Cover
Titel
Geschichte der Schweiz.


Autor(en)
Maissen, Thomas
Anzahl Seiten
250 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans Ulrich Jost, Section d'histoire, Universität von Lausanne

Dissertation und Habilitation von Thomas Maissen, heute Professor für Neuere Geschichte in Heidelberg, liegen im Bereich der Frühneuzeitlichen Geschichte. Als Mitarbeiter der Neuen Zürcher Zeitung in den 1990er-Jahren hatte er sich jedoch auch oft mit der zeitgenössischen Geschichte der Schweiz auseinandergesetzt. Nun liegt von ihm eine 330seitige, flüssig geschriebene Geschichte der Schweiz vor, eine Übersichtsdarstellung, die im 13. Jahrhundert einsetzt und mit der aktuellen Finanz- und Bankenkrise schließt. Es handelt sich um eine chronologisch geradlinig aufgebaute politische Geschichte in dreizehn Kapiteln, die ihrerseits wiederum durch kurze, ein- bis vierseitige Abschnitte gegliedert sind. So entsteht der Eindruck einer konsequent linearen Geschichte mit klaren thematischen Fixierungen. Wirtschaftsgeschichtliche Aspekte sind mehr oder weniger regelmässig aufgenommen, aber nicht immer kohärent im entsprechenden politischen Kontext integriert.

Bei der Lektüre der ersten drei, dem 13., 14. und 15. Jahrhundert gewidmeten Kapiteln erhält man vorerst den Eindruck, Maissen gehe es um eine grundlegende Umpolung der traditionellen patriotischen und nationalkonservativen Geschichte. Im Mittelpunkt steht nicht die vermeintliche, von Bauern und Hirten getragene Befreiungsgeschichte, sondern der Aufbau der Städte des schweizerischen Mittellandes, die mit zahlreichen Bünden, so auch mit den innerschweizerischen Orten, den Landfrieden zu schützen versuchen. Da sowohl die Städte wie die Urkantone ihre Zugehörigkeit zum Reich immer wieder hervorhoben, kann schwerlich von einer Absetzbewegung oder gar von einer bewussten Emanzipation gesprochen werden. Neu ist hingegen, dass die Kommunen bei der Wahrung des Landfriedens die Adligen zu verdrängen versuchen. Maissen stellt dazu fest: «Aussergewöhnlich war die schweizerische Entwicklung nur insofern, als die Einbindung und letztliche Unterordnung des Adels langfristig gelang, ohne dass dafür eine fürstliche Landesherrschaft benötigt wurde, aus der heraus der moderne Staat in der Regel entstehen sollte» (S. 22).

Maissen fügt jedoch in diese moderne, von der aktuellen Forschung getragene Perspektive Elemente der alten, traditionellen Geschichte ein. So erklärt er die Schlacht von Sempach (1386), an der Herzog Leopold der III. den Tod fand, als entscheidende Wende in der Entwicklung der Eidgenossenschaft. Doch wichtiger war wohl die kontinuierliche, aber von den eidgenössischen Orten oft individuell vollzogene Ausweitung der Landesherrschaft, wobei die Errichtung von «gemeinen Herrschaften» mit geteilter Verwaltung die Kantone zu größerer Zusammenarbeit zwang.

Die Erweiterungungen der Herrschaftsgebiete brachte den Städteorten beträchtlichen Machtzuwachs und wirtschaftliche Stärke. Dies führte schliesslich im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts zu grundlegenden inneren Konflikten. Maissen stellt nun, der traditionellen Geschichtsschreibung folgend, das Stanser Verkommnis von 1481 in den Vordergrund. Ob man in diesem Abkommen eine entscheidende Verdichtung des Bündnisgeflechts sehen will, ist, wie die gründliche Studie von Ernst Walder1 zeigt, diskutierbar.

Der Schwabenkrieg von 1499, von Maissen als «Bürgerkrieg im Bistum Konstanz» bezeichnet, sowie die Beteiligung an den italienischen Kriegen lassen erkennen, dass von einer gemeinsamen politischen Perspektive der Eidgenossen kaum die Rede sein kann. Auch Maissen stellt sich deshalb die Frage, wie das 1513 mit dem Einbezug von Appenzell abgeschlossene Bündnisgeflecht zu interpretieren sei. Er legt großen Wert auf die damals aufkommenden Chroniken und die «Entdeckung Helvetiens» (S. 75) durch die Humanisten, woraus er folgert, «dass nicht historische Taten die Schweiz als politische Einheit begründet haben, sondern die um 1470 einsetzende Geschichtsschreibung darüber» (S. 76).

