Titel
Adolf Kardinal Bertram. Kirchenpolitik im Kaiserreich und in der Weimarer Republik


Autor(en)
Hinkel, Sascha
Reihe
Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B: Forschungen 117
Erschienen
Paderborn 2010: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
344 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Hirschfeld, Institut für Geschichte und Historische Landesforschung, Universität Vechta

„In der Tat gehen die Urteile über Bertram weit auseinander“ (S. 11). Dieser Satz zu Beginn spricht das Kernproblem bereits an: Die kontroverse Beurteilung des langjährigen Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz, der wohl zu den umstrittensten Exponenten des deutschen Episkopats im 20. Jahrhundert gehört, durch die bisherige Forschung. Sascha Hinkel lässt schon zu Beginn seiner 2007/08 in Mainz angenommenen historischen Dissertation keinen Zweifel daran, wie er dem „heißen Eisen“ der Bertram-Kontroverse gegenübertreten will: Nüchtern und emotionslos zeigt er den Lebensweg des 1859 in Hildesheim geborenen Kaufmannssohnes auf, der von drei großen Epochen der jüngeren deutschen Geschichte geprägt war: Kaiserreich, Weimarer Republik und Nationalsozialismus. Den Leser erwartet eine handwerklich äußerst solide gearbeitete, sowohl für die Fachwelt als auch für ein Laienpublikum gut lesbare Biographie Adolf Kardinal Bertrams.

Zu diesem Lob ließe sich kritisch anmerken, dass Hinkel die Klippen hagiographischer Überhöhung oder abgrundtiefer Kritik allein deshalb geschickt zu umschiffen vermag, weil er den eigentlichen Stein des Anstoßes der bisherigen Bertram-Rezeption, nämlich das Verhalten des Kardinals gegenüber dem NS-Regime, von Beginn an ausklammert, also nur eine Teilbiographie vorlegt, die auf Kaiserreich und Weimarer Republik beschränkt ist. Folgt man Hinkels Argumentationslinie, dass dadurch „die Fokussierung der bisherigen Bertram-Forschung auf die Jahre zwischen 1933 und 1945 bewusst durchbrochen [wird] und […] ein jüngerer Bertram in den Blickpunkt [rückt], der unbefangen von späteren Ereignissen betrachtet werden kann“ (S. 12), so bleibt die Frage, ob sich Bertrams Erfahrungen in der NS-Zeit in einer Retrospektive überhaupt ausklammern lassen, liegt doch eine Intention der Studie darin, Antworten auf den umstrittenen kirchenpolitischen Kurs des Breslauers Fürsterzbischofs in seiner Rolle als Vorsitzender der Fuldaer Bischofskonferenz zwischen 1933 und 1945 zu gewinnen. Sonst hätte Hinkel seinen Ausblick auf diese Epoche (siehe S. 272-281) wohl kaum eingebaut. Vor allem aber wäre es ihm nicht darum zu tun, die „Kontinuitätsthese“ zu widerlegen, dass der Breslauer Kardinal von einer im Kaiserreich grundgelegten Staatshörigkeit durchdrungen gewesen sei, welche ihn zwangsläufig zu einem Sympathisanten des Nationalsozialismus gemacht habe. Das Herausstellen von Bertrams Positionswechsel vom überzeugten Monarchisten zum überzeugten Republikaner 1918/19 wäre überzeugender ausgefallen, wenn Hinkel das Jahr 1933 nicht als Zäsur gewählt hätte.

