C. Cornelißen (Hrsg.): Geschichtswissenschaft in der Demokratie

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Titel
Geschichtswissenschaft im Geist der Demokratie. Wolfgang J. Mommsen und seine Generation


Herausgeber
Cornelißen, Christoph
Erschienen
Berlin 2010: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
364 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anne Munding, Kommission für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bayerische Akademie der Wissenschaften

In dem von Christoph Cornelißen herausgegebenen Sammelband sollen am Beispiel der Biographie des Düsseldorfer Historikers Wolfgang J. Mommsen (1930-2004) Entwicklungen und Tendenzen der westdeutschen Geschichtswissenschaft in den 1970er- und 1980er-Jahren analysiert werden. Die Aufsatzsammlung beruht im Wesentlichen auf Beiträgen von Schülerinnen und Schülern Mommsens, aber auch Kolleginnen und Kollegen kommen zu Wort.1 Ausgehend von der Frage der generationellen Prägung soll Mommsens wissenschaftliches Lebenswerk im Kontext der Werke seiner Generationsgenossen und vor dem Hintergrund der vielfältigen geschichtspolitischen Paradigmenwechsel jener Zeit beleuchtet werden. Die Leitfrage lautet, ob Mommsen ein typischer Repräsentant seiner Generation war. Um es vorwegzunehmen: Die meisten der 20 Autoren kommen zu dem durchaus überraschenden Ergebnis, dass er sowohl in den Kontroversen der Historikerzunft als auch in seiner Geschichtsschreibung eine „mittlere Position“ vertreten habe.

Mommsen, politisch sozial-liberal, methodisch der Historischen Sozialwissenschaft verbunden, beschäftigte sich mit vielen Themen; Schwerpunkte waren das Werk Max Webers, die Geschichte des Deutschen Kaiserreichs, der westliche Imperialismus und der Erste Weltkrieg. Mommsen gehörte einer Generation an, die vom Nationalsozialismus und der „Deutschen Katastrophe“ nachhaltig geprägt worden war. Aus dieser Erfahrung erwuchs nach 1945 die Sorge um die Stabilität der westdeutschen Demokratie. In den 1950er- und 1960er-Jahren akademisch sozialisiert, kamen die Vertreter dieser Generation seit Mitte der 1960er-Jahre in Amt und Würden. 1972 war die Hälfte der Ordinarien des Faches Geschichte zwischen 32 und 44 Jahre alt. Das „idealtypische Konstrukt“ des Bandes ist der von A. Dirk Moses eingeführte Begriff der „45'er-Generation“2 für die Jahrgänge 1922 bis 1932. Wie problematisch dieser Generationenbegriff ist, erweist sich an diesem Band. Abgesehen von der Tatsache, dass er die elementar unterschiedlichen Erfahrungen von Frontsoldaten, Flakhelfern und Hitlerjungen unter dem Prägungs- und Erfahrungszusammenhang Krieg subsumiert, bleibt er in hohem Maße unspezifisch, da seine Erklärungskraft nicht über das generationenprägende und generationenbildende Moment hinausgeht.

Wer unter den westdeutschen Zeithistorikern gehört der 45'er-Generation an? Christof Dipper und Christoph Cornelißen sprechen in ihren Beiträgen von jeweils 15 Historikern aus dem „rechten bzw. linken Lager“. Da der Begriff der 45’er-Generation gewissermaßen als theoretisches Rückgrat des Bandes fungiert, wäre es sinnvoll gewesen, die dreißig Namen in der Einleitung, zumindest in einer Fußnote, zu nennen. Stellvertretend seien hier nur einige Repräsentanten erwähnt: Martin Broszat (1926), Helga Grebing (1930), Andreas Hillgruber (1925), Thomas Nipperdey (1927) und Hans-Ulrich Wehler (1931).

