S. Richter: Joseph Goebbels – der Journalist

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Titel
Joseph Goebbels – der Journalist. Darstellung seines publizistischen Werdegangs 1923 bis 1933


Autor(en)
Richter, Simone
Reihe
Beiträge zur Kommunikationsgeschichte 24
Erschienen
Stuttgart 2010: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
564 S.
Preis
€ 75,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karl-Günter Zelle, Zornheim

Zu Joseph Goebbels gibt es derzeit viele Neuerscheinungen.1 Bringt jede von ihnen auch Neues? Das muss sich auch die Dissertation Simone Richters mit dem Titel „Joseph Goebbels – der Journalist. Darstellung seines publizistischen Werdegangs 1923 bis 1933“ fragen lassen. Die Autorin hat sämtliche Zeitungsartikel Goebbels’ aus der Zeit der Weimarer Republik gesucht und katalogisiert. Anhand dieses Materials soll der „journalistische Werdegang“ (S. 34) beschrieben werden. Ihr Ziel ist „eine publizistische Biographie […], die das bislang vermittelte Bild von Joseph Goebbels durch ein differenziertes Porträt ergänzt und darin das journalistische Moment spiegelt“ (S. 37). Denn „für die allgemeine Geschichtsschreibung“ sei es offenbar „schwierig […], dieses publizistische Phänomen ‚Dr. G.‘ zu erklären“ (S. 37). Damit wird ein hoher Anspruch erhoben.

Der Kern des Werkes ist eine systematische Beschreibung von Goebbels’ Zeitungsartikeln, zusammen mit einer Charakterisierung der Blätter, in denen diese erschienen. Das Ergebnis ist für die Forschung wichtig und wertvoll. Auch spürte Richter bisher unbekannte Artikel auf, besonders aus den Jahren 1922 bis 1923. Wenn sie allerdings behauptet, der „erheblich größere Teil der Zeitungsartikel“ sei „bislang jedoch unentdeckt“ (S. 57) geblieben, so ist das falsch. Die meisten erschienen in den Periodika „Völkische Freiheit“, „Nationalsozialistische Briefe“ und „Der Angriff“. Diese sind leicht zugänglich und wurden vielfach ausgewertet. Wenn sie zudem behauptet, bisher sei kaum bekannt gewesen, dass „Goebbels bis zu seinem Tod dem journalistischen Schreiben treu“ (S. 27) blieb, so erscheint dies vollends unverständlich.

Bevor sich der Leser Goebbels’ Zeitungsartikeln zuwenden darf, hat er eine 75 Seiten starke Einführung zu lesen. Breiten Raum nimmt hier die Wertung der Quellen ein, zumal diejenige der Tagebücher Goebbels’. Vielleicht ist es eine Referenz gegenüber dem Herausgeber der Reihe, Bernd Sösemann, dass Richter dessen wiederholte Kritik an der Edition durch Elke Fröhlich2 im Einzelnen reproduziert. Dabei schließt sie vieles ein, das für den hier betrachteten Zeitraum irrelevant ist. Auch übergeht sie Erwiderungen. Sie nennt Goebbels’ Aufzeichnungen dann auch die „so genannten Tagebücher“ (passim), als ob diese in den Jahren bis 1933 etwas anderes sein könnten. Inhaltlich hält sie die Aufzeichnungen für wenig bedeutsam, da „von wenigen Jahrgängen abgesehen“, diese stets mit dem „Blick auf eine spätere Leserschaft“ (S. 41) verfasst worden seien. Für den betrachteten Zeitraum jedenfalls kann man dies getrost verneinen. Denn hier findet sich sehr Privates und auch mancherlei Kritik an Hitler. Wie Goebbels seine Aufzeichnungen für eine Veröffentlichung bereinigte und auch verfälschte, kann man aus der einzigen Buchausgabe zu Lebzeiten ersehen.3 Aus Misstrauen gegenüber der Edition betrieb Richter sogar den Aufwand, die Originale im Bundesarchiv ein weiteres Mal transkribieren zu lassen – über gefundene Fehler vermeldet sie allerdings nichts. Damit verzichtet Richter weitgehend auf eine zentrale Quelle. Auch die Reden und Broschüren Goebbels’ wollte sie nicht heranziehen. Ihre Untersuchungen stützt sie bewusst lediglich auf Goebbels’ Zeitungsartikel.

