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Titel
Kaiser Leo I.. Das oströmische Reich in den ersten drei Jahren seiner Regierung (457–460 n. Chr.)


Autor(en)
Siebigs, Gereon
Reihe
Beiträge zur Altertumskunde 276
Erschienen
Berlin 2010: de Gruyter
Anzahl Seiten
2 Bde., XVIII, 1070 S.
Preis
€ 149,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katharina Enderle, Historisches Seminar, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

In den letzten Jahren erschienen mehrere biographische Untersuchungen zu einflussreichen Persönlichkeiten des 5. Jahrhunderts 1, Kaiser Leo (457–474) hingegen wurde bislang noch nicht monographisch erfasst. Das Desinteresse an seiner Person begründet Gereon Siebigs damit, dass unter Leos Regierung keine „spektakulären Ereignisse“ wie etwa das Konzil von Chalkedon unter Marcian stattgefunden hätten und weil die verbreitete Ansicht, Leo sei lediglich eine Kreatur des Heermeisters Aspar gewesen, ihn unattraktiv erscheinen lasse (S. 2). Da Leos Regierungszeit aber, wie Siebigs betont, aufgrund mancher Weichenstellungen, die in diese Jahre fallen, ein wichtiges Moment im Verlauf des 5. Jahrhunderts darstellt, plante er ursprünglich, diese Lücke mit seiner Dissertation zu schließen, gab das Ziel einer Darstellung der gesamten Regierungszeit dann aber zugunsten einer detaillierten Untersuchung der ersten drei Regierungsjahre auf. Die Konzentration auf diesen Zeitraum begründet Siebigs zum einen mit der Quellenlage, die für die frühen Jahre noch deutlich besser sei als für die zweite Regierungshälfte; zum anderen steht für ihn vor allem die Religionskrise in Alexandria im Mittelpunkt, die mit der Absetzung des Timotheos Ailauros 460 ein vorläufiges Ende fand (S. 3).

Siebigs’ umfangreiche Studie ist in zwei Bände geteilt, der erste Band beinhaltet die eigentliche Arbeit, in der er den genannten Zeitraum mit der Zielsetzung untersucht, eine „genauere Feinchronologie zu erarbeiten“ und die Handlungen, Handlungsspielräume und mögliche Alternativen der Protagonisten nachvollziehbar zu machen (S. 4); der zweite Band tritt als Ergänzung hinzu, in ihr werden Fragestellungen, die über den zeitlichen und thematischen Rahmen des eigentlichen Vorhabens hinausgehen, als Exkurse abgehandelt. Es ist allerdings vorauszuschicken, dass Siebigs die Arbeit aufgrund seiner Lehrtätigkeit im Schuldienst über den Zeitraum von 1992 bis 2010 verfasste, dabei aber die Literatur der letzten Jahre nicht mehr umfassend rezipieren konnte, was den Wert der Untersuchung doch einschränkt.

Nach einer sehr ausführlich geratenen historischen Einführung (S. 55–190) analysiert er in sechs großen, chronologisch angeordneten Kapiteln die Ereignisse der Jahre 457 bis 460 (S. 191–603). Sie sind geprägt von Leos Suche nach einer Positionierung gegenüber der Regierung im Westreich, vom Umgang mit der Religionskrise in Alexandria sowie von den schwierigen Beziehungen zu den Ostgoten. Zentrale politische Figur des ganzen Zeitraums ist der Heermeister Aspar, der als „Quasi-Mitregent“ (S. 201) zunächst einmal alle Schritte Leos kontrolliert und lenkt. Das Verhältnis zwischen Kaiser und Heermeister stellt ein wesentliches Motiv der Arbeit dar: Siebigs setzt den Beginn ihres Konfliktes, der 471 in Aspars Ermordung gipfelte, schon kurz nach der Kaiserwahl an; Leo habe am Anfang seiner Regierung indes noch keine Möglichkeit gehabt, sich gegen seinen Heermeister durchzusetzen (S. 3).

Im ersten Kapitel stellt Siebigs die wenigen Zeugnisse über Leos Karriere vor 457 zusammen und beschreibt die Krönung, wobei er überzeugend gegen eine Patriarchenkrönung argumentiert 2; zudem geht er auf die Selbstdarstellung des Kaisers ein. Ab dem zweiten Kapitel steht dann insbesondere die Religionskrise in Ägypten im Zentrum: Als nach der Weihe des Chalkedongegners Timotheos Ailauros und der Ermordung seines Vorgängers Proterios Alexandria zum Zentrum eines ins ganze Reich ausstrahlenden antichalkedonischen Aufstandes wird, gerät Leo in einen Interessenkonflikt zwischen dem Papst Leo, Aspar und dem Patriarchen Anatolios, wie Siebigs aus den Quellen herausarbeitet. Er konstatiert, dass Kaiser Leo durch die kirchenpolitischen Entscheidungen, die er zu treffen hatte, und durch die Unterstützung des Papstes erste Emanzipationsschritte gegenüber Aspar gelangen, und deutet Aspars intensiviertes Patronatsverhältnis gegenüber den Goten als Gegenmaßnahme darauf (S. 479). Großen Raum nimmt die Rekonstruktion des als „Ersatzkonzil“ gedachten Encyclion an die Bischöfe und die Analyse ihrer Antworten ein. Siebigs stellt mehrfach heraus, dass das Chalcedonense in vielen Gegenden kaum akzeptiert wurde, und deutet Leos zögerliches Handeln nach dem Aufstand nicht nur als Schwäche, sondern auch als Reaktion auf die nicht zuletzt in Konstantinopel starken antichalkedonischen Stimmungen. Eine Beurteilung seiner Hauptquelle für die Kirchenpolitik, der Konzilsakten von Chalkedon, vor allem hinsichtlich Verfasser und Tendenz, wäre hier wünschenswert gewesen. Siebigs führt die Untersuchung dann in den Kapiteln 3 bis 6 bis ins Jahr 460 mit Schwerpunkt auf den Beziehungen der Protagonisten untereinander fort: Zu diesem Zeitpunkt befindet sich Leo in einem (vorläufigen) Annäherungsprozess an den Westen, hat das Problem mit den Ostgoten durch ein neues Foedus gelöst und in Alexandria einen neuen Patriarchen wählen lassen.

