Lappenküper, Ulrich; Marcowitz, Reiner (Hrsg.): Macht und Recht. Völkerrecht in den internationalen Beziehungen. Paderborn 2010 : Ferdinand Schöningh, ISBN 978-3-506-76899-5 XXIV, 334 S. € 39,90

: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion. München 2010 : C.H. Beck Verlag, ISBN 978-3-406-59858-6 384 S., 2 Abb., 8 Karten € 24,95

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcus M. Payk, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Von einer Handvoll Spezialisten abgesehen, ist die Geschichte des Völkerrechts im allgemeinen Strom der deutschsprachigen Historiographie lange Zeit eher zurückhaltend behandelt worden. Das scheint sich seit einigen Jahren zu ändern. Mit dem Aufschwung der historischen Erforschung von Menschenrechten, humanitären Interventionen und internationalen (Nichtregierungs-)Organisationen tritt auch die große Vielfalt zwischenstaatlicher Rechtsregeln und Normen neu in den Blick. Allerdings lässt sich gegenwärtig noch wenig abschätzen, inwiefern es dabei gelingen wird, das Völkerrecht weder als ideologisches Beiwerk machtpolitischer Interessen zu bagatellisieren noch als überzeitlich-normativen Maßstab staatlichen Handelns zu idealisieren.

Dass eine differenzierte Geschichte des Völkerrechts jenseits einer Unter- und Überschätzung seiner normativen Ansprüche nicht einfach zu meistern ist, aber lohnende Ergebnisse zusammentragen kann, lässt sich an Jörg Fischs Monographie erkennen, die sich dem „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ und damit einem der erfolgreichsten normativen Prinzipien der Neuzeit widmet. Zwar wurde das Selbstbestimmungsrecht erst in den beiden Menschenrechtspakten von 1966 formal kodifiziert, doch der Begriff war seit Mitte des 19. Jahrhunderts geläufig, und die dahinterstehenden Ideen lassen sich noch weiter zurückverfolgen. Fisch ist um eine präzise Einordnung und Erfassung seines Gegenstandes bemüht; daher setzt er, für einen Historiker ungewöhnlich genug, vor die eigentliche historische Darstellung einen eigenständigen Theorieteil. Hier wird das Konzept der Selbstbestimmung anhand von Vorstellungen individueller Freiheit und kollektiver Autonomie entwickelt, zugleich aber auch unterstrichen, dass handhabbare Kriterien für die Definition eines abgrenzbaren Volkes oder einer Nation kaum zu finden sind. Deutlich wird zudem, wie sehr jede Rede von Selbstbestimmung die Existenz von Herrschaft und Ungleichheit voraussetzt, während die Realisierung individueller und kollektiver Selbstbestimmung umgekehrt auf Ideale der Herrschaftsfreiheit, der Unabhängigkeit und der Gleichheit zuläuft; im Untertitel des Buches wird dieses utopische Potenzial denn auch bündig als „Illusion“ zusammengefasst.

Dass dieser Illusion indes eine eminente Geschichtsmächtigkeit innewohnt, lässt sich dem zweiten und weitaus umfangreicheren Teil zur „Praxis der Selbstbestimmung“ entnehmen. Vieles von dem, was Fisch zuvor abstrakt entfaltet hat, findet der Leser hier an historischen Beispielen seit der Amerikanischen Revolution erläutert. Denn obwohl sich in der Frühen Neuzeit begriffliche und ideelle Vorläufer ausmachen lassen – etwa in der ständischen Mitsprache, dem Auswanderungsrecht, dem Widerstandsrecht –, sieht Fisch in der Unabhängigkeitserklärung der 13 amerikanischen Kolonien von 1776 den historischen Präzedenzfall.1 Hier bildeten sich die Grundlagen für eine erfolgreiche Behauptung des Rechts auf Selbstbestimmung heraus, und zwar indem dieses nicht als absolutes, sondern als konditionales Recht begriffen wurde: Erst die rechtlichen und moralischen Verfehlungen des Mutterlandes legitimierten die Unabhängigkeitserklärung der amerikanischen Kolonisten (S. 81). Damit einher ging eine weitgehende Anerkennung der kolonialen Grenzen einerseits, ein rigides Sezessionsverbot andererseits. Vor allem der Amerikanische Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 machte deutlich, dass sich das Prinzip der Selbstbestimmung nur auf den (einmaligen) Akt der Entkolonisierung beziehen ließ; der Austritt der Südstaaten aus der Union war aus dieser Sicht eine illegitime Abspaltung, die nicht anders als mit Krieg zu beantworten war (S. 118).

