R. Johler u.a. (Hrsg.): World War I and the Cultural Sciences in Europe

Titel
Doing Anthropology in Wartime and War Zones. World War I and the Cultural Sciences in Europe


Herausgeber
Johler, Reinhard; Marchetti, Christian; Scheer, Monique
Reihe
Histoire 12
Anzahl Seiten
392 S.
Preis
€ 38,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Silke Göttsch-Elten, Europäische Ethnologie/Volkskunde, Universität Kiel

Der zu besprechende Band ist aus dem Sonderforschungsbereich „Krieg und Kriegserfahrung“ heraus entstanden, der von 1999 bis 2008 an der Universität Tübingen gelaufen ist. Der innovative Ansatz dieses Forschungsprojektes war weniger auf Krieg als Ereignisgeschichte ausgerichtet, als vielmehr auf dessen Wirkung und Einfluss auf gesellschaftliche, politische, religiöse und wissenschaftliche Entwicklungen. Dass Kriege zentrale Impulsgeber für technologische, ökonomische und gesellschaftliche Prozesse sind, ist unbestritten, ihr Einfluss auf die Profilierung und Positionierung von Wissenschaften allerdings ist ein Aspekt, der für die Geistes- und Kulturwissenschaften nur sehr zögerlich in den Blick genommen wird. So verweisen die drei Herausgeber in ihrem wissenschaftsgeschichtlich einordnenden Vorwort darauf, dass für die Kulturanthropologie zwar eine Reihe von Untersuchungen vorliegen, die das Engagement von Wissenschaftlern während des Zweiten Weltkrieges behandeln (in Deutschland viele Studien die NS-Zeit betreffend, in den USA zu den Aktivitäten von Margaret Mead, Gregory Bateson, Ruth Benedict), der Erste Weltkrieg aber bisher nur wenig thematisiert worden sei. Einen Grund sehen sie darin, dass es damals zwar einschlägige Forschungsarbeiten gegeben habe, aber kaum institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern und Militär. So ist es das Anliegen des Bandes, der Frage nachzugehen, welche Bedeutung der Erste Weltkrieg für die Etablierung der Kulturanthropologie als moderne empirisch arbeitende Wissenschaft besaß. Dass der Fokus der Beiträge auf Europa liegt, wird einmal mit dem späten Kriegseintritt der USA, aber auch mit dem fehlenden Engagement amerikanischer Anthropologen begründet.

Die Intensität, mit der sich Anthropologen einbrachten, war national sehr unterschiedlich. Insgesamt ist nicht zu übersehen, dass Anthropologie als eine feldforschende Disziplin in Europa durch den Ersten Weltkrieg erheblich profiliert wurde. Dabei machen die Herausgeber drei Forschungsrichtungen aus. Es wurden Sammlungen unter den Soldaten initiiert, mit denen man das erhob, was als Soldaten-Folklore bezeichnet wurde, wie beispielsweise Soldatenlieder, Aberglauben usw. Weiter gab es Untersuchungen in den besetzten Gebieten und schließlich Forschungen in den Kriegsgefangenenlagern.

Der Band zeigt, wie eng die Kontakte zwischen den Wissenschaftlern der unterschiedlichen Nationen waren und wie sehr sich diese im empirischen Herangehen, in der Profilierung von Forschungsfragen und Forschungsmethoden annäherten. Ein besonderes Augenmerk der Beiträge liegt dabei auf Österreich und dem Balkanraum, weil diese multiethnische Region ein besonders breites und vielschichtiges Feld für empirische Untersuchungen darstellte, was heutigen wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchungen reiches Quellenmaterial beschert.

Die insgesamt 14 Beiträge sind in drei Themenbereichen gebündelt. Zunächst geht es um die „Anpassung der anthropologischen Disziplinen“ an den Krieg, also um das Ordnen von Erkenntnisinteressen und Forschungsfeldern, das „Krieg“ zu einem Feld der Forschung werden lässt. Behandelt werden unterschiedliche nationale Entwicklungen. Henrika Kuklick beschäftigt sich mit den Kontinuitäten und Veränderungen in der britischen Anthropologie. Marina Mogilner zeigt, wie russische Soldaten sich als Anthropologen betätigten. Die italienische Entwicklung thematisieren Paolo de Simonis und Fabio Die.

