I. Gerasimov: Modernism and Public Reform

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Titel
Modernism and Public Reform in Late Imperial Russia. Rural Professionals and Self-Organization, 1905-30


Autor(en)
Gerasimov, Ilya
Erschienen
Basingstoke 2009: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
x, 325 S.
Preis
€ 69,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
David Feest, Seminar für mittlere und neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Die „sedimentäre Gesellschaft“ des russischen Imperiums in eine moderne Nation emanzipierter Subjekte zu verwandeln – das lässt sich als eines der zentralen Projekte der russischen Intelligenzija im ausgehenden 19. Jahrhundert bezeichnen. Freilich war dabei ihr Idealismus nicht selten größer als ihre Kenntnisse der Lebenswelten der Objekte dieser Bestrebungen: der ländlichen Bevölkerung. In der Geschichtsschreibung ist daher mitunter behauptet worden, zwischen dieser und der gebildeten Oberschicht habe es keinerlei Verständigung geben können. Ilya V. Gerasimov setzt zu dieser Meinung nun mit einer Monographie über die landwirtschaftlichen Fachleute in Russland ein Gegengewicht. Denn eben den Agrarexperten sei es gelungen, das Integrationsprojekt weit voranzutreiben, bevor sie von der Oktoberrevolution teils aufgesogen, teils überrollt wurden. Ende der 1930er-Jahre waren die wichtigsten Protagonisten dieser „neuen sozialen Klasse“ zum Großteil tot – hingerichtet als angebliche Regimegegner. In den Jahren von der erfolglosen Revolution von 1905 bis zur Oktoberrevolution 1917 aber waren sie, so Gerasimov, maßgeblich für die Formulierung und Umsetzung eines Modernisierungsprogramms in den russischen Dörfern verantwortlich gewesen, das über idealistische Programme und Absichtserklärungen weit hinausgegangen war.

Seine Breitenwirkung bezog das Handeln dieser Gruppierung aus einem grundsätzlichen Umdenken in Teilen der Intelligenzija. Populistische, anti-etatistische Konzepte erhielten durch den Einfluss progressivistischer und pragmatistischer Ideen (nicht zuletzt aus den Vereinigten Staaten) zunehmend eine neue Richtung. Nicht die (politische) Befreiung, so Gerasimov in einer pointierten Formel, sollte die Modernisierung der Bauern ermöglichen, sondern die (landwirtschaftliche) Modernisierung sollte ihnen zu ihrer wirklichen Befreiung verhelfen. Der revolutionäre Elan war einer „Politik der kleinen Schritte“ gewichen, die auch als „apolitische Politik“ bezeichnet wurde: Wer den Bauern helfen wollte, musste sich dem neuen Verständnis nach erst einmal gründlich mit Landwirtschaft beschäftigen.

Träger dieses neuen Selbstverständnisses war eine neue Generation, und Gerasimov legt einiges Gewicht auf diese Analysekategorie. Während die Bedeutung der Agrarausbildung nach der Hungersnot von 1891 grundsätzlich gewachsen war, änderte sich nach 1905 auch die Zusammensetzung der Auszubildenden. Der Anteil des Adels nahm zugunsten von Bauern und Stadtbewohnern aus niedrigeren Schichten ab. Damit verringerte sich auch die Anzahl jener, welche die erworbenen Kenntnisse in erster Linie auf dem eigenen Gutshof anwenden wollten. Nach 1905 arbeitete eine Mehrheit der Absolventen des 1861 gegründeten Moskauer Landwirtschaftsinstituts (Petrowka) als Agrarspezialisten und verfolgte eine professionelle Karriere in diesem Bereich. Für die Absolventen von 1910 kann endgültig behauptet werden, dass sie eine neue Generation repräsentierten, welche sich nicht mehr über ihre soziale Herkunft definierte, sondern über ein professionelles Ethos und eine „public agenda“, die sich während des Studiums herausgebildet hatte. Diesem Jahrgang gehörte auch Alexandr Wassiljewitsch Tschajanow an, der als Begründer der Organisations-Produktionsschule zu einem der einflussreichsten Agrarwissenschaftler des Landes werden sollte.