Richter will auf vertiefte Analysen verzichten, die freilich mit der gewählten Beschränkung auf nur eine Quellengattung auch kaum möglich wären. So fragt sie nicht, inwieweit sich die öffentlichen Äußerungen von denen in den Tagebüchern unterscheiden. Aber auch über den „Journalisten“ hätte man gern mehr gewusst: Was unterschied seine Artikel von denen anderer, etwa in der Themenwahl, in der Polemik, im Stil? Fragwürdig erscheint die Methodik: Goebbels’ gesellschafts- und wirtschaftspolitische Vorstellungen werden nicht aus den Zeitungsartikeln heraus entwickelt, sondern durchweg der Sekundärliteratur entnommen, die natürlich auf einer breiten Quellenbasis basieren. Damit kommen die zunächst ausgeblendeten Quellen durch die Hintertür dann doch wieder ins Spiel. Überhaupt setzt Richter gern an die Stelle des eigenen Urteils ein Zitat, wobei der Leser meist nicht nachvollziehen kann, anhand welcher Quellen und welcher Gedankengänge dieses entstand.

Am interessantesten erscheint das Kapitel über Goebbels’ erste journalistische Versuche. Hier entdeckt Richter bisher Unbekanntes: Goebbels’ feuilletonistische Gelegenheitsartikel und seine Bewerbung über ein Annoncenblatt bei einer nicht zu identifizierenden Zeitung. In den folgenden Kapiteln stellt sie Goebbels’ ideologische Position allerdings unscharf dar: Der junge Goebbels hegte eine schwärmerische Liebe zum alten Russland, Richter ist das nicht deutlich: „Den Parteigenossen […] hielt Goebbels die Entwicklungen in der Sowjetunion als positives Beispiel vor.“ Genau das Gegenteil ist richtig, wie bereits aus dem unmittelbar folgenden Goebbels-Zitat zu ersehen ist: „Die Kommunisten suchen das Russland Lenins, wir suchen das Russland Dostojewskis“ (S. 176).

Dass Goebbels’ Antisemitismus andere Wurzeln hatte als Hitlers, stellt sie richtig dar, denn für ihn waren die Juden in erster Linie Repräsentanten des verhassten Kapitalismus. Aber gelegentlich hat er auch rassische Kriterien herangezogen, und das erkennt Richter nicht. Für die Zeit von September 1924 bis Januar 1925, als Goebbels für die „Völkische Freiheit“ verantwortlich war, urteilt Richter, dass „seine antisemitischen Äußerungen zu diesem Zeitpunkt noch außerhalb der politischen Argumentation standen […]“ (S. 178). Aber unpolitisch war keineswegs, was Goebbels in der Ausgabe vom 15.11.1924 schrieb: „Weil der Marxismus eine jüdische Mache ist, die darauf ausgeht, die rassebewussten Völker zu entmannen und zu entsittlichen, […]“.4 Hätte Richter die Tagebücher dieser Zeit ausgewertet, so hätte sie auf weitere derartige Äußerungen stoßen können.

Auch für die anschließende Periode bis Juni 1927, in der er Schriftleiter der „Nationalsozialistischen Briefe“ war, ist ihre Interpretation unscharf: „Goebbels’ antisemitische Verlautbarungen sind in dieser frühen journalistischen Phase ausschließlich als Ausdrucksform seines bereits manifesten Antikapitalismus zu interpretieren.“ (S. 297) Falsch ist hier das Wort „ausschließlich“. In einer Broschüre aus dem Jahr 1926 hätte sie lesen können: „Gewiss ist der Jude auch ein Mensch. […] Aber der Floh ist auch ein Tier – nur kein angenehmes.“ Und aus diesem Vergleich ergibt sich für Goebbels, man müsse ihn „unschädlich machen“.5 Aber Broschüren wollte die Autorin eben nicht in ihre Untersuchung einbeziehen.

