S. Dyroff u.a. (Hrsg.): Lodz jenseits von Fabriken, Wildwest und Provinz

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Titel
Lodz jenseits von Fabriken, Wildwest und Provinz. Kulturwissenschaftliche Studien über die Deutschen in und aus den polnischen Gebieten


Herausgeber
Dyroff, Stefan; Radziszewska, Krystyna; Röskau-Rydel, Isabel
Reihe
Polono-Germanica 4
Erschienen
München 2009: Martin Meidenbauer
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Oliver Loew, Deutsches Polen-Institut Darmstadt

Im Mittelpunkt dieses Sammelbandes steht mit Lodz eine nach wie vor Faszination ausübende Stadt, die über gut hundert Jahre hinweg Heimat vieler Kulturen war und als industrieller Schmelztiegel der Nationen galt. Nach 1945 wurde sie ethnisch ganz überwiegend polnisch und konfessionell ganz überwiegend katholisch, ehe der Glanz dieses „Manchesters des Ostens“ mit dem Ende der großen Textilkombinate in den letzten Jahrzehnten verblasste. Lodz musste sich nicht nur auf die Suche nach neuen ökonomischen Existenzen, sondern auch nach neuen kulturellen Identitäten machen. Immerhin gab es mit großen Lodz-Texten der Literatur, etwa von Władysław Reymont oder Joseph Roth, Bezugspunkte, an die man problemlos anknüpfen konnte, auch wenn sich das dort geschilderte soziale Geflecht der Stadt radikal von dem der Gegenwart unterschied.

Hervorgegangen aus einer Tagung der Kommission für die Geschichte der Deutschen in Polen, beschäftigen sich die Autoren überwiegend mit deutschen Aspekten städtischer Vergangenheit, ergänzt um einige Beiträge, die sich nicht explizit mit Lodz befassen und auf Pressegeschichte konzentrieren. Es ist aber das Bestreben der Herausgeber, mehr als nur eine deutschtumszentrierte Lokalgeschichte vorzulegen, sondern Studien zur Vergangenheit einer nicht-bürgerlichen Stadt, die „durch neureiche Fabrikanten und gesellschaftliche Aufsteiger“ (S. 9) geprägt war. Tatsächlich wäre es die Rolle gesellschaftlicher Aufsteiger und sozialer Verwerfungen auch in vielen anderen, bürgerlich geprägten Städten Ostmitteleuropas dieser Zeit wert, intensiv erforscht zu werden, um den vielerorts vorhandenen Mythos von einer kontinuierlichen Bürgertumsgeschichte aufzubrechen.

Eine Erforschung von Lodz kann trotz des geringen Alters der Stadt und der lange überwiegend proletarischen Gesellschaft auf eine Fülle von Quellen zurückgreifen. Jacek Walicki beschreibt diese fokussiert auf die Geschichte der Lodzer Deutschen, wobei sich wie anderswo in diesem Teil des Kontinents das Problem kriegszerstörter Aktenbestände stellt. Dennoch bieten die Archivalien zahlreicher Behörden, aber auch Geheimdienstakten oder Kirchenbücher durchaus gute Arbeitsmöglichkeiten. Weshalb diese bis heute nur zum Teil genutzt wurden, liegt, wie Ingo Eser in seinem stadthistorischen Überblick darstellt, auch daran, dass die Lokalhistoriographie lange Zeit von einer marxistischen Geschichte der proletarischen Traditionen ebenso geprägt war wie von einer national dominierten Sichtweise, die den Blick auf die Multiethnizität der Stadt oft versperrte. Und so sei es bis in die jüngere Vergangenheit zu einem „heute absurd anmutende[n] Streit“ (S. 38) gekommen, etwa darüber, welche nationale Gruppe nun für den Aufstieg der Stadt verantwortlich gewesen sei. Esers konziser, problemorientierter Beitrag stellt im Grunde die auf eine ethnische Gruppe beschränkte Untersuchung einer Stadt wie Lodz in Frage.

Zum Glück sind sich die meisten Autoren des Bandes dieses Problems bewusst und thematisieren Wechselwirkungen mit dem nicht-deutschen Umfeld. Dazu zählt Joanna Jabłkowskas Aufsatz über „‚Heimatliteratur‘ aus und über Lodz“. Sie konstatiert das Paradox, dass mit den Werken Reymonts und Roths zwar Weltliteratur über die Stadt entstanden sei, diese selbst aber kaum literarische Texte hervorgebracht habe. Anhand einiger in Buchform erschienener, vor allem aber in Zeitungen gedruckter Texte stellt Jabłkowska dar, dass gerade in der polnischen Literatur der Vorkriegszeit „die sozialen Unterschiede, die Armut und Ohnmacht“ (S. 65) der – hier meist polnischen – Unterschichten aufgegriffen wurden, denen man reiche deutsche Fabrikanten gegenübergestellte. Die bislang kaum bearbeitete deutsche Literatur über Lodz hingegen habe „Ersatzlebensräume und Artefakte des Ländlichen in der Stadt“ (S. 67) verklärt. Hier werden Forschungsfelder aufgezeigt, die durch eine Einbeziehung auch jiddischer und – vielleicht – auch russischer Texte noch an Bedeutung gewinnen würden.

