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Titel
Innere Sicherheit. Politische Anti-Terror-Konzepte in der Bundesrepublik Deutschland während der 1970er Jahre


Autor(en)
Scheiper, Stephan
Reihe
Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart
Erschienen
Paderborn 2010: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
452 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dominik Rigoll, Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Nimmt man die Zahl der einschlägigen Bücher und Zeitungsartikel zum Maßstab, gehören der Linksterrorismus und seine politisch-justizielle Bekämpfung von 1971/72 bis zum „Deutschen Herbst“ zweifellos zu den am ausführlichsten behandelten Themengebieten der deutschen Zeitgeschichte. Ermöglicht durch die sukzessive Öffnung diverser Archivbestände und wohl auch bedingt durch die Aktualität des seit 2001 andauernden „Krieges gegen den Terror“ wurde die ab den 1970er-Jahren ohnehin stetig anwachsende Textproduktion durch Zeitzeugen, Journalisten, Psychologen, Politik- und Sozialwissenschaftler allein im letzten Jahrzehnt durch eine ganze Reihe geschichtswissenschaftlicher Forschungsarbeiten ergänzt. Dank zweier von Wolfgang Kraushaar herausgegebener Sammelbände liegt das bisherige Wissen zum Thema „Die RAF und der linke Terrorismus“ sozusagen in Handbuchform vor.1 Während dieses Werk aus einem Projekt des Hamburger Instituts für Sozialforschung hervorging, wird am Münchner Institut für Zeitgeschichte seit einigen Jahren gleichsam am „staatlichen Pendant“ hierzu gearbeitet und „Die Anti-Terrorismus-Politik der 1970er- und 1980er-Jahre in Westeuropa“ untersucht.2

Stephan Scheipers Studie, die der Autor bereits im Juli 2007 an der Universität Tübingen als Dissertation eingereicht und für die Publikation teilweise um neuere Literatur ergänzt hat, unterscheidet sich von den genannten Projekten durch ein Erkenntnisinteresse, das über die Genese und Entwicklung der Anti-Terror-Politiken in der Bundesrepublik der 1970er-Jahre hinausgeht. Die Arbeit entstammt einer von Gabriele Metzler geleiteten VW-Nachwuchsforschungsgruppe, die sich für „Regieren im 20. Jahrhundert“ interessierte und deshalb auch ganz andere Dinge in den Blick nahm als den staatlichen Umgang mit politischer Gewalt im „Jahrzehnt der inneren Sicherheit“3 – etwa die „Konzertierte Aktion“ oder die Reform der Beamtenausbildung in der Weimarer Republik.4

So fragt Scheiper nicht nur, „wer oder was bestimmte und entschied, was ‚der Staat‘ zu tun hatte“ angesichts des Terrorismus, sondern auch, „welche Inhalte, Strukturen, Akteure das staatliche Handeln […] bestimmten und welchen Veränderungen es tatsächlich durch die Terrorismusbekämpfung unterworfen war“ (S. 10). Die Zeitgenossen waren diesbezüglich sehr unterschiedlicher Ansicht. Während die einen von einem Rückfall in den Obrigkeitsstaat sprachen oder einen hochtechnisierten Überwachungsstaat Orwellscher Prägung heraufziehen sahen, beklagten andere die Schwäche und Halbherzigkeit der staatlichen Reaktion. Scheiper selbst neigt eher der Deutung zu, die in einer der ersten historischen Aufbereitungen des Themas enthalten ist. In dem 1986 erschienenen fünften Band der von Karl Dietrich Bracher und anderen herausgegebenen „Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ hieß es, dass die Terrorbekämpfung im internationalen Vergleich gar nicht so schlecht dastehe, da sie zwar hart, aber doch stets rechtsstaatlich gewesen sei – „gerade die bundesdeutsche Praxis“ habe „auf einer sorgfältigeren Handhabung rechtsstaatlicher Verfahren“ beruht „als in den meisten anderen Ländern“ (zit. nach S. 16). Insofern sei die „Innere Sicherheit“ westdeutscher Prägung sogar als Modell zu gebrauchen.

Scheiper zufolge war die Bundesrepublik im Jahr 1970 zwar im Westen angekommen, doch sei dies gleichsam eine Schönwetter-Ankunft gewesen, die sich in den Krisen der 1970er-Jahre erst noch habe bewähren müssen. Dies sei nicht nur aufgrund der im vorangehenden Jahrzehnt formulierten Reformhoffnungen nicht ganz leicht gewesen, welche die Erwartungen in Politik und Gesellschaft sehr hoch geschraubt und in eine ganz andere Richtung hin orientiert hatten – zur Utopie einer rundum abgesicherten Gesellschaft. Zusätzliche Brisanz erhalten habe die sicherheitspolitische Krisenbewältigung auch durch die bei Akteuren wie Beobachtern verbreitete Sorge, Staat und Gesellschaft könnten bei der Verteidigung des Gewaltmonopols in totalitäre Verhaltensmuster zurückfallen. Trotz beziehungsweise gerade wegen dieser komplizierten Ausgangslage, so Scheiper, habe besonders auf dem Gebiet der Terrorismusbekämpfung ein „fundamentaler Wandel staatlichen Handelns“ stattgefunden (S. 12). Dabei sei vieles vorweggenommen worden, was uns heute selbstverständlich erscheine, namentlich die Angewiesenheit der Exekutive auf die wohlwollende Unterstützung der Massenmedien und Wissenschaften, der Zivilgesellschaft und des Auslands. Das Politikfeld „Innere Sicherheit“ erschöpft sich für Scheiper denn auch nicht in jenen „Politischen Anti-Terror-Konzepten“, von denen im Untertitel des Buches die Rede ist. Vielmehr habe es sich um ein „neues Gesellschaftskonzept“ gehandelt (S. 350), das mittelfristig sowohl die Staatsvorstellungen der Law-and-Order-Fraktion um Franz Josef Strauß als auch diejenigen der sozialliberalen Reformer abgelöst habe.

Während die Rote Armee Fraktion und die Reaktionen auf sie in Forschung und Feuilleton meist aus dem Kontext des „roten Jahrzehnts“ im Sinne Gerd Koenens erklärt werden, also aus den Jahren 1967 bis 1977, setzt Scheiper bewusst nicht erst beim Tod Ohnesorgs an, sondern um einiges früher. Schließlich gilt es zu belegen, worin sich staatliches Handeln in den 1970er-Jahren von dem in anderen Epochen unterschied und welche historisch bedingten „Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmuster die staatlichen Akteure hierzu leiteten“ (S. 10). Scheipers Exkurse reichen bis zu den Sozialistengesetzen der 1870er-Jahre zurück (nicht selten unterfüttert mit Akten aus dem Preußischen Staatsarchiv), vor allem aber in die 1960er-Jahre, wo zahlreiche Anknüpfungspunkte zu anderen zeitgeschichtlichen Arbeiten bestehen und vom Autor auch hergestellt werden. Zu nennen sind hier neben polizeigeschichtlichen Forschungen5 besonders solche Studien, die sich mit Prozessen der „Westernisierung“ beschäftigen.6

Konkret fassen will Scheiper den staatlichen Wandel im Bereich der inneren Sicherheitspolitik zum einen anhand wissenschaftlicher und politisch-konzeptioneller Schriften zum Thema. Zum anderen nimmt er die Biographien von zwölf Angehörigen des Krisenstabes in den Blick, um daraus Aufschluss über das „Strukturwissen“ (S. 36) zu erhalten, das ihnen bei der Bekämpfung des Terrorismus im Allgemeinen und im „Deutschen Herbst“ im Besonderen zur Verfügung stand. Das Hauptaugenmerk gilt dabei den 1920er- und 1930er-Jahren, als die meisten „Krisenstäbler“ (S. 103) noch Kinder oder Jugendliche waren. Tatsächlich nimmt Scheiper die Darstellung der Akteure selbst beim Wort, wonach ihre „zum Teil mit traumatischem Charakter versehene[n] Erfahrungen“ zwischen Weimar und Weltkriegsteilnahme für ihr Verhalten auch nach 1945 konstituierend gewesen seien. Insbesondere sieht er in der Rede von den „Lehren aus Weimar“ bestätigt, was Neurowissenschaften und Pädagogik in den letzten Jahren über die Beständigkeit „normativer Prinzipien“ herausgefunden haben, die im Jugendalter bewusst oder unbewusst „verinnerlicht“ werden (S. 39).

Für Historikerinnen und Historiker, die sich mit der Geschichte innerer Sicherheitspolitiken in der Bundesrepublik und anderswo beschäftigen, ist Stephan Scheipers Studie eine Fundgrube an interessanten Quellenfunden, überraschenden Perspektiven und anregenden Deutungen. Verwiesen sei hier beispielhaft auf den historischen Parforceritt vom Kaiserreich über den Republikschutz nach 1918 bis zur „Inneren Sicherheit im Dritten Reich“ (S. 154-193) sowie auf die kontrastiv vergleichenden und internationale Verflechtungen aufzeigenden Kapitel ganz am Ende des Buches (S. 378-415). Einige Thesen und Herangehensweisen sind indes problematisch. So hätte wenigstens diskutiert werden können, dass man den Memoiren von Spitzenpolitikern wie Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher auch mit etwas mehr Misstrauen gegenübertreten könnte. Noch ärgerlicher ist, dass die Perlen, die das Buch enthält, unter einem Wust oft wenig geordnet erscheinender Zusatzinformationen verschwinden – ein entschiedenes Lektorat hätte den Nutzen des Buchs für weitere Forschungen noch steigern können.

Anmerkungen:
1 Wolfgang Kraushaar (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus, 2 Bde., Hamburg 2006 (rezensiert von Annette Vowinckel: Rezension zu: Kraushaar, Wolfgang (Hrsg.): Die RAF und der linke Terrorismus. 2 Bde. Hamburg 2006, in: H-Soz-u-Kult, 24.10.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-4-070> [1.2.2011]).
2 <http://www.ifz-muenchen.de/anti-terror-politik.html> (1.2.2011).
3 So bereits 1984 Klaus Jürgen Scherer, Politische Kultur und neue soziale Bewegungen, in: Gert-Joachim Glaeßner / Jürgen Holz / Thomas Schlüter (Hrsg.), Die Bundesrepublik in den siebziger Jahren. Versuch einer Bilanz, Opladen 1984, S. 71-91, hier S. 76.
4 Vgl. Regieren im 20. Jahrhundert. Politik in der modernen Industriegesellschaft 1880–1970, Einzelprojekte, URL: <http://www.uni-tuebingen.de/Zeitgeschichte/VW/VW-Hauptseite.html> (1.2.2011).
5 Vgl. z.B. Gerhard Fürmetz / Herbert Reinke / Klaus Weinhauer (Hrsg.), Nachkriegspolizei. Sicherheit und Ordnung in Ost- und Westdeutschland 1945–1969, Hamburg 2001.
6 Vgl. z.B. die ebenfalls mehrfach zitierte Dissertation von Julia Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB, München 2003, sowie natürlich die Arbeiten von Anselm Doering-Manteuffel.

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