Cover
Titel
Implizites Wissen und kompetentes Handeln. Die empirische Rekonstruktion von Kompetenzen historischen Verstehens im Umgang mit Darstellungen von Geschichte


Autor(en)
Martens, Matthias
Reihe
Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik
Erschienen
Göttingen 2010: V&R unipress
Anzahl Seiten
371 S.
Preis
€ 53,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Simone Rauthe, Historisches Institut, Universität zu Köln

In der deutschen Geschichtsdidaktik wird seit Jahrzehnten empirisch geforscht.1 Die Disziplin hat dennoch kein ausgeprägtes empirisches Profil entwickelt. Dies mag am Selbstverständnis der Geschichtsdidaktiker als traditionell hermeneutisch arbeitende Historiker, mangelnder Aufgeschlossenheit gegenüber empirischen Forschungsmethoden und dem organisatorischen Aufwand der Unterrichtsforschung gelegen haben.2 Das eigentliche Problem liegt aber in der Beschaffenheit geschichtsdidaktischer Theorie: Unsere zentralen, auch in die Kompetenzmodelle eingegangenen Konzepte wie „historisches Denken", „Geschichtsbewusstsein" und "Narrativität" sind komplex und entziehen sich einer direkten Beobachtung. Ihre Operationalisierung („Messbarmachung") in qualitativen Studien ist ein wesentlicher Forschungsschritt und eine Voraussetzung für spätere, extern valide Untersuchungen.

Matthias Martens leistet mit seiner Dissertation „Implizites Wissen und kompetentes Handeln", dem ersten Band der neuen Reihe „Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik", eine wichtige Vorarbeit. Er rekonstruiert eine komplexe Handlungskompetenz der Schülerinnen und Schüler mittels Gruppendiskussionen, die er nach der dokumentarischen Methode auswertet, empirisch. Angesichts der Bedeutung dargestellter Geschichte in der außerschulischen Öffentlichkeit (S. 22) beschäftigt er sich jenseits des Quellenparadigmas mit einer Kompetenz aus Schülerperspektive, die er als „Umgang mit Darstellung von Geschichte" (S. 23) bezeichnet. Das erklärte Ziel des Autors ist die Beschreibung dieser Kompetenz; eine Bewertung mit normativen Kategorien schließt er ausdrücklich aus (S. 23, Fußnote 35). Allerdings wird zunächst nicht deutlich, was als „Umgang" mit dargestellter Geschichte erhoben werden soll: Lesen? Verstehen? Gebrauch? Bewältigung? Kommunikative Aneignung? In einem zweiten Schritt fragt Martens wie sich der Umgang mit dargestellter Geschichte kompetenzorientiert beschreiben lässt (Modellierung) und welche Teilkompetenzen dabei eine Rolle spielen (S. 24). Der Verfasser verortet seine Studie mit einer umfassenden Darstellung des Forschungsstands und -kontexts zwischen Geschichtsdidaktik, Geschichtswissenschaft und -theorie, Pädagogik und Psychologie: Er thematisiert detailliert und kenntnisreich die Kompetenzorientierung im deutschen Bildungswesen, die Bildungsziele des Geschichtsunterrichts im Kontext fachspezifischen Kompetenzerwerbs, die Kompetenzmodelle im Fach Geschichte, Curricula und Standards und den empirischen Forschungsstand zum historischen Verstehen in nationaler und internationaler Perspektive (S. 35-102). In einem kritischen Vergleich der geschichtsdidaktischen Kompetenzmodelle (Michael Sauer, Peter Gautschi, Hans-Jürgen Pandel, Gruppe FUER-Geschichtsbewusstsein) resümiert Martens, „dass keines der Modelle Beschreibungen und Systematisierungen empirischer Erkenntnisse über historisches Lernen enthält, sondern dass sie vielmehr geschichtstheoretische Erkenntnisse und normative Vorstellungen von historischem Denken vereinfacht, strukturiert und kategorial zusammengefasst darstellen" (S. 104). Die Normativität der Modelle zeige sich vor allem in den in ihnen implizit und explizit ausgedrückten Abhängigkeiten, Zusammenhängen und hierarchischen Beziehungen, deren Triftigkeit bisher nicht empirisch überprüft worden sei (ebd.).