Monika Kucner widmet sich den Texten des Lodzer Feuilletonisten Carl Heinrich Schultz, der – wie nicht wenige Lodzer Deutsche – der polnischen Kultur gegenüber sehr offen war, weshalb er Anfang 1940 auch gemeinsam mit polnischen Intellektuellen der Stadt verhaftet und kurz darauf umgebracht wurde. Seine Reportagen und Texte, die er auch im Lodzer Deutsch verfasste, sind ein wichtiger Beitrag zur lokalen Kulturgeschichte. Ein Schlaglicht in die Mentalitäten der reichen Lodzer wirft Dariusz Kacprzak mit seinem Beitrag über den Kunstgeschmack des deutschstämmigen Fabrikanten Juliusz Teodor Heinzel; Krzysztof Stefański schildert an zwei Beispielen biographische Verbindungen zwischen Zittau und Lodz.

Das tragischste Kapitel der Lodzer Geschichte ist zweifellos das Leiden und Sterben der Lodzer Juden im Zweiten Weltkrieg. Krystyna Radziszewska konzentriert sich in ihrem Aufsatz auf die rund 20.000 aus Deutschland ins Ghetto Litzmannstadt deportierten Juden, die sich hier – Ende 1941 eintreffend – in entsetzlichen Lebensumständen wiederfanden, was rasch zu Konflikten mit den einheimischen Juden führte. Der Krieg bedeutete nicht nur für Lodz als Stadt eine Zäsur, sondern auch für die Lodzer Deutschen, die sich als Flüchtlinge oder Vertriebene neue Existenzen in den beiden deutschen Staaten aufbauen mussten. Wolfgang Kessler schildert, wie sich im kommunikativen Gedächtnis dieser Deutschen jenseits ihrer Heimat ein Bild vom „deutschen Lodz“ (S. 155) verfestigte; dieses Gedächtnis aber stets fragmentarisch blieb und von familiären Erinnerungen dominiert wurde.

Es folgen einige vorwiegend pressegeschichtliche Abhandlungen: Severin Gawlitta stellt dar, wie das Bild von den „deutschen Kulturleistungen“ die Publizistik der Deutschen in und aus Mittelpolen geprägt hat, ein Bild, das nach 1945 auch in der Retrospektive sehr präsent war. Besonders wertvoll ist Matthias Barełkowskis Aufsatz über die Presselandschaft in der Provinz Posen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, weil er durch die Berücksichtigung der deutschen Presse wissenschaftliches Neuland betritt. Einige seiner Befunde sind bemerkenswert, etwa die kontraproduktive Rolle der preußischen Verwaltung, die durch ihre Unterstützung national-konservativer Blätter am Ende des 19. Jahrhunderts überhaupt erst das Entstehen einer modernen, liberalen Großstadtzeitung – der „Posener Neuesten Nachrichten“ – ermöglichte. Barełkowskis Forderung, die historischen deutschen Zeitungsbestände möglichst rasch umfassend zu digitalisieren, ist energisch zu unterstützen.

Mit der „Deutschen Schulzeitung in Polen“ beschäftigt sich anschließend Ingo Eser, während Elżbieta Everding über „urbane Motive in der galiziendeutschen Literatur“ schreibt. Ihr Quellenkorpus entstammt vorwiegend Periodika der Galiziendeutschen. Auch wenn sie konstatiert, dass urbane Motive in dieser Literatur kaum auftauchten (S. 231, Anm. 7), kann sie doch einige Befunde präsentieren, obschon eher illustrativ, etwa indem sie eine Erzählung zusammenfasst, in der einige urban sozialisierte Polen galiziendeutschen Mädchen den Charleston beibringen, was den deutschen Männern des Dorfes gar nicht behagt, weshalb sie die unerwünschten Konkurrenten verprügeln. Dieser mehrfach verflochtene Konflikt, die Verteidigung kulturkonservativ-deutscher Werte gegen die von polnischen „Kulturträgern“ verkörperten Anfechtungen der Moderne, hätte es verdient, umfassender untersucht zu werden. Aber auch so bietet der Sammelband zahlreiche Anregungen zur weitergehenden Beschäftigung mit ausgewählten Problemen des deutsch-polnischen Mit- und Nebeneinanders im 19. und 20. Jahrhundert und zeigt anhand von Lokalstudien, dass sich gerade durch eine Zusammenstellung von Erkenntnissen verschiedener Disziplinen immer wieder neue Forschungsperspektiven ergeben.

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