M. Wagendorfer: Die Schrift des Eneas Silvius Piccolomini

Titel
Die Schrift des Eneas Silvius Piccolomini.


Autor(en)
Wagendorfer, Martin
Reihe
Studi e testi 441
Erschienen
Città del Vaticano 2008: Biblioteca Apostolica Vaticana
Anzahl Seiten
294 S., 24 Bl.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Zajic, Institut für Mittelalterforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften

Der mehr als hinlänglich ausgewiesene Eneas-Silvius-Experte und -Editor Martin Wagendorfer liefert mit dem thematisch scheinbar begrenzten Vorhaben, die Handschrift seines Protagonisten eingehend zu analysieren, einen willkommenen neuen Beitrag zur Entwicklung der humanistischen Schriften des 15. Jahrhunderts.

Mit den eigenhändigen Schriftäußerungen Piccolominis ist Untersuchungsmaterial in wenigstens für den italienischen Humanismus fast konkurrenzloser Dichte gegeben. Diesen Quellen, Handschriften und Briefen, folgte Wagendorfer nach Ausweis eines Verzeichnisses der Autographen (S. 253-255) in mehr als 15 Bibliotheken und Archive, vornehmlich in Italien.

Nach Vorbemerkungen samt wissenschaftsgeschichtlichen Notizen (S. 10-14 mit dichten Anmerkungen zur versandeten Edition der Briefe des Eneas Silvius an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften) skizziert der Autor knapp die vorliegende Literatur zu den humanistischen Schriften samt der im Fluss befindlichen Diskussion zur Terminologie (besonders des kursiven Schreibens der Humanisten; S. 16-24) und deutet in wenigen Umrissen die Biographie des Eneas Silvius an (S. 25-27). In den Kapiteln 4 bis 9 (S. 28-221) stellt Wagendorfer die Entwicklung der Schrift oder besser der Schriften des Eneas Silvius von den Jahren als Sieneser Student bis hin zu dessen Lebensende dar.

Das früheste Zeugnis von Piccolominis Handschrift findet sich in dessen „Mitschrift“ der Sieneser Digesten-Vorlesungen des Antonio Roselli, die der Student ab dem 19. Oktober 1426 angefertigt hat. Die noch überwiegend gotische Formen neben einzelnen humanistischen Elementen aufweisende Schrift des Haupttextes ist recht kursiv, während das Eingangsrubrum und zwei weitere Textstellen der Handschrift (nebst anderen kürzeren Passagen bzw. Glossen) eine anspruchsvolle kanongemäße humanistische Minuskel zeigen. Die erstere Schrift des Sienesen, Wagendorfer bezeichnet sie angesichts des Mischcharakters als „hybride Kursive“, erscheint zwar im vorsichtigen Vergleich mit dem zeitgleichen Sieneser kommunalen Verwaltungsschriftgut modern und produktiv, ist jedoch im Rahmen zeitgenössischer studentischer Schriftformen nicht singulär.

Die Schrift der Zeit zwischen dem Konzil von Basel und Eneas’ Eintritt in die Kanzlei Friedrichs III. ist durch elf Originalbriefe im Cod. Vat. lat. 12504 repräsentiert. Die Kursive der Studentenjahre erfährt offenbar erst durch Anregungen während des Konzils als wichtigem „point of contact“ der europäischen Humanisten eine Klärung des Schriftbildes unter tendenzieller Zurückdrängung konservativer Einzelformen und gleichzeitiger Anreicherung durch „humanistische“ Usancen wie etwa ct- und et-Ligaturen, wobei die Entwicklung hier wie in späteren Jahren durchaus nicht kontinuierlich verläuft. Um 1440 scheint jedenfalls die Entwicklung der in ihren Grundzügen bis zum Lebensende des Sienesen in Gebrauch stehenden Kursive abgeschlossen. Unterschiedliche Stilisierungshöhen und Schriftniveaus scheinen dabei durchaus abhängig von Text- (bzw. Brief-) Intention und Schreibzusammenhang zu sein.

Dem Kapitel über die Briefe der 1430er-Jahre angegliedert ist die Untersuchung der gleichzeitigen Buch- und Glossenschrift Eneas Silvius’, der damals durchaus anspruchsvolle humanistische Minuskel für literarische Texte zu schreiben imstande war. Als Autograph des Dichters wertet Wagendorfer die zwischen 1436 und 1442 zu datierende Überlieferung der eigenen Dichtung Piccolominis in humanistischer Minuskel in der zweiten Handschrifteneinheit von Biblioteca Apostolica Vaticana, Chig. H IV 135, dessen erster, schriftgestalterisch weniger anspruchsvoller Teil mit Iuvenal-Satiren in einer in zwei etwas differierenden Kanonausprägungen (die erste etwas konsequenter in der Rezeption humanistischer Einzelformen) auftretenden Minuskel mit kursiven Zügen schon zuvor als eigenhändig gegolten hatte. Die 1440er-Jahre sind jedenfalls die Zeit der kanonmäßig ausgebildeten humanistischen Kursive Piccolominis, die aus diesem Zeitraum etwa in Konzepten aus der friderizianischen Kanzleitätigkeit Eneas’ und Entwürfen zu Privatbriefen überliefert ist. Tendenziell begünstigte flüchtigere Ausführung die Tradierung konservativer Formen.