Man hätte hier vielleicht auch die schon von Hans Conrad Peyer entwickelte These aufgreifen können, dass die politische Existenz der Eidgenossenschaft wohl in starkem Maße von den zahlreichen Soldverträge und insbesondere der Allianz mit Frankreich von 1521 abhing. Peyer bezeichnete dieses Vertragssystem, das der Eidgenossenschaft auch wichtige Handelsprivilegien vermittelte, als eine Art konstitutionelle «Klammer»2, die die Eidgenossenschaft bis 1798 zusammenhielt.

Wie in allen bisherigen Übersichtsdarstellungen räumt Maissen der Reformation einen wichtigen Platz ein (Kp. 4). Obwohl die Glaubensspaltung zwei sich feindlich gegenüberstehende Lager schuf, wirkte diese «schwierige Koexistenz» (S. 100) dennoch systemstabilisierend und zähmte ein wenig die politische Unvernunft der religiösen Eiferer.

Im Kapitel 5, das 17. Jahrhundert umfassend, bringt der Autor nun verschiedenste Themen – die Aristokratisierung, die Tagsatzung, den Dreißigjährigen Krieg, den Bauernkrieg, den konfessionellen Bürgerkrieg, die Staatsfinanzen und das Verhältnis zu Frankreich – unter. Etwas voreilig wird hier schon die Neutralität als Teil des Selbstverständnisses der Eidgenossen postuliert. Gewiss, die außenpolitische Zurückhaltung gegenüber gewagten äußeren Engagements ist offensichtlich, doch beruhte diese wohl eher auf einer durch die Glaubensspaltung bewirkten innenpolitischen Lähmung und auf den Interessen der Soldunternehmer an einer möglichst großen Zahl von «Kunden».

Der Sprung ins 18. Jahrhundert (Kp. 6) erfolgt etwas unvermittelt. Zuerst streift Maissen, ein wenig oberflächlich, die Aufklärung und die Konflikte ihrer Anhänger mit den Obrigkeiten. Die «Konfliktlage» (S. 149) wird mit einer Liste der «Händel» und knappen Hinweisen auf einige Beispiele nur ungenügend dargestellt. Konziser werden dann, Bezug nehmend auf die grundlegenden Arbeiten von Rudolf Braun3, die Agrarreformen und die Heimindustrie (Verlagswesen) behandelt. Maissen vernachlässigt hingegen die Ausbildung der Finanzbeziehungen und den Kapitalexport. Bern wurde beispielsweise zu einem der grössten europäischen Anleger von Kapital im Ausland und vermochte mit den daraus erzielten Erträgen einen bedeutenden Teil des Staatshaushaltes zu finanzieren.4 Erst dieser Aspekt der schweizerischen Wirtschaftsentwicklung schafft die Grundlage, um den Aufstieg der Schweiz zu einem hochindustrialisierten Land und schliesslich zu einem der grösseren Finanzplätze zu verstehen.

Mit der Revolutionszeit 1798-1813 (Kp. 7), dem neuen Bundesvertrag von 1815 und der Einführung, 1830, liberaler Verfassungen in zehn Kantonen (Kp. 8) beschreibt Maissen nun die eigentliche Staatsgründung der Schweiz. Diese hatte eigentlich, nach der nur kurzlebigen Helvetischen Republik, mit der von Napoleon auferlegten, die föderalistische Grundlage des zukünftigen Bundesstaates prägenden Mediationsakte (1803) begonnen. Diese Verfassungsgrundlage wird, weil mit französischer Feder geschrieben, in der Schweiz (und auch von Maissen) immer noch stiefmütterlich behandelt.

Ausführlicher behandelt wird der Weg zur Bundesverfassung von 1848. Hier kommt nun deutlich der bestimmende Einfluss der Großmächte, die im eigentlichen Sinne die Existenz der Schweiz möglich machten, zum Ausdruck. Weniger überzeugend sind hingegen Maissens Ausführungen über die «Fünf Parteiungen» (S. 193-196) jener Zeit. Man darf dem Autor allerdings zugute halten, dass in der stark segmentierten und kulturell vielfältig beeinflussten Schweiz klare parteipolitische Lager nur schwer auszumachen sind. So wird denn auch der Bürgerkrieg von 1847, der den Weg zur 1848er-Verfassung öffnete, mit konfessionellen Schlagworten geführt, die jedoch oft nur, wie Maissen richtig betont, Surrogate für politische, wirtschaftliche und lokale Interessen sind.

