V. Zimmermann: Eine sozialistische Freundschaft im Wandel

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Titel
Eine sozialistische Freundschaft im Wandel. Die Beziehungen zwischen der SBZ/DDR und der Tschechoslowakei (1945-1969)


Autor(en)
Zimmermann, Volker
Reihe
Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa 34
Erschienen
Anzahl Seiten
640 S.
Preis
€ 47,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Boyer, Universität Salzburg

Die Kooperation staatssozialistischer Länder hält man, in der historischen Realität und als Forschungsgegenstand, gemeinhin für eine dröge Angelegenheit: Funktionäre 1, geheimdienstlich strikt überwachte Delegationsreisen und die Propagandaphrasen von „Internationalismus“, „brüderlicher Zusammenarbeit“ usw. Zwar besteht allzeit der Verdacht auf ein Fortleben nationaler Stereotypen und Interessen unter dem Deckmantel des „Bündnisses gegen den Klassenfeind“, aber im Einzelnen weiß man es nicht so genau. Die Beziehungen zwischen Staatssozialismen unterscheiden sich, so heißt es, kategorial von den vielfältigen selbstorganisierten Kontakten zwischen den Völkern „links vom Eisernen Vorhang“. Volker Zimmermanns akribische, mit einer stupenden Fülle von Materialien aus deutschen und tschechischen Archiven unterfütterte, zudem theoretisch ausgezeichnet informierte Studie rückt diese Vorurteile zurecht – und sorgt hierbei für manche Überraschung: Auch die Beziehungen zwischen sozialistischen Staaten sind breit angelegt und finden auf mehreren Ebenen statt. Die Hypotheken der vorsozialistischen Vergangenheit und die Wirkmacht tief eingefressener Stereotypen lassen sich präzise benennen.

Zimmermanns Blickwinkel reicht vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Beginn der „Normalisierung“ im Jahr 1969. Diese Endzäsur stellt nicht die – außenpolitische – Bedeutung des Prager Frühlings in Abrede, sie vermeidet jedoch die Fixierung auf das magische „1968“ (und die Einsortierung der fünfziger und sechziger Jahre als dessen bloße Vorgeschichte). Die Untersuchung berücksichtigt, streng symmetrisch, die Blickwinkel beider Länder. Die bilaterale Konstellation ist in ein komplexeres Beziehungsfeld eingebettet, in dem, neben der Sowjetunion und anderen kleinen Staatssozialismen, hier insbesondere Polen, auch der Bundesrepublik maßgebliche Bedeutung zukommt.

Im Langzeitverlauf und im Durchgang durch wohlunterschiedene Entwicklungsphasen wandeln sich die Beziehungen markant. Bereits in der Phase der „vorsichtigen Annäherung“ vom Ende des Krieges bis 1948/49 (Februarputsch in Prag bzw. Gründung der DDR) werden die „Allgemeinen Geschäftsbedingungen“ formuliert: Die ostdeutsche Seite verspricht sich die Stabilisierung der Wirtschaft sowie gute Dienste gegen den westdeutschen Klassenfeind und die internationale Aufwertung des – auch moralisch – zunächst fragilen Gebildes „DDR“; dieser dient die antifaschistische Propaganda gemeinsam mit der Tschechoslowakei und Polen als den ersten Opfern der nationalsozialistischen Expansion. Erste Sorge der Tschechoslowakei sind die „revanchistischen“ Machenschaften der Vertriebenen und die Klarstellung der Ungültigkeit von „München 1938“. Gegen die Stimmung der Bevölkerung kommt die DDR in der Behandlung „ihrer“ Vertriebenen der ČSR entgegen; auch nimmt das SED-Regime davon Abstand, die in der Tschechoslowakei verbliebene deutsche Minderheit und die Eigentumsforderungen der sudetendeutschen Antifaschisten zu unterstützen.