Siebigs’ Arbeit enthält einige Beobachtungen, deren weitere Diskussion ergiebig sein könnte. Interessant ist beispielsweise seine Einordnung der Westpolitik des Ostkaisers im behandelten Zeitraum in die weitere Entwicklung des 5. Jahrhunderts: Die Tatsache, dass Leo Maiorian die Anerkennung verweigerte 3, habe bewirkt, dass Maiorian sich nie als Westkaiser fest habe etablieren können. Dies wiederum habe Ricimer und den späteren Heermeistern zu der Machtfülle verholfen, die zum Ende des weströmischen Kaisertums führte. So gesehen hätten Leo und Aspar tatsächlich großen Einfluss auf den weiteren Verlauf des 5. Jahrhunderts genommen: „Auf staatlicher Ebene wurde die letzte Chance verspielt, das […] Westreich am Leben zu erhalten“ (S. 654). Auch für eine weitere Erforschung der Rolle Aspars kann Siebigs Darstellung wichtige Impulse liefern.

Kritisch fällt zunächst insbesondere die bereits erwähnte Länge der Arbeit ins Gewicht: Auch Details, die mit den zentralen Entwicklungen nur marginal zu tun haben, werden von Siebigs sehr ausführlich erörtert. Der Exkursband enthält zwar einige eigenständige und anregende Thesen und Datierungsvorschläge, wie etwa die Einschätzungen zu Maiorian, insgesamt sind aber die meisten Exkurse zu detailliert.4 Die Zweiteilung der Arbeit scheint ohnehin unpraktisch. Eine stringentere Darstellung der wesentlichen Ereignisketten und die Einbindung der wichtigsten Thesen in den Hauptteil hätte sie zweifellos leichter zugänglich gemacht. Im Zusammenhang mit Siebigs’ abschließenden Bemerkungen treten zudem einige Ungereimtheiten auf: So passt das Fazit im Schlusskapitel, in den Jahren 457–460 habe „die Regierung Kaiser Leos die erste und vielleicht letzte Chance verstreichen“ lassen, „eine Einigung von Chalkedonbefürwortern und -gegnern zu erzwingen“ (S. 654), nicht zu seiner Analyse, dass eine Kirchenspaltung zu diesem Zeitpunkt praktisch nicht mehr zu verhindern gewesen sei (z.B. S. 653), und seiner Betonung der geringen Akzeptanz des Chalcedonense im Osten. Möglicherweise ist dies aber auch eine Folge der langen Entstehungszeit der Arbeit. Auch der Eindruck, dass die Qualität einzelner Passagen sehr unterschiedlich ist, könnte darauf zurückzuführen sein.

Die Stärken der Arbeit liegen in der detaillierten Rekonstruktion der Ereignisgeschichte aus dem Blickwinkel der handelnden Personen, vor allem Leos, und in der Diskussion der Datierungen. Wo Siebigs auf Fragestellungen, die über sein konkretes Thema hinausgehen, oder auf strukturelle Probleme eingeht bzw. soziokulturelle Begriffe benutzt, wirkt sein Stil aber bisweilen unbeholfen und wenig treffend: Exemplarisch genannt sei, dass für Siebigs der Osten das Ende des westlichen Kaisertums als ein „anrührendes, aber fernes Schauspiel“ (S. 636) wahrgenommen habe; Siebigs spricht in diesem Zusammenhang zudem von „Genugtuung und Schadenfreude“, ohne dies zu konkretisieren. Anderenorts konstatiert er, dass die „nibelungenhaften Machenschaften“ der Familie von Leos Ehefrau in den 470er-Jahren „zu dem mutmaßlichen, barbarischen Hintergrund“ passen (S. 751); die Begriffe „barbarisch“ bzw. „romanisiert“ (S. 752 u.a.) werden von Siebigs weitgehend unreflektiert angewandt.

Auf Grund der Einschränkung der Arbeit auf Leos erste drei Regierungsjahre bleibt eine Gesamtbiographie des Herrschers weiterhin ungeschrieben; ein erster, wichtiger Schritt dahin ist allerdings getan. Nicht nur Siebigs’ Untersuchung legt die Hypothese nahe, dass diesen Jahren für die weitere Erforschung des spätantiken Imperium Romanum große Bedeutung beizumessen ist.

Anmerkungen:
1 Vgl. Friedrich Anders, Flavius Ricimer. Macht und Ohnmacht des weströmischen Heermeisters in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2010; Mischa Meier, Anastasios I. Die Entstehung des Byzantinischen Reiches, Stuttgart 2009; Fergus Millar, A Greek Roman Empire. Power and Belief under Theodosius II (408–450), Berkeley 2006; Timo Stickler, Aëtius. Gestaltungsspielräume eines Heermeisters im ausgehenden Weströmischen Reich, München 2002.
2 Anders u.a. Alexander Demandt, Die Spätantike, 2. Aufl., München 2007, S. 220.
3 Siebigs datiert seine Ausrufung zum Kaiser auf den 28. Dezember 457 und glaubt nicht an die Anerkennung als Caesar durch Leo.
4 Fast 30 Seiten beschäftigten sich etwa mit den Verwandtschaftsverhältnissen Theoderich Strabons (S. 915ff.).

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