In Europa zeugte die Erfindung von Plebisziten im Gefolge der Französischen Revolution von konkurrierenden Versuchen, die staatliche Zugehörigkeit von Bevölkerungsgruppen im Rahmen von Selbstbestimmungsideen auszuhandeln. Allerdings ging es hierbei fast durchweg, wie Fisch aufzeigt, um die nachträgliche Legitimierung bereits zuvor getroffener Entscheidungen, was sich mühelos bis zur Umsetzung der Pariser Vorortverträge von 1919/20 verlängern lässt. Denn für die Friedenssuche nach dem Ende des Ersten Weltkrieges spielte der Gedanke der nationalen Selbstbestimmung bekanntlich eine besondere Rolle, wobei entgegen der populären Meinung (aber in Übereinstimmung mit der bisherigen Forschung) nicht Woodrow Wilson, sondern Lenin als der eigentliche Urheber dieser Formel ausgemacht wird. Nicht zuletzt um den revolutionären Impetus der ursprünglichen Begriffsverwendung im Kontext der Oktoberrevolution abzumildern, griff Wilson die Idee der Selbstbestimmung publikumsträchtig auf, obwohl noch in seiner berühmten Vierzehn-Punkte-Rede vom Januar 1918 keineswegs die Rede davon gewesen war (S. 148-156).

Für einen kurzen historischen Moment erschien der amerikanische Präsident als Lichtgestalt aller National- und Befreiungsbewegungen insbesondere der kolonialen Welt.2 In der Realität der mühseligen Friedensverhandlungen führte der Selbstbestimmungsgedanke die alliierten und assoziierten Siegermächte jedoch geradewegs in eine unentrinnbare moralisch-politische Zwangslage. Eine konsequente Anwendung dieses Prinzips hätte den Kriegsausgang nahezu verkehrt und mindestens Deutschland mit Territorialgewinnen bedacht, wohl aber auch den Siegermächten ganz neue Konfliktherde beschert, etwa in Irland. Das daraufhin an den Tag gelegte Verfahren, nationale Selbstbestimmung nach politischen Kriterien im Einzelfall zuzugestehen oder zu verweigern, belastete das „Pariser System“ erheblich. Erstmals war es nun möglich, die Ergebnisse eines Friedensschlusses unabhängig vom Kriegsanlass wie vom Kriegsausgang als ungerecht hinzustellen (S. 166). Auch Hitler argumentierte in seinem Kampf gegen den Versailler Vertrag bevorzugt mit Prinzipien nationaler Selbstbestimmung, was zwar taktisch konditioniert, in der propagandistischen Wirkung aber durchaus effektiv war.3

Nicht zuletzt aus diesen Gründen kam es nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu einer verschärften Anwendung des Siegerrechts, indem jedwede Selbstbestimmung der Kriegsverlierer explizit verworfen oder doch massiv reduziert wurde. Wichtiger für die Geschichte der Selbstbestimmung waren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts freilich die Prozesse der Entkolonisierung in der „Dritten Welt“, die durch den Kalten Krieg maßgeblich begünstigt wurden. Weltweit wurde der Kolonialismus als per se illegale und verwerfliche Praxis geächtet, was in der Kodifizierung des Selbstbestimmungsprinzips in den Menschenrechtspakten von 1966, deren erste Fassung im Übrigen auf die mittleren 1950er-Jahre datiert und damit zeitlich vor der Entkolonisierungserklärung der UNO von 1960 liegt, einen formalen Abschluss fand. Allerdings blieb nach wie vor offen, an welches Rechtssubjekt diese Norm eigentlich adressiert war. Nicht wenige der seit den 1950er- und 1960er-Jahren neu entstandenen Staaten sahen sich ihrerseits mit den Ansprüchen größerer und kleinerer Gruppen auf Selbstbestimmung konfrontiert, wobei diese nach dem Vorbild der amerikanischen Entkolonisierung fast durchgängig zurückgewiesen wurden: Bestehende Grenzen blieben meist unberührt, und weitergehende Sezessionen wurden regelmäßig verhindert, wenngleich oftmals unter Einsatz erheblicher Gewalt.