Auf dieser Grundlage konsolidiert sich bis Mitte der fünfziger Jahre die Zusammenarbeit zwischen den Staatsparteien, den gesellschaftlichen Organisationen und einer Vielzahl weiterer Institutionen; weitgehend parallele Strukturen erleichtern die Formalisierung und Durchplanung der Kontakte. Auch die kulturpolitischen Vereinbarungen, die der jeweils anderen Seite neben den Kulturprodukten des Sozialismus auch die eigene „nationale Klassik“ vermitteln sollen, involvieren in erster Linie Funktionäre, linientreue Künstler und Angehörige der Massenorganisationen. „Freundschaft“ wird funktional verstanden; in erster Linie besteht sie in Delegations-Geschäftigkeit, die an der Masse der Bevölkerung vorbeigeht – und die alten Feindbilder „vom Deutschen“ und „vom Tschechen“ nicht aufweichen kann. Bis etwa Mitte der sechziger Jahre erweitern sich dann allerdings die Kontakte auf sämtlichen Ebenen und in allen Bereichen in erheblichem Umfang. Nun folgen den Freundschaftsphrasen Taten für den Normalbürger; dieser drängt insbesondere auf mehr Freizügigkeit im Reiseverkehr. Die hier gerufenen Geister werden die Parteiregime im Vorfeld des Prager Frühlings nicht mehr los. Zwar wird das Korsett der „Freundschaft nach Plan“ (S. 583) nie ganz gesprengt; die vielfältigen und intensiven Verflechtungen jenseits und unterhalb der offiziellen Sphäre drohen nun aber aus dem Ruder zu laufen. Die Apparate reagieren hilflos – und lassen letztlich zu, was jenseits der „Grenzen der Diktatur“ liegt und nicht mehr zu kontrollieren ist.

Ausgerechnet die mustergültige Freundschaft wird, im Vorfeld der tschechoslowakischen Reformen, zum Einfallstor für „negative“ Einflüsse und zur Ursache neuer Spannungen: Das ist wahre Dialektik. Die Reform-Kritik des hinter dem SED-Funktionär hervorlugenden deutschen Oberlehrers verursacht sogar auf Seiten der konservativen Kräfte massive Antipathien. Zudem steigt nun in der tschechoslowakischen Medien-Intelligenz, aber auch auf der mittleren Führungsebene der KPTsch, das Interesse an der Bundesrepublik; im Zeichen der neuen Bonner Ostpolitik und mit den ins Land strömenden westdeutschen Touristen schwindet die Furcht vor dem westdeutschen „Revanchismus“ – und das Interesse an der DDR als Gegengewicht zu diesem. Im August 1968 steht der SED-Staat dann bekanntlich auf der „richtigen“ Seite; durch massive innenpolitische Einmischung wird er bald darauf zum Geburtshelfer der „Normalisierung“. Die zerrütteten Beziehungen werden unter den neuen Vorzeichen mühsam reaktiviert und in „geordnete“ Bahnen zurückgelenkt. Unter dem Betondeckel dauern die persönlichen Freundschaften allerdings fort; ihre langfristige, über 1989 weit hinausreichende Wirkung sollte nicht unterschätzt werden.

Im Untersuchungszeitraum wandelt die DDR sich vom Kriegsverlierer zur tonangebenden Kraft im Ostblock. Die Tschechoslowakei hingegen verliert an Einfluss; Ende der sechziger Jahre findet sie sich als besetzter Staat mit minimalem außenpolitischem Spielraum wieder. Es ist also doch eine ziemlich komplizierte Angelegenheit mit den außenpolitischen Spielräumen der Satellitenstaaten, die in simplen Sowjetisierungstheorien gerne auf null gesetzt werden: Dies demonstriert Zimmermann überzeugend. Sein Plädoyer, der Erforschung transnationaler Beziehungen im Staatssozialismus wesentlich mehr Aufmerksamkeit zu widmen als bisher, gewinnt vor dem Hintergrund dieser hervorragenden Studie Gewicht und Plausibilität.

Anmerkung
1 Immer mit grauen Hüten!

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