Des Verfassers unbestreitbares Verdienst liegt aber darin, als erster überhaupt eine Monographie über Adolf Bertram gewagt zu haben, in der er eine Fülle von Material aus elf Archiven, darunter dem Vatikanischen Geheimarchiv, unprätentiös ausbreitet und sich auf diese Weise eine solide Argumentationsgrundlage schafft. So zeigt er gründlich, aber ohne sich im Detail zu verlieren, Bertrams Aufstieg vom Mitarbeiter des Generalvikariats zum Domvikar, Domkapitular und schließlich zum Bischof seiner Heimatdiözese Hildesheim auf. Ein stärkeres Augenmerk legt Hinkel auf die Verhandlungen Bertrams hinsichtlich einer Verbesserung der Situation der katholischen Kirche im Herzogtum Braunschweig mit dem dortigen Kultusminister. Die Rolle des Hildesheimer Bischofs im Gewerkschaftsstreit wird als conditio sine qua non für die staatliche Protektion in der Breslauer Fürstbischofswahl 1914 beleuchtet. Alles in allem bleibt die Darstellung hinsichtlich der Epoche des Kaiserreichs weitgehend dem engeren biographischen Kontext der Karriere Bertrams verhaftet (siehe S. 32-104), wobei erstaunlicherweise seine gescheiterte Kandidatur für den Kölner Erzbischofsstuhl 1912 mit keinem Wort Erwähnung findet.

Einen wesentlich breiteren Zugriff wählt der Verfasser für den Zeitraum ab 1918 (siehe S. 105-281). Treffend wird hier die politische Verankerung Bertrams auf dem Boden der Zentrumspartei herausgearbeitet und gleichzeitig seine kritische Position gegenüber der Sozialdemokratie einerseits bzw. der politischen Rechten andererseits herausgestellt, wobei die Führungsrolle der katholischen Magnatenfamilien Schlesiens in DNVP und Stahlhelm nur gestreift wird (siehe S. 247).

Sehr ausführlich wird die für den Breslauer Episkopat Bertrams zentrale Oberschlesien-Frage thematisiert, in der der 1916 bzw. 1919 zum Kardinal erhobene Oberhirte vor dem Hintergrund der polnischen Aufstände und der Volksabstimmung von 1921 in der schwierigen Lage war, einerseits den Primat der seelsorgerlichen vor den nationalen Interessen zu erklären, andererseits aber als Deutscher natürlich per se unter dem Verdikt der Parteilichkeit zu stehen. Verglichen mit der dezidiert polenfreundlichen Einstellung des Apostolischen Oberkommissars für die Abstimmungsgebiete Achille Ratti, des späteren Papstes Pius XI., die zu dessen vorzeitiger Ablösung führte, bescheinigt Hinkel Bertram eine wesentlich diplomatischere Haltung. Letztlich aber hatte er keinen Einfluss auf die 1922 erfolgte Teilung Oberschlesiens und musste die Anpassung der kirchlichen an die neuen territorialen Strukturen nicht zuletzt aus pastoralen Erwägungen hinnehmen.

Umso erstaunlicher erscheint die in der Studie gut herausgearbeitete vergleichsweise starke Passivität des Kardinals hinsichtlich der in der Weimarer Republik diskutierten Konkordatsfragen. Sein Augenmerk richtete sich lediglich auf die Neuzirkumskription der Diözesen in Ostdeutschland. Dass Bertram über diese Vorschläge und seinen von wirtschaftlichen Überlegungen geleiteten Einsatz für die Erhaltung des Status quo der Zugehörigkeit nun tschechoslowakischer Gebiete zum Erzbistum Breslau bzw. preußischer Gebiete zu den tschechoslowakischen Erzbistümern Prag und Olmütz hinaus nicht in die Konkordatsverhandlungen eingebunden wurde, führt Hinkel auf die bereits von A. H. Leugers-Scherzberg und zuletzt von Hubert Wolf und Klaus Unterburger herausgestellte Diskrepanz zwischen dem Bischofskonferenzvorsitzenden und dem Berliner Nuntius Pacelli zurück (siehe S. 229f.). Auf die Frage, weshalb Bertram sich dann, zumal in seiner Rolle als Vorsitzender der Fuldaer Bischofskonferenz, auch von den Reichskonkordatsverhandlungen 1933 offenbar bewusst fernhielt – der Konflikt mit Pacelli konnte ja wohl kaum mehr ausschlaggebend sein, weil dieser mittlerweile als Nuntius abgelöst worden war –, vermag der Verfasser keine überzeugende Antwort zu geben (siehe S. 269f.).