Die historische Bilanz bleibt mithin schwierig: Handelt es sich bei dem Selbstbestimmungsrecht der Völker um ein tatsächliches Recht, vielleicht sogar um zwingendes, nicht notwendig vertraglich fixiertes und unverfügbares Völkerrecht (ius cogens)? Nach der Lektüre von Fischs anregender, hier und da etwas redundanter Darstellung wird man eine solche Frage nach der Normativität des Selbstbestimmungsrechts für falsch gestellt halten.4 Für eine erweiterte Geschichte des Völkerrechts ist weit eher von Interesse, wann und von wem ein solches Recht reklamiert wurde, welche politischen Konstellationen es voraussetzte und schuf, welche moralischen Mobilisierungen und Selbsteinschränkungen damit einhergingen. Denn die Selbstbestimmung, so stellt Fisch abschließend zu Recht fest, ist ein elementares Ideal der Moderne, welches sich immer wieder neue Bahnen suchen wird und stets neu eingehegt werden muss.

Auch der Sammelband von Ulrich Lappenküper und Reiner Marcowitz zeigt das gewachsene Interesse der Geschichtswissenschaft am Völkerrecht, das hier allerdings eher konventionell behandelt wird – das heißt vor allem als Effekt und Epiphänomen einer Geschichte der Internationalen Beziehungen. Inspiriert durch die Debatten um die amerikanische Intervention im Irak 2003 und hervorgegangen aus einer Tagung der Otto-von-Bismarck-Stiftung (Friedrichsruh)5, wird in 14 Aufsätzen das titelgebende Verhältnis von Macht und Recht in historischer Perspektive analysiert. Dabei beeindruckt der Band zunächst durch die Konsequenz, mit welcher das interdisziplinäre Gespräch zwischen Völkerrechtlern, Historikern und Politikwissenschaftlern gesucht wird. Die gleichberechtigte Einbeziehung von Fachvertretern aus diesen drei Gebieten führt keineswegs zu einem beziehungslosen Nebeneinander der Ansätze und Methoden, sondern lässt immer wieder gemeinsame Problemhorizonte aufscheinen, hinter denen die fachliche Provenienz der einzelnen Aufsätze zurücktritt.

Die deutliche Mehrzahl der nach Epochen gegliederten Beiträge konzentriert sich auf das 19. und 20. Jahrhundert. Mit starkem Akzent auf Europa werden wesentliche Etappen in der Geschichte der Internationalen Beziehungen abgeschritten, durch den interdisziplinären Ansatz teils auch mehrfach behandelt. Inhaltlich folgen die meisten Autoren einer Sichtweise, in der das Völkerrecht als spezifisches Funktionselement in einem weitergefassten System der internationalen Staatenbeziehungen figuriert, kommen dabei aber zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Während Matthias Schulz in seinem Abriss des Staatensystems im 19. Jahrhundert die These einer evolutionären Fortentwicklung des Völkerrechts aufstellt und dabei Normverletzung (etwa durch den Krimkrieg 1853–1856) und Normverbesserung (wie in der ersten Genfer Konvention 1864) unmittelbar aufeinander bezieht, sind andere Autoren skeptischer. In seinem gleichfalls das 19. Jahrhundert in den Blick nehmenden Beitrag beschreibt Klaus Schlichte das Völkerrecht als eine Sammlung von Konventionen und will allenfalls eine beginnende Institutionalisierung von zwischenstaatlichen Regelmechanismen erkennen. Auch für das Staatensystem der Zwischenkriegszeit zweifelt Werner Link an einer eigenständigen Bedeutung des Völkerrechts; aus neorealistischer Perspektive stellt er das Macht- und Hegemonialstreben der Staaten in einer anarchischen Welt in den Vordergrund.

