L. Senelick (Hrsg.): National Theatre in Northern and Eastern Europe

Cover
Titel
National Theatre in Northern and Eastern Europe, 1746-1900. Theatre in Europe: a documentary history


Herausgeber
Senelick, Laurence
Erschienen
Anzahl Seiten
510 S.
Preis
€ 143,81
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anne Kaun, Baltic and East European Graduate School; Institut für Kultur und Kommunikation, Södertörn University, Stockholm; Goldsmiths College, London University

Der Zusammenhang zwischen Kultur auf der einen und Politik auf der anderen ist viel beschworen und viel diskutiert. Nicht erst seit Arbeiten wie Walter Benjamins Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ 1, in dem er die Ästhetisierung von Politik und die Politisierung von Ästhetik diskutiert, sind beide Sphären nur schwerlich getrennt voneinander zu denken. Manchmal erscheint die Diskussion jedoch wie die gängige Frage nach Henne und Ei: Ist die Kunst die treibende Kraft bei der Infragestellung bestehender politischer und gesellschaftlicher Strukturen und ist sie es, die als avantgardistische Bewegung der Gesellschaft den Spiegel vorhält? Oder ist revolutionäre und kritische Kunst ein Kind ihrer Zeit und in ihrer Möglichkeit zur Kritik vom allgemeingesellschaftlichen Kon- text und historischen Bedingungen bestimmt?

Die Auseinandersetzung mit kultureller Praxis als Infragestellung herrschender, gesellschaftlicher Machtstrukturen wurde vor allem durch Arbeiten der Chicago School und der Birmingham School of Cultural Studies vorangetrieben. Die Perspektive der Cultural Studies führte die Anerkennung vor allem der Populärkultur als wichtiger Komponente der Auseinandersetzung des kreativen Subjektes mit dem gesellschaftlichen Kontext ein. Arbeiten von unter anderem Stuart Hall und Paul Gilroy zeigen, wie kulturelles Engagement als politische Praxis verstanden werden kann und muss.

Der hier besprochene Band berührt am Rande solche und ähnliche Fragen. Die Auseinandersetzung mit der Rolle des Theaters für politische Entwicklung in den skandinavischen und osteuropäischen Ländern wird hier anhand von Primärquellen geführt. Der Band ist der zweite in der Reihe „Theatre in Europe: a documentary history“. Andere Bände stellen in vergleichbarer Weise Originalmaterial zur Geschichte des europäischen Theaters für das englische, das deutsche und holländische Theater, Naturalismus und Symbolismus im Europäischen Theater, das französische Theater und das romantische und revolutionäre Theater vor.2 Die Bände richten sich vor allem an Studenten und Wissenschaftler im historischen Bereich, die ein genuines Interesse an Originalquellen haben.

Der vorliegende Band verspricht eine Auseinandersetzung mit der Rolle des Theaters als Ausdruck wachsender nationaler Bestrebungen und kultureller Agenden von der Mitte des 18. bis zum späten 19. Jahrhundert in Dänemark, Schweden, Norwegen, Polen, Böhmen, Ungarn, Rumänien und Russland. Die ausgewählten Dokumente und Quellen spiegeln in chronologischer Reihenfolge die Entwicklung des Theaters im jeweiligen gesellschaftspolitischen Kontext. Die Darstellung zeigt in Bezug auf die skandinavischen Länder eine Entwicklung vom aristokratischen und städtischen Theater hin zu einer genuinen, öffentlichen Theaterinstitution. Für Polen, Ungarn, Böhmen und Rumänien wird anhand des Quellenmaterials eine Entwicklung hin zu einem spezifischen nationalen Repertoire und einer Organisation des Theaters frei von ausländischem Einfluss gezeigt. Für Russland gilt eine ähnliche Entwicklung des Vaterlandskonzeptes (narod) in Stückauswahl und Schauspielkunst, die nach dem Rückzug Napoleons in der Herausbildung des Moskauer Kunsttheaters kulminierte.

Die Einleitung des Herausgebers Laurence Senelick stellt generelle Konzepte wie Nation und Nationalismus vor und versucht in einer Metaanalyse länderübergreifende Entwicklungen zu zeigen und zu diskutieren. Die einzelnen Kapitel werden dann jeweils durch eine relativ kurze Einführung eingeleitet. Die entsprechenden Autoren zeichnen gleichzeitig verantwortlich für die reichhaltige Auswahl des Originalmaterials. Außer im Falle Rumäniens, für das nur eine sehr kurze Einleitung gegeben wird, geht aus den Begleittexten mehr oder minder eine Motivation der Auswahl hervor. Architektonische Pläne, adlige Edikte, Zensurberichte, zeitgenössische journalistische Beiträge, Notizen von Direktoren, Memoiren und Briefe (unter anderem von Henrik Ibsen) werden teilweise durch weitere sehr kurzgehaltene Texte kontextualisiert. Die breitgefächerte Auswahl soll dabei allerdings nicht erschöpfend, sondern vielmehr als repräsentativ für die Entstehung und Entwicklung des nationalen Theaters gesehen werden.