Die Vorstellung, nicht die Gesetze und Institutionen sondern die bäuerliche Mentalität müsse beeinflusst und geändert werden, um hemmende Produktionsformen wie die Dreifelderwirtschaft zu überwinden, war Allgemeingut der Progressivisten nicht nur in Russland, und Gerasimov macht immer wieder den transnationalen Zusammenhang dieser Bewegung deutlich. Ein wichtiges Vorbild kam aus Italien, wo mobile Beratungsbüros die Landbevölkerung mit neuen Techniken der Landwirtschaft bekannt machten. Von einem ähnlichen Prinzip geleitet wurde auch in Russland kurz nach der Revolution von 1905 auf Basis der existierenden Selbstverwaltungen ein Netz von Bezirksagronomen geschaffen, die ihren Einfluss sukzessive über die benachbarten Dörfer ausbreiten sollten. Bald galten diese Agronomen als synonym für einen neuen Idealtypen der Intelligenzija, für einen progressiven Repräsentanten einer neuen Art von Öffentlichkeit oder Gemeinschaft. Letztere ist ein Kernanliegen des Buches, und Gerasimov betont ihre Besonderheit, indem er durchweg den russischen Begriff verwendet: „obschtschestwennost“.

Auch wenn die Beschäftigung mit diesem Phänomen an sich nichts Neues darstellt, ist die hier geleistete Darstellung seiner Genese erhellend. Im Gegensatz zu Konzepten der Zivilgesellschaft, die letztlich die Existenz öffentlicher Vereine und formaler Institutionen zum Maßstab der gesellschaftlichen Entwicklung machen, konstituiert sich die „obschtschestwennost“ im Wortgebrauch Gerasimovs dadurch, dass sich eine große Anzahl gebildeter Russen als Teil einer solchen Gemeinschaft fühlte und sich als deren Mitglieder beschrieb. „Obschtschestwennost“ war damit auch zunächst ein pan-imperiales Phänomen, da es – vom progressivistischen Diskurs der Modernisierung durch Selbstorganisation und Selbstverbesserung geprägt – universalistischen Werten verpflichtet war. Allein schon aus pragmatischen Gründen wurde die „obschtschestwennost“ auch in ethnisch-nationalen Gemeinschaften verortet. In nichtrussischen Gegenden, wo die russischen Agrarexperten Sprachbarrieren zu überwinden hatten, waren sie besonders auf örtliche Hilfe angewiesen und verbanden nicht selten den modernistischen Anspruch mit örtlichen Traditionen. Jene Baschkiren etwa, die „moderne Bauern“ wurden, wurden dies nicht als abstrakte „neue ökonomische Menschen“ oder „Bürger“, sondern als „Baschkiren/Turko-Muslime“. Der Erste Weltkrieg führte dagegen in den russischsprachigen Gebieten zu einer gewissen Patriotisierung des vormals internationalen Projekts der Modernisierung des russischen Dorfes.

Der Weltkrieg bewirkte auch eine Annäherung der staatlichen Bürokratie an die „obschtschestwennost“, als der Semstwo- und der Städtebund bei der Organisation der Kriegsbemühungen so unerlässlich waren wie die Agrarexperten in den Beschaffungsorganisationen. Doch begann die Zusammenarbeit des Staates mit den neuen gesellschaftlichen Kräften bereits früher, wie Gerasimov an einigen Beispielen überzeugend zeigt. Während die Veterinäre weiterhin als politisch unzuverlässig geltende Gruppe staatlichem Druck ausgesetzt waren, fand auch in den mit landwirtschaftlichen Fragen befassten Einrichtungen – besonders der Landwirtschaftsabteilung der Staatsverwaltung für Siedlung und Landwirtschaft (das spätere Landwirtschaftsministerium) – eine Entwicklung in Richtung einer rein professionellen Agenda statt. Ökonomische Rationalität fing auch hier an, eine größere Rolle zu spielen, und staatliche Einrichtungen begannen auf ihre Weise, das Vorgehen der nichtstaatlichen Agrarfachleute nachzuahmen.

Noch wichtiger aber war, dass es erstmals gelang, auch die Bauern zu erreichen. Zwar grenzt sich Gerasimov von Historikern ab, die, wie er selbst es ausdrückt, in den negativen zeitgenössischen Einschätzungen der bäuerlichen Entwicklungsperspektiven nur „skrupellose diskursive Projektionen manipulativer Literaten“ sehen. Doch möchte er auch den Pessimisten nicht das Wort reden. Sein eigener Ausweg aus diesem Dilemma ist so einfach wie überzeugend: Die Bauernschaft sowie ihr Grad an Integration in eine größere Gesellschaft sei, so argumentiert er an mehreren Stellen, alles andere als einheitlich gewesen. Auch habe sich nach 1905 nicht nur unter den Bürokraten und in der Intelligenzija, sondern ebenso unter den Bauern eine neue Generation herausgebildet. Mit vielfältigen Quellen gelingt es Gerasimov überzeugend zu belegen, dass zumindest Teile der Bauernschaft auf die Initiative der gebildeten Elite nun in einer Art reagierten, welche die Interaktion zu einem Dialog, nicht aber zu einem „diskursiven Diktat“ der Modernisierer über die „objektivierte Klasse“ machte (S. 104). Das dramatische Anwachsen an Bildungschancen für Bauernmädchen und die ständig steigende Bedeutung von Genossenschaften nach 1905 sind Ausweis für einen Mentalitätswandel innerhalb der Bauernschaft.