Nur selten, wie bei Friedrich Kießlings Darstellung des gleichen Zeitraums, scheint auf, dass man mit Gewinn auch nach einer Bedeutung des Völkerrechts jenseits seiner systemischen Funktion in den Internationalen Beziehungen fragen kann. Dazu zählt beispielsweise ein nach 1919/20 einsetzender Kodifizierungsschub, der bis auf die Tagespolitik durchschlug, oder eine ebenso neuartige wie allgegenwärtige Semantik des Rechts in der Außenpolitik (S. 185, S. 201f.). Weiterführend ist ebenfalls der Beitrag von Miloš Vec, der die völkerrechtswissenschaftliche Diskussion über Intervention/Nicht-Intervention im 19. Jahrhundert untersucht und jenseits des Staatensystems über Grenzziehungen zwischen Recht und Politik, Theorie und Praxis nachdenkt. So ist bemerkenswert, wie bewusst die internationale Völkerrechtslehre in ihrer Debatte über die Bedingungen, unter denen eine Intervention eines Staats in den Herrschaftsbereich eines anderen Staats erlaubt sein sollte, alle politischen Bezüge ausklammerte. Und je deutlicher dieser Anspruch einer juristischen Systematisierung, Verfachlichung und Verregelung erhoben wurde, desto bedeutungsloser wurde die Theoriebildung für die völkerrechtliche Praxis, in der weiterhin situativ entschieden und mit historischen Präzedenzfällen oder suggestiven Vorstellungen eines Völkergewohnheitsrechts argumentiert wurde.

So instruktiv die durchweg von ausgewiesenen Experten vorgelegten Beiträge im Einzelnen auch ausfallen, vermisst der interessierte Leser in diesem Sammelband jeden Versuch, das Themenfeld abseits von hochaggregierten Synthesen neu zu erkunden. Die von den Herausgebern in der Einleitung aufgestellte Überlegung, dass Macht und Recht dialektisch aufeinander bezogen seien (S. XXIII), ist ebenso richtig wie in methodischer und forschungspraktischer Hinsicht folgenlos. Der Band bietet daher eine solide, interdisziplinär fundierte Übersicht zu etablierten Sichtweisen, aber kaum konzeptionelle Anknüpfungspunkte, um das Verhältnis von (internationaler) Politik und (Völker-)Recht neu zu denken. Damit ist eine Chance vergeben worden, das Völkerrecht mit solchen jüngeren, sich weiterhin ausdifferenzierenden Ansätzen der Internationalen Geschichte in Beziehung zu setzen, die sich nicht mehr mit Einzelstaat und Staatensystem als den einzigen und unhinterfragbaren Grundfiguren der historischen Darstellung begnügen mögen.6

Anmerkungen:
1 Zu dieser Zäsurbildung siehe auch Mikulas Fabry, Recognizing States. International Society and the Establishment of New States Since 1776, Oxford 2010, S. 26ff.
2 Dazu Erez Manela, The Wilsonian Moment. Self-determination and the International Origins of Anticolonial Nationalism, Oxford 2007.
3 Ausführlicher als die vorliegende Monographie ist zu diesem Aspekt der Aufsatz von Jörg Fisch, Adolf Hitler und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, in: Historische Zeitschrift 290 (2010), S. 93-118. Zur juristischen Instrumentalisierung siehe auch Leander Palleit, Völkerrecht und Selbstbestimmung. Zum Begriff des Selbstbestimmungsrechts der Völker in der deutschen und österreichischen Völkerrechtswissenschaft 1918–1933, Baden-Baden 2008.
4 Zum gegenwärtigen völkerrechtswissenschaftlichen Diskussionsstand vgl. etwa Alina Kaczorowska, Public International Law, 4. Aufl. London 2010, S. 573-614; umfassend siehe auch Urs Saxer, Die internationale Steuerung der Selbstbestimmung und der Staatsentstehung, Heidelberg 2010.
5 Vgl. den Bericht von Konrad Michael Schumacher, 20.6.2008: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2141> (01.03.2011).
6 Vgl. exemplarisch etwa Hillard von Thiessen / Christian Windler (Hrsg.), Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel, Köln 2010; Madeleine Herren, Internationale Organisationen seit 1865. Eine Globalgeschichte der internationalen Ordnung, Darmstadt 2009; Akira Iriye / Pierre-Yves Saunier (Hrsg.), The Palgrave Dictionary of Transnational History. From the mid-19th Century to the Present Day, Basingstoke 2009.