Adliges Leben am Ausgang des Ancien Régime

Gräf, Holger Th.; Haunert, Lena; Kampmann, Christoph (Hrsg.): Adliges Leben am Ausgang des Ancien Régime. Die Tagebuchaufzeichnungen (1754-1798) des Georg Ernst von und zu Gilsa. Marburg 2010 : Hessisches Landesamt für geschichtliche Landeskunde, ISBN 978-3-921254-83-7 578 S. € 39,00

Gräf, Holger Th.; Haunert, Lena; Kampmann, Christoph (Hrsg.): Krieg in Amerika und Aufklärung in Hessen. Die Privatbriefe (1772-1784) an Georg Ernst von und zu Gilsa. Marburg 2010 : Hessisches Landesamt für geschichtliche Landeskunde, ISBN 978-3-921254-82-0 488 S. € 37,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heiko Droste, Institutionen för genus, kultur och historia, Södertörns Högskola

Allen Trends und Turns der vergangenen Jahrzehnte zum Trotz gibt es historische Quellen, die das Herz jedes Historikers und jeder Historikerin höher schlagen lassen. Dazu gehören alle privaten Aufzeichnungen historischer Subjekte, wie zweifelhaft der private Charakter dieser Aufzeichnungen im Einzelfall auch sein mag. Sie vermitteln das Gefühl einer Zeitreise in vergangene Epochen, unmittelbar und authentisch. Dass die Analyse dieser Zeitzeugnisse alles andere als einfach ist, weil sie in aller Regel eben doch keinen unmittelbaren Zugang bieten, macht sie eher noch interessanter.

Die Tagebücher und Briefe von Georg Ernst von und zu Gilsa aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sind ein solches Quellenmaterial. Gilsa gehörte zum hessischen Landadel, war weder besonders vermögend noch einflussreich und ist vermutlich gerade daher so spannend. Er kann für eine Art Normalität stehen, den Alltag eines hessischen Adligen mit all seinen Problemen und Sorgen – und das sind viele. Die übliche Karriere in Militärdiensten endete früh mit einer schweren Verletzung, so dass Gilsa nach einem mehrjährigen Studium in Herborn und Marburg in der Militärverwaltung unterkam, wo er schließlich Kriegsrat wurde. Insbesondere die Briefe zeigen freilich, dass praktisch der gesamte Freundeskreis wie auch der Bruder in aktiven Militärdiensten stand, dem Zentrum der Lebenswelt hessischer Adliger.

Hier setzte auch Gilsas Leben sowie seine Tagebuchaufzeichnungen ein. Er tritt mit dem 14. Lebensjahr in hessische Militärdienste. Diese bestimmten sein Leben über sieben Jahre (und die ersten 168 Seiten der Edition) bis zu seiner Verwundung und dem nachfolgenden Beginn seiner Studienjahre. Gilsa heiratete anschließend standesgemäß, wobei die Ehefrau bereits im Folgejahr im Kindbett starb. Einige Jahre später starben auch die einzige Tochter, eine Schwester, zahlreiche Freunde, dann der einzige Bruder. Gilsa selbst war langfristig lebensbedrohlich erkrankt – seine Tagebuchaufzeichnungen weisen dabei eindrücklich auf den (man möchte sagen: archaischen) Kenntnisstand der zeitgenössischen Medizin hin, die noch immer auf Blutegel, Aderlass und andere Kuren vertraute. Bei der Lektüre seiner Aufzeichnungen über diese zahlreichen Todesfälle und seine eigene Erkrankung – im Angesicht des Todes – glaubt man Gilsa am nächsten zu kommen. Der Tod ist hier auf eine Weise gegenwärtig, die nicht länger unserer Erfahrung entspricht.

Es gibt noch zahlreiche andere Themen, von denen das wichtigste sicher der Krieg in Amerika ist. In diesen war das hessische Militär auf englischer Seite involviert; er ist auch das zentrale Thema der Briefedition. Daneben beschreibt Gilsa literarische Interessen, seine Mitgliedschaft in der Freimaurerloge, den hessischen Landtag, seine Aufgaben in der Standesrepräsentation und anderes mehr.

Die Tagebücher zeigen einen aufgeschlossenen und vielseitig interessierten Adligen, der sehr viel über Freundschaften, soziale Beziehungen und nicht zuletzt die Familie nachdachte und berichtete. Sie zeigen ihn freilich auch als einen Adligen, dessen Lebenswelt noch ungebrochen feudal war – trotz der eigenen, keineswegs glänzenden Karriere, die für ihn erhebliche finanzielle Schwierigkeiten mit sich brachte. Über lange Strecken entsteht der Eindruck, dass sich für Gilsa und seine Standesgenossen seit dem Dreißigjährigen Krieg nichts wesentlich verändert hatte.