Diese Generation war – so Cornelißen in seinem einleitenden Aufsatz – extrem politisiert und habe sich nicht gescheut, Wissenschaft und politisches Engagement miteinander zu verbinden und medial zu vertreten. Charakteristisch sei ferner die Abwendung vom Historismus und die Hinwendung zu einer methodologisch und theoretisch fundierten Geschichtswissenschaft gewesen. Die analytisch argumentierende Darstellung sollte die historische Großerzählung ersetzen. Erst mit den geschichtswissenschaftlichen und politischen Kontroversen der 1960er-Jahre habe sich dann das Gefühl einer generationellen Verbundenheit eingestellt. 1959 erschien Mommsens Werk „Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920“, 1961 Fritz Fischers „Griff nach der Weltmacht“. Fischer gab darin dem Deutschen Reich die Hauptverantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, Mommsen – damals noch keine dreißig Jahre alt – holte einen Säulenheiligen der deutschen Geistesgeschichte vom Sockel, als er feststellte, „daß Webers Lehre von der charismatischen Führerschaft […] ihren Teil dazu beigetragen hat, das deutsche Volk zur Akklamation eines Führers, und insofern auch Adolf Hitlers, innerlich willig zu machen“. Carl Schmitt nannte er einen „gelehrigen Schüler Max Webers“. Dirk Blasius, der die Rezeptionsgeschichte dieser „furiosen Dissertation“ schildert, zeigt auf, wie Schmitt die Dissertation Mommsens geschickt für seine eigene Entlastung nutzte: „Schmitt hat sich die Gelegenheit zur Selbststilisierung, die ihm Mommsens Weber-Buch verschaffte, nicht entgehen lassen.“ Hans-Ulrich Wehler behauptete in seinem Nekrolog 3, dass Mommsen Webers methodologisches und theoretisches Instrumentarium in seinem eigenen wissenschaftlichen Werk nie angewandt habe. Blasius begründet dies mit den Anfeindungen, denen Mommsen auf dem Heidelberger Soziologentag von 1964 ausgesetzt war. Auch Gangolf Hübinger konstatiert eine „auffällige Grundspannung zwischen Geschichtstheorie und Geschichtsschreibung“, erklärt dies aber nicht mit der umstrittenen Dissertation, sondern mit Mommsens prinzipieller Skepsis gegenüber dem statischen Prinzip makrotheoretischer Deutungsrahmen. Der Prüfstein sei für Mommsen immer das vorgelegte Werk und nicht das theoretische Programm gewesen. Dass er diesen Anspruch auch an sich selbst stellte, belegt sein über 500 Titel umfassendes Schriftenverzeichnis im Anhang des Bandes.

Bildete sich unter den 45'ern in den 1960er-Jahren ein Gruppenbewusstsein, so war es nur von kurzer Dauer. Die Studentenunruhen teilten die Historiker rasch in verschiedene politische Lager. Diese Lagerbildung wurde durch die unterschiedliche Bewertung des Kaiserreichs, ausgelöst durch Wehlers 1973 erschienenes Kaiserreichbuch, noch verstärkt. Die Ausrufung der Historischen Sozialwissenschaft (Wehler) und das Plädoyer für einen entmythologisierten Historismus (Nipperdey) ließen sich nur schwerlich miteinander vereinbaren. Friedrich Lenger erklärt die von der Historischen Sozialwissenschaft ausgehende Faszinationskraft mit ihrem Versprechen, die Gesamtzusammenhänge darzustellen und mithilfe einer rigorosen Vergangenheitskritik die Kontinuitäten zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus aufzuzeigen. In der öffentlichen Wahrnehmung kam es zur Trennung zwischen den methodisch progressiven Sozialhistorikern und den sowohl politisch als auch methodisch eher konservativen Militär- und Politikhistorikern. Jost Dülffer und Stig Förster zufolge waren es jedoch gerade die Vertreter der letzteren Gruppe, Forscher wie Andreas Hillgruber oder Manfred Messerschmidt, die sich schon in den 50'er Jahren dem Zweiten Weltkrieg und auch seinen verbrecherischen Dimensionen zuwandten. Sie hätten die Militärgeschichtsschreibung methodisch erweitert und modernisiert. So veröffentlichte Messerschmidt bereits 1969 – 26 Jahre vor der ersten Wehrmachtsausstellung – eine Studie über die mehr oder weniger freiwillige Indoktrination der Wehrmacht mit nationalsozialistischem Gedankengut. Während Mommsens Verhältnis zu allem Militärischen von instinktiver Abneigung geprägt gewesen sei, habe Wehler mit der Wiederentdeckung und Edition der Schriften Eckart Kehrs den Weg zu einer neuen, sozialhistorisch ausgerichteten Politik- bzw. Militärgeschichte geebnet.

