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Titel
Heimat-Politiker?. Selbstverständnis und politisches Handeln von Vertriebenen als Abgeordnete im Deutschen Bundestag 1949 bis 1974


Autor(en)
Fischer, Wolfgang
Reihe
Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 157
Erschienen
Düsseldorf 2010: Droste Verlag
Anzahl Seiten
479 S.
Preis
€ 58,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Max Bloch, Bonn

In den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland wurde das Schicksal der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus Ostmittel- und Südosteuropa vertriebenen Deutschen durchaus bewusst zur Stützung von Rechtspositionen instrumentalisiert, über die damals ein breiter politischer Konsens bestand und die vor allem einen Fixpunkt hatten: ein wiedervereinigtes Deutschland in den Grenzen von 1937. Dieses Fernziel verblasste im Zuge einer immer flexibler gehandhabten Ostpolitik zusehends, bevor es unter der sozialliberalen Bundesregierung seit 1969 endgültig hinter dem Horizont des politisch Machbaren versank. Wer es postulierte, galt als Revanchist oder – im günstigsten Fall – als anachronistisches Relikt. Das „Heimatrecht der Vertriebenen“, einst ein Slogan von großer Zugkraft, verkam zu einem politischen Ladenhüter. Wie gingen Vertriebene als Bundestagsabgeordnete mit diesem von vielen als „Aufweichung“ empfundenen Bedeutungswandel um? Welche Konsequenzen zogen sie aus dem Bewusstsein, dass ihre Leidensgeschichte, die Vertreibungserfahrung, nicht länger als eine Grundlage der bundesrepublikanischen Staatsräson diente, sondern in zunehmendem Maße in Opposition zum Zeitgeist geriet? Solche und ähnliche Fragen stellt Wolfgang Fischer im vorliegenden Buch, das auf seiner Tübinger Dissertation von 2007 basiert. Als Quellen dienen neben den Beständen des Parlamentsarchivs des Deutschen Bundestages vor allem die Nachlässe der „vertriebenen Abgeordneten“ – dies ist der vielleicht etwas irreführende Terminus, den Fischer verwendet. Im Anhang des Buchs fasst er 133 Kurzbiographien der behandelten Personen zusammen.

Etwa 11 Prozent der Bundestagsabgeordneten konnten zwischen 1949 und 1974 – dies ist der zeitliche Rahmen, den Fischer seiner Untersuchung gesetzt hat – als Vertriebene bezeichnet werden. Dadurch waren sie, was ihren Anteil an der Gesamtbevölkerung betrifft, im Parlament zwar unterrepräsentiert. Sie verteilten sich aber, mehr oder weniger gleichmäßig, auf sämtliche im Parlament vertretenen demokratischen Parteien: Während sie in den Fraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP zwischen 9 und 10 Prozent ausmachten, lag ihr Anteil bei Gesamtdeutschem Block/Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten (GB/BHE) und Deutscher Partei (DP) deutlich höher. Diese beiden in besonderem Maße auf Stimmungen und Affekte der Vertriebenen rekurrierenden Parteien, die Adenauer mit begrenztem Erfolg einzubinden und zu „entzaubern“ verstand, schieden jedoch bereits 1957 bzw. 1961 aus dem Bundestag aus. Ihre Ministerflügel, die sich um Theodor Oberländer (GB/BHE) und Hans-Christoph Seebohm (DP) scharten, trugen dem Bedeutungsverlust ihrer Parteien jeweils Rechnung und traten zur CDU/CSU-Fraktion über. Vor allem der Niedergang des GB/BHE, den Fischer anschaulich schildert, ist auch als ein Zeichen der gelungenen Integration der Vertriebenen in die bundesdeutsche Gesellschaft zu werten – eine Integration, die, wie Fischer betont, keine Assimilation gewesen ist. Spätestens seit 1960 hatte eine eigenständige Vertriebenenpolitik außerhalb der etablierten Parteien keine Chance mehr, was zur Versachlichung der im Plenum geführten Diskussionen sicher beigetragen hat.

Große Bedeutung misst Fischer den Vertriebenenverbänden bei: dem Zentralverband vertriebener Deutscher (ZvD) bzw. Bund der vertriebenen Deutschen (BvD) unter Linus Kather und dem Verband der Landsmannschaften (VdL) unter Georg von Manteuffel-Szoege, die sich erst 1957 zum Bund der Vertriebenen (BdV) zusammenschlossen. Beide Verbände waren bemüht, über ihnen zugehörige Bundestagsabgeordnete Einfluss auf die Fraktionen und den parlamentarischen Diskurs zu gewinnen. Dabei konkurrierten ZvD/BvD und VdL miteinander, was vor allem in den offen ausgetragenen Kämpfen zwischen Manteuffel und Kather, beide Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, mitunter kuriose Formen annahm. 1954 verließ Kather, der sich primär als Stimme der Vertriebenen und erst dann als Parteipolitiker verstand, die CDU in Richtung GB/BHE, dessen Radikalisierung (die letztlich eine Marginalisierung bewirkte) er maßgeblich vorantrieb. Ähnliche „Rollenkonflikte“ macht Fischer auch an dem BdV-Vorsitzenden Wenzel Jaksch (SPD) fest, der, anders als Kather, seine Partei zwar nie verlassen, dafür aber umso vernehmlicher mit einem Parteiaustritt gedroht hatte. Vertriebene Bundestagsabgeordnete waren, wie Fischer zusammenfassend betont, mitunter einem „geradezu Faustschen Identitätskonflikt“ zwischen Partei- und Vertriebeneninteressen unterworfen (S. 86), wobei es für vertriebene CDU-Abgeordnete die Adenauersche Westbindungs-, für vertriebene SPD-Abgeordnete die Brandtsche Ostpolitik gewesen ist, die sie zu parteipolitischen Wanderungsbewegungen animierte.