Das erste Kapitel zur Entwicklung des dänischen Theaters, wie alle Kapitel zu Skandinavien von Peter Bilton zusammengestellt, beschreibt zwei bedeutende Entwicklungen für das nationale Theater dieser Zeit, nämlich den Neubau des königlichen Schauspielhauses in Kopenhagen (1748 bzw. 1874) sowie die institutionellen Veränderungen des Theaters im Rahmen der revolutionären Entwicklungen Mitte des 19. Jahrhunderts. Das dänische Theater entwickelte sich von einer adeligen Institution hin zu einer Einrichtung, die vor allem durch parteipolitische Interessen und Launen der staatlichen Verwaltung geprägt war. In diesem Sinne präsentiert das Kapitel Quellen, die die Gesetzgebung und Administration des Theaters betreffen, wie beispielsweise das königliche Privileg Komödien aufzuführen. Darüber hinaus findet der Leser Material zum zeitgenössischen Publikum (beispielsweise eine Polizeinotiz zum Verbot von Publikumstumulten), Material über Schauspielerei und Bühnenmanagement sowie Unterlagen seitens des Ministeriums für Kultur (beispielsweise Pläne zum Neubau des königlichen Schauspielhauses). Das schwedische Theater zwischen 1765 und 1900 wird vor allem im Rahmen seiner Doppelnatur als adlige und öffentliche Institution diskutiert. Neben ähnlichen Materialien wie im Kapitel zu Dänemark werden Quellen präsentiert, die die Spannung zwischen Nationalisierung des Theaters einerseits und privatem Management andererseits thematisieren. Die norwegische Theatergeschichte hingegen wird im Kontext ausländischer, vor allem schwedischer und dänischer Einflüsse präsentiert.

Für die osteuropäischen Länder zeichnet der Band den Weg eines Theaters, das unter starkem ausländischen (vor allem deutschen) Einfluss stand, hin zu einem nationalen Theater nach. Die Bearbeiter der Kapitel beschreiben diese Entwicklung anhand von beeindruckendem Material über beispielsweise wichtige nationale Sozietäten und öffentliche Persönlichkeiten, die prägend für das nationale Theater waren, als jeweils doch recht individuelle nationale Geschichten.3 Auf spannende Art und Weise werden so kulturelle und politische Veränderungen als miteinander im Dialog stehend präsentiert und diskutiert.

Da sich der Band vor allem an Leser mit Interesse für Originalmaterial als Grundlage weiterer eigener Analysen richtet, fallen Einleitungs- und Begleittexte recht spärlich aus. Ziel war, so scheint es, vorrangig das Material selbst sprechen zu lassen. Nichtsdestotrotz hätte ich mir eine mehr theoriegeleitete Diskussion des Zusammenhangs zwischen kulturellen Institutionen und Praktiken und der allgemein politischen Entwicklungen gewünscht, um das ausgewählte, höchst interessante Material in einen breiteren Kontext einzubetten. Denn natürlich bestimmt das Verständnis eben dieser Relation auch den Blick auf das Material und hätte die Auswahl transparenter gemacht. In diesem Sinne kommt mir die Metadiskussion im einleitenden Kapitel zu kurz. Was sind generelle Gemeinsamkeiten, was nationalspezifische Entwicklungen und wie können wir diese verstehen? In Hinblick auf den Adressatenkreis erscheint diese Kürze verständlich. Nicht verständlich hingegen ist mir die fehlende Diskussion und Motivation der Länderauswahl. Warum werden die skandinavischen Länder in einem Band mit Polen, Böhmen, Rumänien, Ungarn und Russland diskutiert? Gibt es parallele oder interessante distinkte Entwicklungen? Das gewählte Material spricht dennoch für sich und lädt den interessierten Leser zum Weiterdenken ein. Erstmals bereits 1991 erschienen, hat der hier besprochene Band aufgrund des Umfangs und der Reichhaltigkeit des präsentierten Quellenmaterials sowie seiner Bedeutung im Fachbereich Theatergeschichte eine Besprechung verdient.

Anmerkungen:
1 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit, zweite Fassung, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Band VII, Frankfurt am Main 1991, S. 350-384.
2 David Thomas (Hrsg.), Restoration and Georgian England, 1669-1788, 2. Aufl. TB, Cambridge 2009 (1. Aufl. 1989); Glynne Wickham, Herbert Berry, William Ingram (Hrsg.), English Professional Theatre, 1530-1660, 2. Aufl. TB, Cambridge 2009 (1. Aufl. 2001); George W. Brandt (Hrsg.), German and Dutch Theatre, 1600-1848, 2. Aufl. TB, Cambridge 2009 (1. Aufl. 1993); Claude Schumacher (Hrsg.), Naturalism and Symbolism in European Theatre, 1850-1918, 2. Aufl. TB, Cambridge 2009 (1. Aufl. 1996); William D. Horwarth (Hrsg.), French Theatre in the Neo-classical Era, 1550-1789, 2. Aufl. TB, Cambridge 2009 (1. Aufl. 1997); Donald Roy u.a. (Hrsg.), Romantic and Revolutionary theatre, 1789-1860, 2. Aufl. TB, Cambridge 2009 (1. Aufl. 2003).
3 So finden sich im Kapitel zu Rumänien beispielsweise Quellen zur philharmonischen Gesellschaft Bukarests und im Kapitel über Böhmen zu dem Prager Theaterleiter Tyl und seinen Gegnern.