Matthias Martens charakterisiert die deutschsprachige Geschichtsdidaktik im Sinne der empirischen Sozialforschung als „häufig nicht ausreichend methodenbewusst" (S. 106). So fehle es an einem methodischen bzw. ethodologischen Diskurs, ob die bisher praktizierte „Art des empirischen Zugriffs und der Erkenntnisgewinnung durch eigentlich geschichtstheoretischen Kategorien folgenden Auswertungsverfahren zu validen Erkenntnissen über den untersuchten Gegenstand führen" (S. 107). Er kritisiert zurecht, dass geschichtsdidaktische Messinstrumente häufig auf theoretischen, aber nicht empirisch fundierten Konstrukten beruhen (ebd.). Im Zusammenhang der Auswertungsverfahren versäumt er aber aufzuzeigen, inwiefern die qualitative Inhaltsanalyse der traditionellen Hermeneutik überlegen ist. Die geisteswissenschaftliche Zitierweise erscheint angesichts seiner Argumentation als inkonsequent. Der Autor erhob den Umgang mit dargestellter Geschichte in neun ausgewählten, audiografierten und transkribierten Gruppendiskussionen (Auswahlsample mit doppeltem Vergleichshorizont; Gymnasium: drei Gruppen 8. Klasse, eine Gruppe 10. Klasse, eine Gruppe 12. Klasse; Realschule: vier Gruppen 8. Klasse), die außerhalb des Geschichtsunterrichts stattfanden. Bei den Gruppendiskussionen, die Martens auch methodologisch reflektiert, wurde beobachtet wie sich die Schülerinnen und Schüler mit kontrovers dargestellter Geschichte diskutierend befassen. Für das Textpaar I „Karl der Große und die Sachsenkriege" wurden Verfassertexte aus zwei Schulbüchern gewählt; bei Textpaar II „Martin Luther und die Ursachen der Reformation" handelte es sich um Zusammenfassungen aus der wissenschaftlichen Literatur. Die Auswertung erfolgte mittels dokumentarischer Methode nach Ralf Bohnsack (S. 111-140).

Die Darstellung der Ergebnisse verdeutlicht dem Leser, inwiefern sich die dokumentarische Methode von der gewohnten hermeneutischen Vorgehensweise unterscheidet. Martens rekonstruierte zunächst durch die Interpretation aller Diskussionen eine in allen Gruppen geteilte Basisorientierung („tertium comperationis"), die als Vergleichshorizont für einzelne Fälle diente: Alle Schülerinnen und Schüler sind von einer vergangenen Wirklichkeit überzeugt (S. 141). Für die zusammenfassenden Diskursbeschreibungen, die der Verfasser in die inhaltlichen Dimensionen „Verstehen und Wissen als zentrale Konzepte", „Erkennen von und Umgang mit Perspektivität" und „Schülervorstellungen zu Genese, Charakter und Rezeption historischen Wissens" gliedert, wählt er thematisch zentrale oder in der Interaktion sehr dichte Transkriptausschnitte (Fokussierungsmetaphern). Die auf die ausgewählten Passagen folgende formulierende und interpretierende Interpretation erfolgt integrativ, ist aber von herkömmlichem hermeneutischem Vorgehen doch zu unterscheiden: Martens verzichtet in seinen Interpretationen auf geschichtsdidaktische Kategorien und Begriffe und betont damit sein induktives Vorgehen (S. 143-286). Grundlage für die typologische Verdichtung und Zusammenfassung der Ergebnisse ist die Unterscheidung von Kompetenz und Performanz nach Noam Chomsky. Die Kompetenz sei auf der Ebene der kognitiven Tiefenstruktur angesiedelt und lasse sich als generatives System beschreiben. Im Fokus seiner Studie, so Matthias Martens, stehe aber die Testperformanz der Schülerinnen und Schüler als operationalisierbarer Ausdruck von Kompetenz (S. 287).

Der Verfasser charakterisiert seine Ergebnisse als „eher ernüchternde[n] Befund" (S. 333): Die Schülerinnen und Schüler verfügten nur über ein recht basales Verständnis von Geschichtsschreibung und hätten Schwierigkeiten zwischen „Quellen" und „Darstellungen" zu unterscheiden. Ferner habe sich gezeigt, dass historisches Denken allgemein und der Umgang mit gedeuteter Vergangenheit im Besonderen für die Lernenden erkenntnistheoretisch komplex und anspruchsvoll sei. Ihr eigenes, vorgefertigtes Geschichtsbild hätte aber dennoch in den Gruppendiskussionen identifiziert werden können (S. 334-335). Am Beispiel zweier Kompetenzmodelle erläutert der Verfasser, dass er die dort konstatierten Zusammenhänge und Abfolgen empirisch nicht oder nur in Ansätzen rekonstruieren konnte. Seine Ergebnisse zeigen vielmehr die Gleichzeitigkeit von Entwicklungen und Niveaus historischen Denkens. Der Autor regt an, die von ihm erhobenen Dimensionen historischen Denkens und ihre Graduierung theoretisch zu verdichten, für eine weitere empirische Untersuchung zu operationalisieren und damit zur Grundlage eines domänenspezifischen Kompetenzmodells zu machen (S. 300-302). Außerdem legen die Ergebnisse der Studie nahe geschlechterspezifisches historisches Denken und historisches Lernen in verschiedenen Schulformen empirisch zu erforschen.

Matthias Martens' Untersuchung zeugt von einem tiefen Methodenverständnis, einer hohen Reflexivität und vermag den empirisch arbeitenden Geschichtsdidaktikern auch neue Wege aufzuzeigen. Sie ist eine Annäherung an das Wesen historischen Denkens aus Schülerperspektive und zugleich ein Plädoyer für die Aufwertung dargestellter Geschichte im Geschichtsunterricht.

Anmerkungen:
1 Ausführlicher Überblick bei Wolfgang Hasberg, Empirische Forschung in der Geschichtsdidaktik. Nutzen und Nachteil für den Geschichtsunterricht, Neuried 2001.
2 Michele Barricelli, Schüler schreiben Geschichte. Narrative Kompetenz im Geschichtsunterricht, Schwalbach im Taunus 2007, hier S. 119-120.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension