T. Heinzelmann u.a. (Hrsg.): Buchkultur im Nahen Osten

Cover
Titel
Buchkultur im Nahen Osten des 17. und 18. Jahrhunderts.


Herausgeber
Heinzelmann, Tobias; Sievert, Henning
Reihe
Welten des Islams 3
Erschienen
Anzahl Seiten
266 S.
Preis
€ 47,60
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Boris Liebrenz, Orientalisches Institut, Universität Leipzig

Handschriften – solche waren Bücher in Untersuchungszeitraum und -region des vorliegenden Bandes in der Regel – bilden von jeher einen Grundpfeiler orientalistischer Forschung. Dabei galt das Interesse vor allem zwei Themenkomplexen: kunstgeschichtlichen und produktionstechnischen Fragen auf der einen, den in den Büchern überlieferten Texten auf der anderen Seite. Dass die Handschriften selbst aber nicht nur Träger dieser Texte, sondern gleichzeitig Zeugnisse ihrer eigenen Geschichte und Wirkungsgeschichte sind, hat erst in jüngster Zeit verstärkt Beachtung erfahren.

Der vorliegende Band möchte Bücher als „Teil der materiellen Kultur“ (S. 10) sehen, ohne diese aber losgelöst von der kulturellen Produktion zu betrachten. Daraus entwickeln die Herausgeber in ihrer Einleitung das programmatische und – wie vorwegnehmend gesagt werden kann: gelungene – Paradigma einer „Buchkultur“. Die Wahl des Untersuchungszeitraums – die in der Orientalistik lange als Phase des Niedergangs und intellektuellen Stillstands zwischen spätantik-mittelalterlicher „Klassik“ und moderner „Renaissance“ geschmähte Frühe Neuzeit – sollte nach den Forschungen der letzten Jahre hoffentlich bald keiner Rechtfertigung mehr bedürfen. Heinzelmann und Sievert tun dies trotzdem noch einmal überzeugend (S. 12–13). Nach der Einleitung folgt eine Sammlung von fünf durchweg interessanten und qualitativ hochwertigen Artikeln, welche geographisch und thematisch ein sehr breites Feld abdecken.

Stefan Reichmuth (Mündlicher und literarischer Wissenstransfer in Ägypten im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert) spürt den Wegen europäischen naturwissenschaftlichen Wissens in die arabische Welt auf zweierlei Bahnen nach. Zuerst möchte er zeigen, dass dieses Wissen durchaus in einer „vorwiegend mündlichen, ‚diffusen‘ Rezeption“ (S. 30), das heißt ohne literarische Spuren gewandert sein kann. Er kann dies an einigen zufällig auf uns gekommenen Notizen von arabischen Chronisten und westlichen Reisenden erhärten, welche ihren gegenseitigen Austausch anscheinend nur zu oft verschwiegen. Danach widmet sich Reichmuth einer literarischen Transmission in Form von Übersetzungen, genauer der „Philosophical Grammar“ Benjamin Martins über den Umweg des Griechischen ins Arabische im christlichen Milieu der ägyptischen Hafenstadt Damiette. Noch genauer handelt es sich um den zu diesem Werk gehörigen Tafelband. Der Übersetzer/Kopist ist wohlbekannt (der Aufzählung von ihm übersetzter und kopierter Texte in Grafs „Geschichte der christlichen arabischen Literatur“ lässt sich noch eine Geschichte Chinas hinzufügen, Ms. Princeton Yahuda 2326). Er und der Auftraggeber des Werkes – beide aus Palästina stammend – werden als frühe christliche Akteure einer arabischen Renaissance vorgestellt. Allerdings wird man sich fragen dürfen, warum in einem Band über die Buchkultur die verschiedenen überlieferten Handschriften des zum Tafelwerk gehörenden übersetzten Textes oder die handschriftliche Produktion des Übersetzers generell keine Behandlung erfahren.

Ralf Elger (Die Reisen eines Reiseberichts – Ibn Battûtas Rihla im Vorderen Orient des 17. und 18. Jahrhunderts) untersucht, wie ein bekannter Text in mehreren und teilweise anonymen Stufen durch Kürzungen und Umstellungen bearbeitet und verändert werden konnte. Solch ein „offener Text“ (S. 57), wohl charakteristisch für ein vorwiegend orales Milieu seiner Rezeption, wirft die Frage nach der Rolle und dem Recht des Autors in der frühneuzeitlichen Literaturgeschichte auf. Um den Motiven des in den Text eingreifenden Kopisten nachzuspüren, listet Elger minutiös die Abweichungen der von ihm behandelten Versionen auf. Ob wir es hier mit einer literarischen Tendenz der Epoche zu tun haben, will aber auch er beim derzeitigen Stand der Forschung noch nicht entscheiden.

Tobias Heinzelmann (Anfänge einer türkischen Philologie? Bursali Ismâ'îl Hakki kopiert und kommentiert Yazicioglu Mehmeds Muhammedîye) untersucht den philologischen Kommentar zu einem äußerst populären religiösen Werk des 15. Jahrhunderts. Das Besondere liegt hier darin, dass sowohl das kommentierte Werk wie auch der Kommentar auf Türkisch abgefasst sind und damit dieser „Volkssprache“ einen höheren Stellenwert einzuräumen und die intellektuelle Beschäftigung mit ihr, mithin einer Philologie, wissenschaftlich zu legitimieren scheinen. Dabei meint Heinzelmann mit Philologie offenbar eine sehr rudimentäre Textkritik, welche sich hauptsächlich in der Kommentierung einiger lexikalischer Schwierigkeiten des im alten Dialekt abgefassten Textes erschöpft, ohne dabei jedoch systematisch vorzugehen. Wie so oft erlauben der Stand der Forschung, die Unkenntnis über etwaige Vorgänger oder Nachfolger und die Rezeption des Textes auch hier keine literaturgeschichtliche Einordnung. Die Philologie der türkischen Sprache wurde sicher nicht mit diesem Kommentar geschaffen, aber eine frühe Problematisierung, die – ähnlich der Entwicklung in der klassischen Philologie oder Germanistik vor dem 19. Jahrhundert – später zu einer kritischen Wissenschaft zumindest hätte führen können, lässt sich immerhin erkennen.