In der deutschsprachigen Anthropologie muss eine doppelte Geschichte erzählt werden, weil sich hier die anthropologischen Ansätze in Volks- und Völkerkunde ausdifferenzierten. Andrew D. Evans beleuchtet den Part der Völkerkunde und Reinhard Johler thematisiert die deutschsprachige Volkskunde, insbesondere die Aktivitäten in Österreich. Diesen ersten Teil abschließend verweist Christian Promitzer auf den Einfluss der deutschen Anthropologie auf eine biologisch und rassisch argumentierende physische Anthropologie in Bulgarien und Serbien.

Den zweiten großen thematischen Block bildet eine Fallstudie zu einer für diese Fragestellung besonders ergiebigen Region. In drei Beiträgen geht es um die Aktivitäten der österreichischen Ethnographie auf dem Balkan, wobei besonders der Aspekt des kolonialen Denkens herausgearbeitet wird. Besonders interessant ist dabei, wie in der anthropologischen Beschäftigung mit den östlichen Ländern des Habsburgerreiches Wissen von Differenz und Inferiorität verhandelt wurde. Diana Reynolds Cordileone zeigt, wie bosnisches Kunsthandwerk, vor allem Waffen und Kriegskleidung, vor dem Ersten Weltkrieg als Teil folkloristisch-kolonialer Wahrnehmung im Habsburgerreich in Ausstellungen präsentiert wurde, und Ursula Reber untersucht, mit welchen Argumenten ein schillerndes Konzept von „Primitivität“ in Bezug auf montenegrinische Stammesangehörige diskutiert wurde. Christian Marchetti widmet seinen Beitrag den Aktivitäten der österreichisch-ungarischen Volkskunde während des Ersten Weltkrieges und zeigt, wie sich dabei eine multiethnische Perspektive herausbildete.

Der letzte größere Abschnitt ist der speziellen Thematik der empirischen Forschungen in Kriegsgefangenenlagern und damit der Konstruktion von Feindbildern gewidmet. Margit Berner gibt in ihrem Beitrag einen Überblick über anthropologische Forschungen in Österreich-Ungarn zwischen 1871 und 1918. Wie stark sich physische Anthropologie und kulturanthropologische Fragestellungen gegenseitig durchdrangen, macht Margaret Olin in ihrer Untersuchung über Bildarchive von Juden bzw. von Fremdheit deutlich, die während des Krieges in deutschen Kriegsgefangenenlagern entstanden. Der große empirische Impuls, den die ethnologischen Disziplinen während des Ersten Weltkrieges erhielten, zeigt sich auch in der Modernisierung des methodischen und dokumentarischen Instrumentariums. Monique Scheer beschäftigt sich mit phonographischen Aufnahmen, die in deutschen und österreichischen Gefangenenlagern gemacht wurden. Aber die Gefangenenlager dienten auch als „Reservoir“ für rassekundliche Untersuchungen, die, wie Britta Lange zeigt, wiederum die Verfeinerung anthropologischer Messdaten vorantrieben. Auch der Film erhielt in der empirischen Forschung in diesem besonderen Feld eine erste große Bedeutung. Wolfgang Fuhrmann zeigt, wie das Genre des ethnographischen Films ästhetisch Form gewann und somit auch die Bedeutung des relativ jungen Mediums Film durch den Krieg erkannt wurde.

In einem abschließenden Resümee führt André Gingrich die einzelnen Fäden wieder zusammen, ordnet die Ergebnisse in eine fachwissenschaftliche Entwicklung der Disziplinen Volks- und Völkerkunde ein und reflektiert sie in Bezug auf die weitere Ausdifferenzierung der Disziplinen in der Weimarer Republik.

Der thematisch konzentrierte, aber räumlich weit ausgreifende Sammelband vermittelt einen anschaulichen und differenzierten Überblick über die Bedeutung, die der Erste Weltkrieg für die Herausbildung der Disziplinen Volks-/Völkerkunde (Anthropology) hatte. Gerade der österreichisch-ungarische Raum erweist sich dabei als wissenschaftsgeschichtlicher Kristallisationspunkt, weil hier nicht nur die Bandbreite von Ansätzen und Deutungsmustern sichtbar wird, sondern auch das hohe Maß an Vernetzung zwischen den noch wenig ausdifferenzierten Disziplinen.