Titel
Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe


Autor(en)
Borutta, Manuel
Reihe
Bürgertum Neue Folge 7
Erschienen
Göttingen 2010: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
488 S.
Preis
€ 61,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfram Kaiser, European Studies, University of Portsmouth

Der Kulturkampf ist von der deutschen Historiographie überwiegend als ein spezifisch deutsches Phänomen behandelt worden. Die Politikgeschichte der Gründungsphase des Deutschen Reichs hat sich in erster Linie mit den preußischen Kulturkampfgesetzen der ersten Hälfte der 1870er-Jahre, beginnend mit dem Kanzelparagraphen von 1871 und dem Jesuitengesetz 1872, beschäftigt. Danach strebte die Kooperation der Liberalen mit Reichskanzler Bismarck eine moderate Säkularisierung an und war in erster Linie darauf ausgerichtet, den gesellschaftlichen Einfluss der katholischen Kirche zurückzudrängen. In ihrem Sonderwegsnarrativ hat die Gesellschaftsgeschichte dem deutschen Katholizismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lange Zeit einen Modernisierungsrückstand bescheinigt. Die Kulturkampfmaßnahmen erschienen in ihrer autoritär-polizeilichen Durchsetzung vielfach als illiberale Verirrung der Liberalen und die Kooperation mit Bismarck als Pakt mit dem Teufel auf dessen Sonderweg, grundsätzlich aber als normativ gerechtfertigt. Schließlich hat sich die katholische Bismarck-kritische Historiographie mehr mit dem – sehr effektiven – katholischen Widerstand beschäftigt als mit den Vorstellungswelten und Motiven der antikatholischen Kulturkämpfer.

In seiner ausgezeichneten Berliner Dissertation hat Manuel Borutta den Forschungsstand in dreifacher Hinsicht erheblich erweitert. Erstens wagt er den Vergleich mit Italien, für das er zumindest mit Blick auf Piemont von einem preußenähnlichen Kulturkampf spricht. Damit unterstützt das Buch die Überwindung der einseitigen Fixierung der Gesellschaftsgeschichte auf den Vergleich mit Großbritannien und Frankreich, der bis in die 1980er-Jahre der Unterfütterung der Sonderwegsthese diente. Zweitens thematisiert er beziehungsgeschichtliche Dimensionen des Transfers von Topoi antikatholischer Rhetorik und Mobilisierung, wofür er auch auf die wichtige Rolle antikatholischer Polemik aus Frankreich für die Diskurse in Deutschland und Italien eingeht. Drittens bezieht sich Boruttas primäres Erkenntnisinteresse auf kulturgeschichtliche Aspekte des Antikatholizismus in beiden Ländern, vor allem dessen diskursive Topoi sowie mediale Inhalte und Inszenierungsformen.

Im ersten Hauptteil des Buches rekonstruiert Borutta die Genese des Antikatholizismus in der Aufklärung im 18. Jahrhundert und seine weitere Entwicklung im 19. Jahrhundert. Dieser Abschnitt ist weitgehend literaturbasiert. Hier distanziert sich Borutta deutlich von der Bielefelder Gesellschaftsgeschichte und ihrer „konfessionellen Verengung des deutschen Bildungsbegriffs“ (S. 76), in der er einen wichtigen Grund für deren implizite Sympathie für den Antikatholizismus der Liberalen erblickt.

Neue Forschungsergebnisse stellt Borutta vor allem im zweiten und dritten Hauptteil seines Buches vor. Dabei geht es ihm zunächst um Formen der medialen Visualisierung und Inszenierung. Hier diskutiert Borutta kompetent die verschiedenen Medien des Antikatholizismus, von Romanen über Skandalchroniken bis zu Satirezeitschriften. Danach behandelt er Visualisierungsformen wie Historiengemälde, Genremalereien und Karikaturen. Die Topoi – wie das Bild des „perversen Geistlichen“ (S. 183) – sind aus früheren Forschungen wohl bekannt, ihre Visualisierung und strategische Nutzung wird hier jedoch erstmals in dieser empirischen Breite überzeugend beschrieben und belegt – ebenso die Bedeutung von Transfers aus anderen kulturellen und nationalen Kontexten. Vor allem, so schreibt Borutta überzeugend, war die „Moralisierung des Konflikts“ nicht „bloß propagandistisch“ gemeint, sondern zielte auf die „Universalisierung der bürgerlichen Lebensführung“ ab (S. 264).

Im dritten Hauptteil geht es Borutta anhand mehrerer empirischer Beispiele um die Geschlechtergeschichte des Kulturkampfes und die Verweiblichung des Katholizismus durch das „progressive Lager“ (S. 387) in Abgrenzung zu dessen männlich-bürgerlich-protestantischem Leitbild einer säkularisierten Gesellschaft – ein Leitbild, von dem Borutta meint, es habe wie bei Max Weber „Eingang in die Selbstbeschreibung der Moderne“ gefunden und letztlich auch die Gesellschaftsgeschichte stark geprägt. Hierzu, so schränkt der Autor allerdings sogleich selbst ein, „bedarf es weiterer, auch wissenschaftshistorischer Untersuchungen“ (S. 414).

Borutta hat eine im Vergleich Deutschlands und Italiens, in der Einbeziehung transnationaler Aspekte, in ihrer thematischen Breite und ihren empirischen Belegen überaus lesenswerte Studie vorgelegt. Noch lesenswerter wäre das Buch allerdings, wenn es durchweg in deutscher Sprache geschrieben wäre. Begriffe wie „sexcrimes“ (S. 155), „classing“, „aging“ und „gendering“ (S. 388) scheinen in weiten Kreisen der deutschen Geschichtswissenschaft jedoch inzwischen leider als ein Ausweis von Internationalität der Forschung zu gelten. Gerade wegen der vor allem für eine Dissertation sehr breiten Anlage kann Borutta außerdem nicht immer so tief schürfen, wie es wünschenswert wäre. Transnationale Aspekte werden zwar berücksichtigt, aber die breitere europäische Dimension des Antikatholizismus über Deutschland und Italien hinaus nur angedeutet. Insofern bleibt die Studie vielleicht noch immer zu sehr Jürgen Kockas und Heinz-Gerhart Haupts Konzeptualisierung einer transnationalen Einbettung des historischen Vergleichs verpflichtet, die grenzüberschreitende beziehungsgeschichtliche Aspekte aus pragmatischen wissenschaftspolitischen Motiven subsidiär in den Vergleich integriert hat. Außerdem stößt Borutta mit seiner These zur Genealogie der Säkularisierungsthese, die er im vergangenen Jahr in einem Aufsatz in „Geschichte und Gesellschaft“ vertieft hat und die auch von Rebekka Habermas auf dem letzten Historikertag vertreten wurde, eine hoffentlich interessante Debatte an, ohne seine These jedoch – vorerst – hinreichend belegen zu können. Immerhin wird hier deutlich, dass in der Historiographie eine – in diesem Fall zumindest teilweise gescheiterte – Revolution nicht immer ihre Kinder frisst, sondern die Kinder der Bielefelder Gesellschaftsgeschichte die beabsichtigte Revolution. Statt von Friedrich II. zu Bismarck und Hitler ist Deutschlands Sonderweg offensichtlich von den Antikatholiken des Kulturkampfes zu Weber und Wehler verlaufen. Das ist, von außen betrachtet, immerhin amüsant.