Florian Schwarz (Writing in the margins of empires – The Husaynâbâdî family of scholiasts in the Ottoman-Safawid borderlands) untersucht Texte und Handschriften, die im kurdischen Grenzgebiet der heutigen Türkei, Irak und Iran im Umfeld einer über mehrere Generationen äußerst aktiven Familie von Gelehrten entstanden sind. Verschiedene ihrer Mitglieder haben sich durch erfolgreiche und zumeist marginal überlieferte Kommentare klassischer Texte des Madrasa-Lehrbetriebs (Grammatik, Logik, Rhetorik, Dogmatik) hervorgetan. Schwarz skizziert mithilfe der erhaltenen Handschriften den familieneigenen Lehrbetrieb und die über diesen Lehrbetrieb kontrollierte Verbreitung der Texte. Sein Beitrag zeigt besonders deutlich, wie sehr eine solche Sammlung von dem Vorhandensein guter Kataloge abhängt (Schwarz’ eigene Bemerkungen auf S. 171), welche aber viel zu oft fehlen. Er listet 122 Handschriften auf, aber wie viele mehr sind noch unentdeckt, weil ein Katalog einen Husainâbâdî als Autor einer Marginalie oder Besitzer einer Handschrift nicht identifiziert? Meine eigene Erfahrung besagt, dass eine einzige Handschrift das Bild einer Bibliothek vollkommen verändern kann. Schwarz ist demzufolge auch äußerst vorsichtig, seine Familie in eine Bewertung der großen Linien intellektueller Produktion der Zeit, besonders unter die gängigen Schlagwörter „reformism/revivalism/renewal“ oder „decline“ (S. 176), einzuordnen.

Henning Sievert (Verlorene Schätze – Bücher von Bürokraten in den Muhallefât-Registern) steuert eine auf dokumentarischen Quellen, den Nachlassverzeichnissen, basierende Studie von Buchbesitz im Zentrum des Osmanischen Reiches bei. Die Verzeichnisse gehören zu Angehörigen einer gehobenen Schicht und tatsächlich zeigen sich im Vergleich zu der Untersuchung Damaszener Nachlässe durch Pascual/Establet signifikante Unterschiede in Buchbesitz (mehr), Wert der einzelnen Bücher (höher) und im Verhältnis zum Gesamtnachlass (niedriger).1 Besonders hervorzuheben sind die wirtschaftlichen Dimensionen dieser Register, denn die hinterlassenen Bücher wurden in der Regel versteigert und der erzielte Preis notiert. Bei allen Problemen für eine statistische Erhebung oder repräsentative Auswertung – denn einen Zwang, bei der Erbteilung das Gericht anzurufen und die Hinterlassenschaft verzeichnen zu lassen, gab es nur in seltenen Fällen – zeigen sich doch sowohl individuelle Vorlieben einzelner Buchbesitzer ebenso wie allgemeinere Trends der askerî-Klasse, und es ist zu hoffen, dass diese reiche Quelle weiter ausgeschöpft wird.

Sofern der Band konsequent methodisch neue Wege gehen will, was nach der anspruchsvollen Einleitung durchaus zu erwarten wäre, ist das nicht in jedem Fall gelungen. Zu sehr folgen die Artikel doch dem klassischen Schema der Untersuchung eines Textes, der eben zufällig auch noch in Form einer oder mehrerer Handschriften auf uns gekommen ist (Elger, Heinzelmann, teilweise Reichmuth). Das ist zwar durchaus verständlich, denn allzu oft sind die Informationen, welche ein Buch mit der Geschichte seiner Produktion, Transmission und Rezeption verbinden, schlicht nicht vorhanden oder ohne vergleichbare Daten nicht zu verallgemeinern. Es zeigt aber eben doch, wie weit der Weg noch ist, bis all diese Informationen einmal zusammengetragen und verwertbar sein werden. Ohne das Fundament systematischer Sammlung in Katalogen – oder heutzutage auch durch die Hilfe online-gestützter Datenbanken – erscheint die Beschreibung einer Buchkultur illusorisch.

Es ist ja oft das Schicksal von Sammelbänden, gerade wenn sie ein kaum bearbeitetes Feld erst in das allgemeine Bewusstsein rücken wollen, dass sie nicht ganz einlösen können, was ihr Titel verspricht. So bietet das Buch – neben fünf jeweils für sich äußerst interessanten Artikeln – vor allem eine exzellente Formulierung der Ziele zukünftiger Forschung, welche über die antiquarische Betrachtung von Büchern hinaus eine Verbindung kultur- und sozialgeschichtlicher Fragestellungen anstrebt. Diese Anregung aufzunehmen und umzusetzen ist Aufgabe zukünftiger, sicher noch sehr langwieriger Sammlungstätigkeit.

Anmerkung:
1 Colette Establet / Jean Paul Pascual, Les livres des gens à Damas vers 1700, in: Revue des Mondes Musulmans et de la Méditerranée 87-88 (1999), S. 143–169.

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