E. Krippendorff: Die Kultur des Politischen

Titel
Die Kultur des Politischen. Wege aus den Diskursen der Macht


Autor(en)
Krippendorff, Ekkehart
Erschienen
Anzahl Seiten
222 S.
Preis
€ 22,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Herfried Münkler, Institut für Sozialwissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Krippendorffs Buch ist im Grundton der Klage geschrieben, die sich gelegentlich auch zur Anklage steigern kann: der Klage über die Bildungsferne einer zunehmend szientistisch ausgerichteten Politikwissenschaft, über die Friedensvergessenheit einer wieder auf militärische Instrumente setzenden deutschen Politik sowie ganz allgemein über die Orientierung des politischen wie wissenschaftlichen Diskurses an Macht und Herrschaft, Zweck und Mittel, Kosten und Nutzen. Dementsprechend unzufrieden ist Krippendorff mit der politischen und akademischen Welt, aber er macht das Beste daraus, indem er sich dieser Unzufriedenheit durchs Schreiben entledigt. Im Gestus von Klage und Anklage verwandelt er seine Unzufriedenheit in Selbstberuhigung. Insofern ist Krippendorff dann auch wieder zufrieden, überwiegend jedoch nur mit sich selbst und den wenigen, die so denken und handeln wie er.

Das Buch „Die Kultur des Politischen“, das aus Aufsätzen und Vorträgen der letzten Jahre zusammengestellt worden ist, ist in seinen Grundzügen ein Akt der Distanznahme gegenüber all dem, was Krippendorff verabscheut: dem Staat, dem Kapitalismus, der Universität – jedenfalls der Universität, wie sie sich inzwischen darstellt: der Universität als Ausbildungsbetrieb. Das ist der rote Faden des Buches, vermittels dessen ganz unterschiedliche Themen aneinandergereiht worden sind: Goethes „Faust“ und Mozarts Musik, Shakespeares Dramen und indische Epen, Schillers „Briefe über die ästhetische Erziehung“, aber auch die Symbolik von St. Petersburg und der Widerstand Leningrads gegen die deutsche Belagerung. Dieser rote Faden wird mitunter kämpferisch, gelegentlich larmoyant, häufig aber auch bloß melancholisch gesponnen. Wer sich dadurch nicht abschrecken oder irritieren lässt, sondern die Nebelwand aus Gutmenschentum und Selbstgerechtigkeit durchstößt, wird dahinter manchen Gedanken finden, mit dem die Auseinandersetzung anregend und lohnend ist.

Es ist der thukydideisch-machiavellisch-webersche Diskurs, wie Krippendorff das seiner Auffassung nach hegemoniale Syndrom aus politischem Realismus und Realpolitik nennt, der Politik auf den Kampf um die Macht reduziert und den Blick auf die Kultur des Politischen verstellt habe. Unter der Kultur des Politischen versteht Krippendorff nicht die Summe der Gepflogenheiten, Erwartungen und informellen Regelungen eines Landes, die sich beschreiben und mit anderen politischen Kulturen vergleichen lässt, sondern er meint damit eine normative Ordnung, die sich dem Machtdiskurs verweigert. Offenbar ist eine solche Kultur der Verweigerung gegenüber der Fixierung auf Macht in der genuin politischen Literatur allerdings nicht zu finden – außer bei einem Ausweichen in politische Utopien, von denen im Buch aber nicht die Rede ist –, und deswegen hat sich Krippendorff von den der politikwissenschaftlichen Interpretation üblicherweise obliegenden Texten abgewandt und sich auf solche konzentriert, die gemäß disziplinären Gepflogenheiten eigentlich von der Literaturwissenschaft behandelt werden.