Den 1969 einsetzenden „Verdrängungs- und Abwanderungsprozess vertriebener Verbandspolitiker“ (S. 329) aus den Regierungsparteien SPD und FDP hin zur CDU/CSU führt Fischer dabei auf sein rechtes Maß zurück: Nicht „die“ Vertriebenen, sondern einige Vertriebene, deren prominenteste die BdV-Funktionäre Reinhold Rehs und Herbert Hupka waren, verließen die SPD, während andere, nämlich Horst Ehmke, Heinz Kreutzmann und Claus Arndt, zu treibenden Kräften der Neuen Ostpolitik avancierten. Insgesamt war der prozentuale Anteil der Vertriebenen in der SPD-Bundestagsfraktion sogar gestiegen – auf 11,6 (6. Wahlperiode, 1969–1972) bzw. 13,2 Prozent (7. Wahlperiode, 1972–1976). Bundestagsabgeordneter mit Vertriebenenbiographie zu sein hieß also nicht, in fruchtloser Obstruktion gegen jede Form ostvertraglicher Regelung zu verharren; aus den lebensgeschichtlichen Prägungen ließen sich jeweils eigene Konsequenzen ziehen. In diesem Sinne plädiert Fischer für eine Differenzierung der Vertreibungserfahrungen und der daraus abgeleiteten politischen Standpunkte. Von einer „gemeinsam vertretenen kollektiven politischen Identität der vertriebenen Abgeordneten im Bundestag“ könne „nur in seltenen Ausnahmefällen ausgegangen werden“ (S. 49), auch wenn es vor allem in den Diskussionen um das Lastenausgleichsgesetz (LAG), dessen Genese er detailliert nachzeichnet, durchaus zu interfraktionellen vertriebenenpolitischen Initiativen gekommen ist. Eine oft beschworene „Schicksalsgemeinschaft“ schliff sich im parlamentarischen Alltag jedoch zusehends ab, und so hatten die vertriebenen Abgeordneten ihren Nimbus als machtvolle Pressure Group Anfang der 1970er-Jahre weitgehend eingebüßt. Die große Zeit einer wie auch immer gedeuteten „Heimatpolitik“ war unwiederbringlich abgelaufen – und zwar in allen Fraktionen.

Durch die eingehende Analyse zweier parlamentarischer Diskurse – der Vertriebenen- wie der Außen- und Deutschlandpolitik – vermag Fischer Selbstverständnis und politisches Handeln der vertriebenen Bundestagsabgeordneten im Plenum und in den Ausschüssen überzeugend auszuloten. Auf diese Weise vollzieht er die nicht immer einfache, letztlich aber als Erfolgsgeschichte gewertete Integrationspolitik der Vertriebenen in die bundesdeutsche Gesellschaft auf parlamentarischer Ebene nach. Fischers These von einer „Immunität des allergrößten Teils der Vertriebenen gegen radikale Ideologien von links und rechts“ (S. 138) trifft sicher nicht auf jede der von ihm porträtierten Persönlichkeiten zu: Vor allem in der ersten Wahlperiode haben sich äußerst zweifelhafte Gestalten zu Wortführern der Vertriebenen aufgeschwungen, und Linus Kather fand sich, was in Fischers biographischem Anhang nicht verzeichnet ist, 1969 auf den Kandidatenlisten der NPD wieder. Insgesamt aber ist dem Autor beizupflichten, dass die von Bundesregierung und alliierten Besatzungsmächten anfänglich befürchtete Radikalisierung der Vertriebenen auch durch ihre im Großen und Ganzen maßvolle parlamentarische Vertretung ausgeblieben ist. Die vertriebenen Abgeordneten in ihrer facettenreichen Breite möchte er daher nicht als Spinner abgetan, sondern als wichtige Akteure dieses Eingliederungsprozesses gewürdigt wissen. Gerade angesichts jüngerer Diskussionen über den geschichtspolitischen Umgang mit dem Thema der Vertreibungen dürfte Fischers kollektivbiographische Studie auf Interesse stoßen. In ihrer detaillierten Würdigung verschiedener Gesetzgebungs- und Novellierungsverfahren fällt die Arbeit mitunter etwas langatmig aus, ist insgesamt aber gut zu lesen. Sie leistet einen informativen Beitrag sowohl zur Nachgeschichte der Vertreibungen als auch zur Parlamentsgeschichte der Bonner Republik.

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