Am meisten Probleme hat Richter mit Goebbels’ „sozialistischen“ Vorstellungen: „Insgesamt sind Goebbels’ argumentativ durchaus nachvollziehbare Ideen als sozialpolitisch zukunftsweisend zu erachten […]“ (S. 184). „Goebbels’ journalistische Schriften sind von einem modernen sozialistischen Weltbild durchdrungen.“ (S. 298) Der Rezensent gesteht, dass er nicht weiß, was ein „modernes sozialistisches Weltbild“ ist. Nach seiner Vorstellung müsste es aber Position dazu beziehen, was Eigentum bedeutet, in wessen Händen die Produktionsmittel liegen sollten, ob ein etwaiges Eigentum an diesen übertragbar sein sollte, wie die Wirtschaft insgesamt zu steuern wäre und wie die einzelnen Betriebe und schließlich als Schwierigstes: wie die Einkommen zu verteilen wären. Mit all diesen Fragen hat sich Goebbels nicht auseinandergesetzt, ihm ging es lediglich um die Abschaffung des Kapitalismus. Was an dessen Stelle treten sollte, ist von ihm nicht zu erfahren.

Gut und sinnvoll ist der vollständige Katalog von Goebbels’ Zeitungsartikeln, auch die Darstellung der Inhalte. Leider beschränkt sich das Werk nicht darauf. Vielmehr liefert es ständig Analysen zu Goebbels’ Vorstellungswelt, oft mit fragwürdigen Ergebnissen.

War Goebbels überhaupt Journalist? Richter jedenfalls bezeichnet ihn immer wieder als solchen. Für seine ersten Berufsjahre erscheint dies vielleicht vertretbar. Aber je mehr er Politiker wurde, desto weniger war er es. Seine Artikel hatten Machtzielen zu dienen. Er war Propagandist. Das Schreiben war eines seiner Mittel, neben Reden und Aktionen. Vor allem deshalb erscheint es wenig aussichtsreich, über die Person Goebbels’ nur aus einem Ausschnitt seiner Aktivitäten heraus Aussagen machen zu wollen. Ein sorgfältiges Lektorat hätte dieses Buch vor mancherlei inhaltlichen und stilistischen Schnitzern bewahren können. Vielleicht wäre dann auch das melodramatische Fazit entfallen: „Der Kampf um Goebbels’ Seele war zu Ende. Hitler hatte ihn gewonnen.“ (S. 474)6

Anmerkungen:
1 Allein in den letzten beiden Jahren erschienen: Jörg von Bilavsky, Joseph Goebbels, Reinbek 2009; vgl. die Rezension von Gerulf Hirt: Rezension zu: Jörg von Bilavsky, Joseph Goebbels. Reinbek 2009, in: H-Soz-u-Kult, 14.12.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-4-221> (23.01.11); Peter Gathmann / Martina Paul, Narziss Goebbels. Eine psychohistorische Biografie, Wien 2009; vgl. die Rezension von Gerulf Hirt: Rezension zu: Peter Gathmann / Martina Paul, Narziss Goebbels. Eine psychohistorische Biografie. Wien 2009, in: H-Soz-u-Kult, 14.12.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-4-221> (23.01.11); Peter Longerich, Joseph Goebbels. Biographie, München 2010; Karl-Günter Zelle, Hitlers zweifelnde Elite. Goebbels – Göring – Himmler – Speer, Paderborn 2010; vgl. die Rezension von Oliver Werner: Rezension zu: Karl-Günter Zelle, Hitlers zweifelnde Elite. Goebbels - Göring - Himmler - Speer. Paderborn 2010, in: H-Soz-u-Kult, 19.10.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-4-045> (23.01.11).
2 Elke Fröhlich (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil I: Aufzeichnungen 1923-1941, 14 Bde., München 1997–2005.
3 Joseph Goebbels, Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei. Eine historische Darstellung in Tagebuchblättern (Vom 1. Januar 1932 bis zum 1. Mai 1933), 41. Aufl., München 1943.
4 Joseph Goebbels, An alle schaffenden Stände, in: Völkische Freiheit 36, 15.11.1924, S. 1.
5 Joseph Goebbels, Der Nazi-Sozi. Fragen und Antworten für den Nationalsozialisten, Elberfeld 1926, S. 88.
6 Dieses Zitat entstammt: Curt Riess, Goebbels. Dämon der Macht. Biographie, München 1989, S. 71.

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