Damit schließt Krippendorff an seine umfänglichen Studien zu Shakespeare und Goethe an, deren Werke er mit den Augen eines Politikwissenschaftlers und im Hinblick auf politische Fragen gelesen hat. In den kleineren Texten, die im vorliegenden Band versammelt sind, hat er sich jedoch auf speziellere Fragen konzentriert, wenn er etwa die Freiheitsvorstellung Schillers gegen die pathetische Freiheitsrhetorik George W. Bushs ausspielt oder nach der Bedeutung von Freundschaft für die politische Ordnung fragt und das mit einer recht sorgfältigen Interpretation der einschlägigen Passagen bei Aristoteles verbindet. Oder er sucht nach den mythologischen Ursprüngen des Europagedankens in der griechischen Literatur und spielt dann den minoisch-kretischen Kulturkreis gegen den von Mykene aus, der seinen literarischen Ausdruck in dem größten Kriegsepos der westlichen Kultur, in Homers Ilias, gefunden hat. Kurzerhand verbindet Krippendorff den Mythos von der Entführung der Europa durch Zeus, der sich in einen prächtigen Stier verwandelt und die phönizische Königstochter von Kleinasien nach Kreta gebracht hatte, mit dem friedlich gesinnten Charakter der minoischen Kultur, um so einen antibellizistischen Ursprungsmythos für Europa zu gewinnen, von dem aus er die jüngsten Entwicklungen des politisch verfassten Europas kritisieren kann.

Ob eine solche Mytheninterpretation tatsächlich als Korrektiv praktischer Politik in der Gegenwart dienen kann, mag dahingestellt bleiben. Sicher ist jedenfalls, dass es sich bei der Entführung der Europa um einen Gewaltakt handelte, der von einigen Künstlern des 20. Jahrhunderts, von Picasso etwa, in seiner ganzen dramatischen Brutalität dargestellt worden ist. Aber darauf geht Krippendorff genauso wenig ein wie auf die bei Herodot berichtete, von dem griechischen Historiker aber verworfene Erklärung für den Ursprung der Kriege zwischen Persern und Griechen, wonach Frauenraub die Ursache für die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Europa und Asien gewesen sei. Man kann den Europamythos also auch ganz anders verstehen, als Krippendorff dies getan hat. Aber nicht das ist das Problem, sondern vielmehr ist dies der Umstand, dass Krippendorff seine Deutung des Europamythos nicht in kritischer Auseinandersetzung mit kontroversen Sichtweisen gewonnen, sondern sie kurzerhand mit dem Gestus des politisch Richtigen und moralisch Guten dekretiert hat – so als ob ein Parteigänger des Guten, Wahren und Schönen von der Auseinandersetzung mit konträren Positionen und der Rezeption der vorliegenden Forschungsliteratur dispensiert sei.

Ganz ähnlich ist es auch bei Krippendorffs Beschäftigung mit den Anfängen des hegemonialen Machtdiskurses, also seiner Reflexion auf Thukydides als den Analytiker des großen Krieges zwischen Athen und Sparta. Gegen Thukydides’ kühle Analytik der Macht stellt Krippendorff die Dialogisierung politischer Auffassungen im attischen Theater, dem er eine weniger machtorientierte Sicht und eine stärker am Frieden ausgerichtete Grundorientierung zuschreibt. Abgesehen davon, dass dies von den drei großen Tragikern zwar auf Aischylos und Sophokles, kaum aber auf Euripides zutreffen mag, wäre hier zunächst die Frage zu beantworten, warum das Theater, wo sich die athenische Bürgerschaft doch in ihrer Gesamtheit versammelte, weniger Einfluss auf die (im Ergebnis verhängnisvollen) Entscheidungen der Volksversammlung gehabt haben soll als die Xyngraphe des Historikers Thukydides, der retrospektiv die Abfolge mehrerer Kriege zu einem einzigen verbunden und diesen aus der Grammatik der Macht heraus erklärt hat. Platon hat dies der Lernunfähigkeit eines von seinen Wünschen und Begierden umgetriebenen Volkes zugeschrieben und deswegen die Demokratie abgelehnt. Einen dauerhaften Frieden kann es für Platon nur unter einer Philosophenherrschaft geben. So weit will Krippendorff dann aber doch nicht gehen. Insgeheim ist er der Auffassung, dass die Masse des Volkes gut sei, lieber Mozart höre als Sarrazin lese und schließlich sogar bereit sei, auf persönliche Zuwendungen zu verzichten, wenn dafür Opernhäuser und Theater geöffnet blieben. Wenn die Dinge dann doch anders liegen, so liegt das laut Krippendorff bloß an fehlender Aufklärung. Wo bei Platon die Philosophenherrschaft gefordert wurde, findet sich bei Krippendorff nur die Klage über das Scheitern des Wahren, Schönen, Guten in einer widrigen Welt.

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