Die Februarrevolution betrachtet Gerasimov als Sieg der neuen Werte, ihr Diskurs sei vom Konzept der „obschtschestwennost“ als Gemeinschaft einer selbstreflexiven progressiven Öffentlichkeit geprägt gewesen. Doch warum glückte es der progressiven Öffentlichkeit nicht, nach der Revolution das so hoffnungsvoll begonnene Integrationsprojekt fortzusetzen? In gewisser Weise ging sie an ihrem eigenen Erfolg zugrunde. Solange die Agrarexperten in kleinen Schritten die Annäherung an die Landbevölkerung betrieben hatten und als Vermittler zwischen deren Lebenswelten und den größeren gedachten Gemeinschaften aufgetreten waren, konnten sie Erfolge verzeichnen. Doch hatte ein solcher apolitischer Professionalismus für Populisten unter den Agrarexperten nie einen Eigenwert besessen. Anstelle von „kleinen Schritten“ strebten sie einen „großen Sprung“ an. Die politische Konjunktur begünstigte solche Vorstellungen. Bereits für die Zeit unmittelbar vor 1917 attestiert Gerasimov den Agrarexperten eine „ideologische Regression“ in die „großen Narrative der Intelligenzija“, die eine allgemeine Mobilisierung der Nation anstrebten. Geleitet von der Illusion, bereits den allgemeinen nationalen Konsens zu verkörpern, war die „obschtschestwennost“ nach der Februarrevolution zunehmend blind gegenüber abweichenden Interessen anderer Bevölkerungsgruppen – besonders der Bauern, die an Aushebungen, Beschaffungskampagnen und Steuern schwer zu tragen hatten, ohne dass sich ihnen aus der neuen Situation unmittelbare Vorteile ergaben. Die Agrarmodernisierer wurden von der Landbevölkerung immer mehr als Fremde wahrgenommen und der begonnene Dialog brach ab.

Der bolschewistische Umsturz bedeutete ein endgültiges Ende der schrittweisen Integrationspolitik. Ihre „Mobilisierung“ zielte nicht auf eine feste soziale Basis und deren Integration, sondern diente vielmehr dem Ziel, Stützen für das neue Regime aus den desintegrierten sozialen Milieus zu ziehen. Auf die Agrarexperten konnten freilich auch die Bolschewisten nicht verzichten, und stießen bei ihren Versuchen, sie in ihr System einzubinden, keinesfalls nur auf Ablehnung. Nicht nur waren auch überzeugte Antibolschewisten nach Jahren des Krieges bereit, jedes Regime zu akzeptieren, das Frieden und ökonomische Stabilität zu schaffen versprach. Die Anpassung konnte sich für sie auch lohnen. Tschajanow etwa wurde zu einem ranghohen Mitarbeiter des Volkskommissariats für Landwirtschaft und gründete ein Institut für Agrarökonomie, das er 1922-1928 leitete. Doch hörten die landwirtschaftlichen Fachleute aufgrund ihrer zunehmenden staatlichen Vereinnahmung auf, als Berufsgemeinschaft zu existieren, sie bildeten allenfalls noch eine Alterskohorte, deren soziale Bindungen Krieg und Revolution nicht überdauert hatten. Auch waren sie zum Ende der 1920er-Jahre der Konkurrenz einer neuen Generation von Agrarexperten ausgesetzt, deren Forderungen nach schnellerer Aufwärtsmobilität im Zuge der Kulturrevolution der späten 1920er-Jahre bald explosiv wurden. In den 1930er-Jahren kam es zu Verhaftungen unter dem Vorwurf, die Gründung einer eigenen Bauernpartei geplant zu haben – der Terror griff auch auf die landwirtschaftlichen Fachleute über. Tschajanow wurde im Jahr 1939 erschossen.

Gerasimovs Studie vereint die gründliche Analyse eines breiten Quellenkorpus – er reicht von agrarjournalistischen Artikeln über statistische Angaben bis hin zu autobiographischem Material – mit pointierten Interpretationen und klaren Thesen. Im Zuge seiner stringenten Darstellung gelingt es dem Autor zudem, zu einer Reihe von Grundsatzfragen der ökonomischen Entwicklungsperspektiven und politischen Kultur Russlands Position zu beziehen. Ihm ist ein wichtiges Buch gelungen, in dem das Wechselverhältnis zwischen Modernisierern und Bauern im ausgehenden Zarenreich nicht als gleichförmiger und determinierter Vorgang gezeigt wird, sondern als komplexer Prozess, in dem noch 1917 viele Wege offen waren.

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