Leseerwartungen bezüglich einer stärker gefühlsbetonten Rhetorik oder emphatischer Beschreibungen von Freundschaft und Patriotismus werden anfangs kaum erfüllt. Gerade zu Beginn des Tagebuchs ist Gilsa selten in der Lage, seine Gefühle auch auf eine für ihn überzeugende Art auszudrücken. So merkte Gilsa beim Tod seiner Frau an, dass ihm alle Worte fehlen, um seine Gefühlslage zu beschreiben; er fügte statt dessen ein Gedicht ein, dass Freunde verfasst hatten (S. 184-188). Spätere Todesfälle (insbesondere seiner Tochter) veranlassen ausführlichere Gefühlserkundungen (S. 201-202). Zu besonderen Ereignissen wie Jahreswechseln dachte Gilsa auch recht eingehend über seine eigene Sündhaftigkeit nach (S. 230-231). Gilsa war offenbar ein aufrichtig gläubiger Christ, für den Gottes Vorsehung alltägliche Erfahrung war und der auch naturwissenschaftliche Entdeckungen in dieses religiöse Weltbild einzufügen suchte, etwa in Form einer Astrotheologie (S. 207). So ist es ihm offensichtlich eine beruhigende Erfahrung, dass das Wetter zu Karfreitag immer schlechter als an den Ostertagen war: „Nein, aber der Gedancke stößet mir doch dabei auf, daß die Natur dadurch ihr Erstaunen, Verehrung und Anbetung über die göttliche That auf Golgatha zu erkennen geben will“ (S. 219).

Die Tagebücher sind somit ausgesprochen reich an Eindrücken, wobei die ersten Jahre im Militärdienst ebenso wie die Briefe aus Amerika den Kriegsdienst als alltäglichen Lebensunterhalt zeigen, trotz nicht unerheblicher persönlicher Risiken; Gilsa verlor einen Arm und war seit seinem 21. Lebensjahr Invalide. Dieser Militärdienst mit seinen Entbehrungen, Niederlagen und Siegen wird ausführlich in den Briefen thematisiert. Gilsa versuchte per Brief den Kontakt zu seinen Freunden und Standesgenossen aufrecht zu halten, was offenkundig relativ gut funktionierte. Er erhielt viele detaillierte Beschreibungen von Kriegszügen, Eindrücken über New York wie die dortige Natur sowie Nachrichten über gemeinsame Freunde. Beschrieben wird in den Briefen an Gilsa auch ein Kontinent, von dem nur Bruchteile überhaupt bekannt waren. Das sind spannende Einsichten und lebendige Beschreibungen.

Tagebücher und Briefe zusammen ergeben gleichwohl kein ganzes Leben. Manche Information, die Gilsa wie die Briefschreiber aus verschiedenen Gründen für wesentlich hielten, etwa lange Aufstellungen von Regimentern, Toten und dergleichen, werden dem Leser wenig bieten, während Informationen zum täglichen Leben eines Witwers selten vorkommen. Gilsa hat seine Tagebücher auch benutzt, um für ihn wichtige Themen in gebündelter Form festzuhalten. Er schrieb nicht täglich und fasste Eindrücke zusammen, resümierte und bewertete.

Die Herausgebenden haben ihre Edition minimal kommentiert. Die Einleitungen zu beiden Büchern sind teilweise identisch und kurz gehalten, der Anmerkungsapparat beschränkt sich auf die Erklärung komplizierter Begrifflichkeiten sowie auf Angaben zu Orten und Personen. Nur gelegentlich finden sich Verweise auf Sekundärliteratur. Diese Entscheidung ist an sich überzeugend, zumal Editionen, die ihren Gegenstand zu Ende analysieren, immer die Frage aufwerfen, warum man den edierten Text noch selbst lesen sollte. Andererseits lässt die vorliegende Edition doch einige Hintergrundinformationen vermissen. Ohne eine sehr gute historische Karte sind viele der Orte kaum zu identifizieren. Das ist vor allem bei Reisebeschreibungen bzw. Militärzügen ein Problem, die kaum nachzuvollziehen sind. Wiederholt wird zeitgenössische Literatur erwähnt, die nur der Spezialist ohne weitere Erklärungen einordnen kann – auch hierzu gibt es von den Herausgebenden keine Erklärungen. Das gilt in gleicher Weise für Beschreibungen von Landtagen wie die Standesorganisation des hessischen Adels. Das verringert den Wert der Edition insofern, als viele Informationen vor allem den Eingeweihten vorbehalten bleiben.

Eine Anmerkung zur Titelaufnahme: Neben drei Herausgebenden wird auf die Mitarbeit von Patrick Sturm verwiesen. Er wird im Vorwort nicht eigens erwähnt, so dass der Verdacht entsteht, dass sich die ausgewiesene „Mitarbeit“ vor allem durch einen Standesunterschied Sturms zu den Herausgebenden erklärt. Die Arbeit aller Beteiligten ist trotz der recht sparsamen Editionsleistung sehr hoch zu veranschlagen. Die Briefe wie Tagebücher sind eine spannende Quelle, die hoffentlich viele Leser finden werden und die gut für Unterrichtszwecke zu gebrauchen sind.

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