Die Epoche von 1848 bis 1914 figuriert unter dem Titel «Das bürgerliche Zeitalter» (Kp. 9). Die Verbindung von Wirtschaftseliten und Bundespolitik – «…ein dichtes Netzwerk zur effizienten Industrialisierung des Landes, aber auch eine Vetternwirtschaft, die den Nationalrat beherrschte» (S. 213) – steht als Leitmotiv dieser bürgerlichen Politik. Die weiteren Ausführungen weichen allerdings von den bisherigen Übersichtsdarstellungen kaum ab. Die Frage der Sozialpolitik, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch in der Schweiz wichtig wurde, wird zudem kaum diskutiert.

Das kurze 20. Jahrhundert, aufgeteilt in «Zwischen den Extremen» (Kp. 10) und «Konkordanz und Kalter Krieg» (Kp. 11) umfasst, ohne spezifische Konzeptualisierung, die Resultate der gängigen Forschung. Auffällig sind einige Ungenauigkeiten oder nur ungenügend ausgeführte Hinweise. Wenn Maissen beispielsweise schreibt, die Luftwaffe habe 1940 nur über «40 kriegstaugliche Jäger und 80 veraltete Maschinen» (S. 264) verfügt, so hätte man vielleicht doch erwähnen müssen, dass Deutschland im Winter 1939/40 80 Messerschmitt Me 109, eines der modernsten Jagdflugzeuge, lieferte (und 1944 noch 12 weitere Exemplare). Eine solche Präzisierung gibt auch interessante Hinweise auf das Verhältnis zwischen Deutschland und der Schweiz.

Die Kapitel zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Kp. 11) und die Zeit nach 1989 (Kp. 12) sind faktenreich und geistreich formuliert. Sie ähneln oft, vermehrt themenbezogen, kleinen Essays. Nachteilig dabei ist, dass nicht wenige Begriffe erklärungslos im Raum stehen (zum Beispiel S. 294: «Zivilverteidigungsbuch», «Oswald-Reform»). Die Wirtschaft, insbesondere die Krisen der 1970er- und 1990er-Jahre, sind nur ungenügend in den politischen Kontext integriert (zum Beispiel die Frage des Zusammenhangs von Konjunktur, öffentlichen Finanzen und Sozialpolitik). Es finden sich aber auch sehr treffende übergreifende Zusammenfassungen einzelner Themen, wie zum Beispiel der Kampf um die Gleichbrechtigung der Frauen, die Schaffung des Kantons Jura oder die Asyl- und Einwanderungspolitik.

Ich bin mir bewusst, dass viele der von mir kritisch erwähnten Aspekte darauf zurückzuführen sind, dass eine Beschränkung auf 330 Seiten zu massiven Verkürzungen zwingt. Umsomehr sollte ein Autor bemüht sein, kognitive Leitplanken aufzubauen und komplexe Probleme zusammenzuführen. Außerdem wären ein Index und genauere bibliographische Hinweise (solche finden sich nur in einer knappen, kommentierten Bibliographie im Anhang) hilfreich gewesen. Dies ist mit ein Grund, dass die zwei früheren, auch umfangreicheren Gesamtdarstellungen5 nicht unentbehrlich geworden sind.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu die eingehende Studie von Ernst Walder, Das Stanser Verkommnis. Ein Kapitel eidgenössischer Geschichte, Stans 1994.
2 Hans Conrad Peyer, Verfassungsgeschichte der alten Schweiz, Zürich 1978, S. 84.
3 Rudolf Braun, Industrialisierung und Volksleben. Veränderung der Lebensformen unter Einwirkung der verlagsindustriellen Heimarbeit in einem ländlichen Industriegebiet (Zürcher Oberland) vor 1800, Göttingen 1979; ders., Das ausgehende Ancien Régime in der Schweiz, Göttingen 1984.
4 Julius Landmann, Der schweizerische Kapitalexport, in: Zeitschrift für Statistik und Volkswirtschaft 52 (1916), S. 389-415.
5 Hanno Helbling u.a., Handbuch der Schweizer Geschichte, 2 Bde., Zürich 1972/77; Ulrich Im Hof u.a., Geschichte der Schweiz und der Schweizer, 3 Bde., Basel 1982/83 (vierte, unveränderte Auflage in einem Band: Basel 2006).

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