Die meisten autographen Quellen gehören den 1450er-Jahren an. Ihre Beurteilung musste daher in Auswahl erfolgen. Die zu analysierenden Stücke zeigen in enger zeitlicher Folge durchaus heterogene Phänomene. So schließt sich etwa an fünf überwiegend kursive Formen aufweisende Briefe von 1455 ein Stück aus dem Jahr 1457 mit einer sehr anspruchsvollen, der Minuskel nahestehenden Schrift an. An der autographen 1. Redaktion der Historia Austrialis 1 sind in der zunehmend eckigeren Gestaltung der Buchstabenbestandteile im Mittelband erste Entwicklungen hin zur Altersschrift abzulesen. Untersucht werden weiter Exzerpte und Fragmente in Vat. lat. 7082, darunter das Fragment eines Exzerptes des Liber certarum historiarum des Johann von Viktring, und Vat. lat. 3886 (Konzept der Germania), ein Dokument deutlichen Schriftverfalls.

Die Periode des Pontifikats zeichnet sich durch fast völliges Fehlen autographer Briefe aus, die durch zwei Handschriften mit eigenhändigen Briefkonzepten und anderen Autographa suppliert werden. De facto spielt nun nur noch die Kursive Piccolominis eine Rolle, die wohl in Zusammenhang mit den gut dokumentierten gesundheitlichen Problemen des Pontifex – einschließlich eines mutmaßlichen Nachlassens der Sehleistung angesichts zunehmender Schriftgröße – häufig mit breiter(er) Feder geschrieben wurde (S. 192). Auch kleinere, jedoch gut datierbare Autographen (etwa die Schriftzüge in der Rota und die Unterschrift auf einer Konsistorialbulle für Siena von 1459) werden herangezogen. In der „von der Gicht geprägten Altersschrift“ (S. 34) Piccolominis lässt sich eine voranschreitende Fragmentierung des Schriftbildes beobachten. Unter Betonung der weit auseinanderrückenden Schäfte im Mittelband entfallen kurze Verbindungsstriche zwischen den Buchstabenbestandteilen, wodurch ein optischer „Zerfall“, ja bei Verwendung dünner Feder eine „Filettierung“ (S. 208 und öfter), bei Einsatz breiterer Feder ein „Zerfließen“ (S. 217 und öfter) der Schrift einritt. Die einzelnen Schriftäußerungen zeigen unterschiedlich starke Beeinflussung durch Krankheitsschübe.

Nachgereiht ist die anhand dieses chronologischen Grundgerüsts erst ermöglichte Einordnung undatierter autographer Marginalien als Kapitel 10 (mit ausführlichen Bemerkungen zur Geschichte der Piccolomini-Bibliothek), wobei die zeitliche Reihung der jüngeren Schriftproben auf rein paläographischer Grundlage wegen der schubweise auftretenden Einschränkung der Fingerbeweglichkeit und der deshalb „innerhalb kurzer Zeiträume sehr stark schwankende[n] Schrift“ (S. 229) schwierig ist. Mehrere früher dem Sienesen zugeschriebene Texte werden als Autographen abgelehnt. Eine abschließende knappe Zusammenfassung (S. 247-249) streicht die wichtigsten Ergebnisse klar heraus.

Die von Wagendorfer verwendete Terminologie zur Schriftbeschreibung entspricht den in deutschsprachiger paläographischer Literatur verbreiteten Usancen mit anthropomorphen Beschreibungselementen und bereitet keinerlei Verständnisschwierigkeiten. Rundes d, also d mit nach links umgebogenem oberen Schaftende, wird vereinzelt (etwa S. 19 und 167) als „unziales d“ angesprochen. Mit „Überlappungen“ (S. 41) sind Bogenberührungen gemeint, „r in 2er-Form“ bezeichnet Bogen- (oder Ligatur-) r.

Das Buch ist sorgfältig korrigiert, gravierendere Lapsus als entfallene Buchstaben (S. 118, Z. 6: „Briefe“, richtig „Briefen“) oder „verrutschte“ Anmerkungsverweise (etwa S. 25, Anm. 51: Verweis muss wohl „Anm. 35“ statt „Anm. 74“ lauten, S. 33, Anm. 48: Verweis auf Anm. „228“ offensichtlich unrichtig) und eine Verschreibung (S. 203, Z. 8: statt „Breve“ richtig „Bulle“) sind dem Rezensenten nicht begegnet. Dass die Schwarzweiß-Abbildungen im Tafelteil qualitativ nicht restlos überzeugen, ist nicht dem Autor anzulasten (vgl. auch S. 5). Die Überprüfung der verbalisierten Beobachtungen Wagendorfers erlauben sie allemal.

Martin Wagendorfer hat ein quantitativ beachtliches Handschriften- und Briefcorpus akribisch aufgearbeitet und paläographisch treffsicher beurteilt. Besonders mit der chronologisch wie formal-analytisch feingliedrigen Darstellung des sich verschiebenden Anteils konservativer (gotischer) und moderner (humanistischer) Elemente in den früheren Phasen der Gebrauchsschrift des Eneas Silvius hat er weit über den konkreten Einzelfall hinaus in methodischer Hinsicht den Weg angedeutet, auf dem durch weitere Fallstudien jene Mosaiksteine zusammengetragen werden müssten, die zur Revision des bislang nur eine vorläufige Skizze darstellenden Gesamtbilds humanistischer Schriften im 15. Jahrhundert dringend notwendig wären.

Anmerkung:
1 Siehe mittlerweile: Eneas Silvius Piccolomini, Historia Austrialis. Teil 1: Einleitung von Martin Wagendorfer, 1. Redaktion hrsg. v. Julia Knödler, 2./3. Redaktion hrsg. von Martin Wagendorfer, Hannover 2009.