Roger Chickering hebt hervor, dass die auffallende thematische Präferenz der 45’er für das Kaiserreich – bis 1960 hatten nur acht Prozent der Dissertationen das „Dritte Reich“ zum Gegenstand – zum einen mit den Interessen der Lehrer und zum anderen mit der Ausweitung der Zeitgeschichte von 1917 nach 1871 zu erklären ist. Holger Afflerbach beantwortet die Frage, ob es Mommsen gelungen sei, seinem eigenen Anspruch gerecht zu werden und die Geschichte der Außenpolitik in einen gesellschaftlichen Bezugsrahmen einzubetten, mit einem klaren Nein. Mommsen habe traditionell erzählte Diplomatiegeschichte geschrieben, der klassische außenpolitische Ablauf spiele in seinen Werken die Hauptrolle. Er sei damit seinem eigenen Anspruch, die Außenpolitikgeschichtsschreibung zu erneuern, nicht gerecht geworden. Doch sei gerade diese Nichteinlösung ein Vorzug seiner Arbeiten. Berücksichtigt man Mommsens umfangreiche Studien zur militaristischen wie imperialistischen Mentalität der deutschen Mittelschichten wie überhaupt der öffentlichen Meinung sowie die Akzentuierung struktureller Faktoren in seinen Monografien, dann hätte man auch hier zu der in diesem Sammelband so häufig vertretenen These von der „mittleren Position“ kommen können. Auch in den Liberalismusdebatten der 1970er-Jahre nahm Mommsen eine mittlere Position ein, nämlich die des „engagierten Beobachters“. Rita Aldenhoff-Hübinger präsentiert in ihrem Beitrag vier Liberalismus-Historiker der 45’er-Generation und deren konträre Bewertung des Verhältnisses der liberalen Parteien zu Imperialismus und Krieg, Modernisierung und bürgerlicher Gesellschaft sowie zu Kirche und Religion.

Ab Mitte der 1970er-Jahre widmete Mommsen den wohl größten Teil seiner Schaffenskraft der Edition der Werke Max Webers. Als Mitherausgeber edierte er elf Bände. In ihrem Beitrag rekonstruieren Edith Hanke, Gangolf Hübinger und Wolfgang Schwentker die nicht immer konfliktfreie Entstehungsphase der Max Weber-Gesamtausgabe, die auch als ein interdisziplinäres Projekt der 45’er-Generation zu sehen ist. Die Initiative ging 1972 vom Soziologen Horst Baier (1933) aus; der damalige bayerische Kultusminister Hans Maier (1931) befürwortete und förderte eine Edition; die Bände werden im Auftrag der Kommission für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben, deren Vorsitzender der Wirtschaftshistoriker Knut Borchardt (1929) ist. Geschäftsführender Herausgeber ist seit 1975 der Soziologe M. Rainer Lepsius (1928). Die Autoren betonen, dass die Edition weder die Antwort des Westens auf die Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), noch ein Zeichen für eine konservative Tendenzwende in der Bundesrepublik gewesen sei. Vielmehr hätten neben der Einsicht in die Unzulänglichkeit bisheriger Teilausgaben auch wissenschaftspolitische Erwägungen eine Rolle gespielt. 1984 erschien der von Mommsen herausgegebene Pilotband „Zur Politik im Weltkrieg“.

Von Diktatur und Krieg geprägt und zeitlebens mit den Waffen des Historikers für die Demokratie streitend, war Wolfgang J. Mommsen ein durchaus typischer Vertreter seiner Generation. In seiner Geschichtsschreibung wählte er den Mittelweg zwischen traditioneller Politikgeschichte und einer gesellschaftlichen Strukturanalyse, die sowohl wirtschafts- und sozialgeschichtliche als auch wissenschaftliche und kulturelle Prozesse in den Blick nahm. Dass er auch anderen Forschungsansätzen offen gegenüberstand, belegt dieser uneingeschränkt zu empfehlende Sammelband, der sich wegen des mitunter recht kritischen Blicks der Schüler auf ihren Lehrer von den sonstigen Blumensträußen dieses Genres abhebt. Wünschenswert wäre ein Einblick in die geschichtstheoretischen Schriften Mommsens gewesen. Da der Titel des Bandes „Geschichtswissenschaft im Geist der Demokratie“ ist, hätte der Leser auch gerne etwas über Mommsens Wirken als Vorsitzender des Deutschen Historikerverbands in den für die deutsche Demokratie wichtigen Jahren von 1988 bis 1992 erfahren.

Anmerkungen:
1 Vgl. den Tagungsbricht von Silke Fehlemann und Anna Lienau: Tagungsbericht Geschichtswissenschaft im Geist der Demokratie. Wolfgang J. Mommsen und seine Generation. Tagung zur Erinnerung an Wolfgang J. Mommsen (1930-2004). 29.10.2010-30.10.2010, Marbach, in: H-Soz-u-Kult, 28.02.2011, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3561>.
2 A. Dirk Moses, German Intellectuals and the Nazi Past, Cambridge 2007.
3 Hans-Ulrich Wehler, Wolfgang J. Mommsen 1930-2004, in: Geschichte und Gesellschaft 31 (2005), S. 135-143, hier S. 138.

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