Ohnehin auffällig erscheint, wie sehr Hinkel sich selbst hinter die Quellen und die bisherigen Ergebnissen der Bertram-Forschung zurücknimmt. Dies zeugt von einem hohen Maß an Sensibilität, mit dem er seinem Sujet begegnet. Die Kehrseite dieses behutsamen Zugriffs liegt darin, dass er es geradezu ängstlich vermeidet, die eingangs in seinem „Literaturbericht“ vornehm angedeuteten Kontroversen der Bertram-Rezeption für seine Zwecke gewinnbringend zu nutzen. So bleibt ein Potenzial an Anfragen ungenutzt, das eine treffliche Folie dargestellt hätte, um eigenständige Konturen in der Interpretation auf den ersten Blick transparenter zu gestalten.

Dies mag zunächst das Beispiel der Rekonstruktion von Bertrams Breslauer Wahl illustrieren. In der Folge analysiert Sascha Hinkel akribisch seine multiperspektivische Quellensicht, verzichtet aber bescheiden darauf, dem Leser das Neue seiner Forschungen als Novität zu „verkaufen“. Außerdem beachtet er nicht genügend, dass zwischen Ultramontanen und Staatskatholiken im Domkapitel mehr als Nuancen lagen und der Dompropst als dezidierter Staatskatholik natürlich keinerlei Interesse zeigte, die Regierung zu verärgern.

Stärker tritt die Adaption bisheriger Forschungsergebnisse zu Tage, wenn Hinkel durchgehend das „Harmoniemodell“ (siehe S. 22) als Leitlinie der bischöflichen Amtsführung Bertrams bekräftigt. Offensichtlich ist über den Kardinal schon so viel geforscht worden, dass die großen Linien seiner Persönlichkeit feststehen und lediglich bewertet werden müssen. Dabei wagt sich Hinkel allein hinsichtlich der Beurteilung von Bertrams umstrittener Kundgebung vom 28. März 1933 aus der Defensive. Bertram habe „nicht nur den Gläubigen, sondern auch dem Klerus und dem Episkopat eine innere Zerreißprobe ersparen [wollen], und er meinte, dass nach Hitlers Regierungserklärung der Augenblick für den Ausgleich gekommen sei, den er nicht ungenutzt verstreichen lassen könne“ (S. 261f.). Hier offenbart sich ein deutliches Verständnis für den Zwiespalt, in dem sich Bertram als Führungsgestalt des deutschen Katholizismus angesichts der zunehmenden politisch-gesellschaftlichen Divergenz im Deutschland der Weimarer Republik befand. Wenn der Verfasser auch konzedieren muss, dass Bertrams „Harmoniemodell“ angesichts der Herausforderungen einer totalitären Diktatur nicht mehr funktionierte, so urteilt er doch differenziert, dass Bertram „seine Loyalitätsbekundungen nicht an die staatliche Ordnung in ihrer konkret herrschenden Ausgestaltung richtete, sondern an die von Gott gewollte und legitimierte staatliche Ordnung an sich“ (S. 289).

Der Erkenntniswert dieser Teilbiographie liegt weniger darin, umstürzend Neues an das Tageslicht befördert zu haben. Vielmehr werden entscheidende Versatzstücke der Forschung geschickt aufgegriffen und mit Hilfe akribischer Archivrecherchen souverän präzisiert sowie zu einer Synthese kompiliert, die von einem konzisen Fazit abgeschlossen wird (siehe S. 282-290). Dabei ist es Hinkel eindrucksvoll gelungen, die Bedeutung der Kirchenpolitik im Episkopat Bertrams transparent zu machen. Daraus aber den Umkehrschluss zu ziehen, dass in seinem bischöflichen Wirken der Topos vom Seelsorgebischof ein Mythos sei (siehe S. 13f.), scheint zu kurz gegriffen. Um diese These zu verifizieren, müssten die seelsorgerlichen Initiativen des Kardinals berücksichtigt werden. Deren Ausklammerung schmälert allerdings den Erkenntnisgewinn keineswegs. „Sine ira et studio“ trägt Hinkels Opus magnum zu einer notwendigen, längst überfälligen Entmythologisierung des Bertram-Bildes in der Historiographie bei.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch