfristiges kontinuierliches Güterwachstum müsse einem differenzierenden Begriff des Kapitalismus weichen.

Diesen betrachtet Vogl nicht als eine Gesellschafts- oder Wirtschaftsstruktur, sondern als "eine bestimmte Art und Weise, das Verhältnis zwischen ökonomischen Prozessen, Sozialordnung und Regierungstechnologien nach den Mechanismen der Kapitalreproduktion zu organisieren" (S. 131). Und diese Mechanismen bestünden eben darin, dass der Zusammenhang von Warenvermehrung und Geldvermehrung sich auflöse und Geld letztlich nur noch auf sich selbst verweise. Weil diese "Mechanismen" aber eben Märkte strukturell destabilisierten, wie die Finanzkrise gezeigt habe und wie in unterschiedlichen Wirtschaftstheorien seit Mandelbrot und Minsky auch nachgewiesen worden sei, führt die kritische Erkenntnis unserer modernen Wirtschaft nach Vogl letztlich über die "Enttheoretisierung des Ökonomischen" (S. 175). Bei diesem Programm kommt schließlich die Disziplin der Wirtschaftsgeschichte zu neuen Ehren, denn sie erweise sich als "Verzweiflungsgebiet ökonomischer Theorie" (S. 142), weil sie von vornherein ihre Aufmerksamkeit dem historisch Kontingenten geschenkt habe und gleichsam das natürliche Gegenbild zu schematischer ökonomischer Theorie sei.

Erlebt die Wirtschaftsgeschichte in Vogls Erzählung also letztlich ein fulminantes Happy End, so ist sie unterwegs doch ein eher tragischer Held: Die gesamte erste Hälfte des Buches, die sich mit der Herausbildung des klassisch-neoklassischen ökonomischen Diskurses im Zusammenhang mit der modernen Marktwirtschaft beschäftigt, enthält wenig Neues für die Leser von Karl Polanyis "Great Transformation" und Michel Foucaults "Geschichte der Gouvernementalität". Die Arbeiten dieser Autoren zu frühneuzeitlichen Märkten und der darauf bezogenen Wirtschaftstheorie wurden allerdings zwischenzeitlich durch die wirtschaftshistorische Empirie im Einzelnen widerlegt. Vogls Behauptung, dass moderne Marktwirtschaften nicht aus den städtischen Marktkulturen hervorgegangen, die "lokalen Ökonomien" vielmehr "durch das Fehlen von Marktwirtschaften und marktökonomischen Beziehungsgeflechten charakterisiert" (S. 125) seien, bezieht sich neben Polanyi auch auf den 1935 gestorbenen Henri Pirenne.

Auch Vogls Ausführungen zur Wirtschaft des 19. und 20. Jahrhunderts gehen mit den Erkenntnissen des wirtschaftshistorischen "Verzweiflungsgebietes" ausgesprochen großzügig um. Obwohl sie für seine Argumentation zentral ist, erweist sich ausgerechnet Vogls Behauptung einer tiefgreifenden Strukurveränderung der Geldwirtschaft nach dem Zusammenbruch des goldgedeckten Festkurssystems von Bretton Woods 1973 wirtschaftshistorisch als wenig stichhaltig: Zum einen stellte diese Zäsur keinen "unvordenklichen Bruch in einer Geldgeschichte von 2500 Jahren" (S. 87) dar. Internationale Festkurssysteme und Goldstandard waren seit der Verbreitung des Papiergeldes eher die Ausnahme. Der Dollar war bis 1913 reines "Fiat Money", also nicht durch eine Einlöseverpflichtung der Notenbank gedeckt; floatende Wechselkurse existierten bereits nach dem Ersten Weltkrieg und gezwungenermaßen zwischen den Währungsblöcken nach 1931. Selbst im Zeitalter der metallischen Währungen vor 1800 waren Währungsanpassungen zahlreich und die Kurse der Handelswechsel flexibel.

Zum anderen kann keine Rede davon sein, dass sich Warenmenge und Geldmenge erst durch den Übergang zum System flexibler Wechselkurse nach 1973 auseinander entwickelten: Schon vor dem Ersten Weltkrieg machte der Bargeldumlauf (also der Teil der Geldmenge, der für alltägliche Warenzahlungen verwendet wird) in den Industrieländern kaum mehr 20 Prozent der Geldmenge aus. In Großbritannien bestand 1913 die Geldmenge zu 84 Prozent aus Bankkrediten. Die Devisentermingeschäfte andererseits, die von der Chicagoer Börse 1976 gegen die Versicherung von Wechselkursschwankungen auf Initiative von Milton Friedman eingerichtet wurden und von Vogl als ein zentrales Symptom des Übergangs zu einem auf selbsttätige Kapitalvermehrung ausgerichteten Wirtschaftssystem in den Vordergrund gerückt werden, dümpelten in den 1970er- und 1980er-Jahren mit niedrigem Volumen vor sich hin und entwickelten sich erst in den 1990er-Jahren zum Milliardengeschäft.

Man muss von Vogl nicht erwarten, dass er diese Dinge im Detail behandelt. Seinem Buch gebührt das Verdienst, sehr weite Felder der Wirtschaftsgeschichte und modernen Wirtschaftstheorie zu einer Geschichte der Kapitalismen verknüpft zu haben. Kritik ist aber schon allein deshalb zu formulieren, weil zu befürchten ist, dass im Feld der neueren Kulturgeschichte zahlreiche Vogl-Adepten in Qualifikationsarbeiten die wirtschaftshistorischen Erkenntnisse mit ähnlicher Großzügigkeit übergehen werden. Jenseits der erwartbaren falschen Vorbildfunktion stört die fehlende Berücksichtigung der Ergebnisse der Wirtschaftsgeschichte bei Vogl aber auch deshalb, weil sie systematisch theoretische Kurzschlüsse produziert. Neben den immer leidigen Datierungsfragen der "neuen Oikodizee" gehört hierzu eben auch die Beschreibung der Wirtschaftstheorie als eines Diskurses, der der "Verrätselung" ökonomischer Produktionsbedingungen dient. Diese am Anfang des Buches sehr starke Perspektive wird schon am Ende von Vogl selbst implizit widerlegt, indem er nun zahlreiche kritische Wirtschaftstheorien heranzieht, die die Instabilität von Märkten nachweisen, dabei aber unterschlägt, dass es die vermeintlich so hermetische und unkritische Wirtschaftstheorie gewesen ist, die diese Kritik hervorgebracht hat.

Weitere kritische Ansätze jenseits des Mainstreams, die Historische Schule der Nationalökonomie, Schumpeters dynamische Theorie oder die ökonomische Spieltheorie, die eben anfangs auch gegen die naive Gleichgewichtsannahme der Neoklassik angetreten war, könnte man noch hinzufügen. Vogl folgt in seiner Kritik der wirtschaftswissenschaftlichen "Oikodizee" exakt den Linien der Selbstabgrenzung des Faches, die solche Ansätze systematisch in die Sozial- und Geschichtswissenschaften semantisch ausgelagert haben. Es stellt sich mithin die Frage, ob die Oikodizee, die er für so viele Fehlentwicklungen der modernen Wirtschaft verantwortlich machen will, nicht häufig eine nur eingebildete ist, eine mit der "Realität" der Wirtschaftswissenschaft wenig vereinbare, die stärker in den Köpfen der nicht teilnehmenden Beobachter stattfindet als im Fach selbst.

Dort finden sich nämlich auch Beobachter ökonomischer Entwicklungen, die nie versucht haben Wirtschaftsentwicklung vorherzusagen, die stets vor den Risiken der Finanzmärkte gewarnt haben. Es finden sich auch Ökonomen, die nicht zu einer "Verrätselung" der ökonomischen Beziehungen beigetragen haben, sondern von deren Einsichten die Enträtselungen gerade profitieren konnten und die damit ganz konkrete wirtschaftliche Probleme gelöst haben, noch bevor Kulturhistoriker deren Auftreten überhaupt bemerkt haben. Es ist keineswegs per se unkritisch und apologetisch, wenn sich die Geschichtswissenschaft bei aller notwendigen Dekonstruktion der Diskurse und Semantiken von Finanzmarktakteuren und den sie befeuernden Disziplinen weiterhin bemüht, Leistungen und Versagen ökonomischer Akteure zu identifizieren und zu analysieren.

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