L. Foxhall (Hrsg.): Intentional History

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Titel
Intentional History. Spinning Time in Ancient Greek


Herausgeber
Foxhall, Lin; Gehrke, Hans-Joachim; Luraghi, Nino
Erschienen
Stuttgart 2010: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
360 S.
Preis
€ 62,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maria Osmers, SFB 584 „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte“, Universität Bielefeld

Der vorliegende Sammelband präsentiert einen Großteil der Beiträge der Internationalen Tagung „Intentionale Geschichte – Spinning Time“, die im Jahr 2006 von dem European Network for the Study of Ancient Greek History und dem Zentrum Antike und Moderne der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg veranstaltet wurde. Er greift das in der Alten Geschichte in den letzten Jahren viel erforschte Thema der griechischen Erinnerungskultur und damit der Rekonstruktion und Präsentation von Vergangenheit in der Gegenwart des antiken Hellas auf.1 Als Grundlage und Ausgangspunkt dient das von dem Mitherausgeber Hans-Joachim Gehrke entwickelte Konzept der „Intentionalen Geschichte“. Die griechischen Gemeinschaften vergewisserten sich mittels der Bezugnahme auf die Vergangenheit ihrer Identität und konstruierten sich als Gruppe. „Geschichte“ wurde so in der Gegenwart entworfen, wirkte aber auch auf diese zurück und gab der erinnernden Gruppe die Möglichkeit, eine gemeinsame Zukunft zu gestalten. Ziel des Sammelbandes ist es, die sozialen Träger dieser Prozesse zu erfassen und die Verbreitung und Akzeptanz der verschiedenen Versionen der Vergangenheit anhand von exemplarischen Untersuchungen nachzuvollziehen. Dafür beziehen sich die Autorinnen und Autoren nicht nur auf literarische Quellen, sondern auch auf epigraphische, numismatische und bildliche Zeugnisse.

In seinem einleitenden Beitrag entwickelt Hans-Joachim Gehrke (Greek Representations of the Past, S. 15–34) sein Konzept der „Intentionalen Geschichte“ und stellt die wichtigsten Stationen des Umgangs der Griechen mit ihrer Vergangenheit von Homer bis in die römische Zeit vor. Er wendet sich gegen die in der Forschung häufig privilegierte Stellung der griechischen Historiographie und betont einerseits die Vielzahl der Medien und Praktiken, die die Wahrnehmung der Vergangenheit prägten, andererseits die Pluralität der griechischen Geschichte. Sie variierte nicht nur in den unterschiedlichen Zeiten, sondern wurde auch in verschiedenen Gemeinschaften jeweils anders erinnert. Die folgenden 13 Beiträge beschäftigen sich in diesem Sinne in Fallstudien mit verschiedenen Zeiten, Genres, Medien und Motiven. Den Abschluss des Tagungsbands bilden drei vergleichende Untersuchungen, die ergänzend auf andere Regionen, Modelle und Epochen verweisen.

So wendet sich Ewen Bowie (The Trojan War’s Reception in Early Greek Lyric, Iambic and Elegiac Poetrys, S. 57–88) der frühen griechischen Dichtung zu und betont die Bedeutung dieses Genres für die Erinnerung an den Troianischen Krieg. Der attischen Tragödie und der häufig prominenten Rolle des Gottes Dionysos in dieser widmet sich der Beitrag von Renate Schlesier (Tragic Memories of Dionysos, S. 211–224). Besondere Beachtung verdient Kurt Raaflaubs Beitrag über die klassische Geschichtsschreibung (Ulterior Motives in Ancient Historiography: What exactly, and Why?, S. 189–210). Er betont, dass die didaktische Intention, mit der Autoren wie Herodot oder Thukydides ihre Werke verfassten, auch in diesem Genre Intentionalität und somit Modifikationen der Erzählungen notwendig machten. Gerade durch diesen Beitrag wird die problematische Dominanz, die wir der Historiographie im Hinblick auf die Rekonstruktion der griechischen Geschichte zuschreiben, eindrucksvoll verdeutlicht.

Gegen verbreitete Vorstellungen im Hinblick auf ikonographische Darstellungen argumentiert auch Luca Giuliani (Myth as Past? On the Temporal Aspect of Greek Depictions of Legend, S. 35–56): Das Medium der Vasen zeigt keine klaren Unterscheidungsmerkmale in der bildlichen Beschreibung von Vergangenheit und Gegenwart, sondern offenbart, dass beide Zeitebenen sich in ihrer Darstellung angleichen. Weitere Beiträge zu Vergangenheitsbezügen in unterschiedlichen Medien bestätigen deren Funktion der Identitätsstiftung. Dies führt Joseph Skinner (Fish Heads and Mussel-Shells: Visualizing Greek Identity, S. 137–160) anhand des Beispiels der Münzen aus. Maurizio Giangiulio (Collective Identities, Imagined Past, and Delphi, S. 121–136) und Massimo Nafissi (The Great Rhetra [Plut. Lyc. 6]: A Retrospective and Intentional Construct?, S. 89–120) betonen die Bedeutung der Orakel in diesem Zusammenhang. So hinterfragt Giangiulio die dominante Rolle Delphis in der Kolonisation und schreibt sie der retrospektiven Sicht der einzelnen Gemeinwesen zu, um ihre Identität zu stärken. Ähnliches gilt auch für die Große Rhetra, die nach Nafissi weder ein authentisches Orakel noch ein Gesetzestext ist, sondern den Beginn der Legendenbildung um die spartanische Verfassung markiert. Auch athenische Ehrendekrete dienten, wie Nino Luraghi (The Demos as Narrator: Public Honours and the Construction of Future and Past, S. 247–264) ausführt, dem Demos als Medium, die gemeinsame Geschichte – insbesondere der jüngeren Zeit – zu erzählen und so Bezugspunkte für zukünftige Generationen auszugeben. Der Beitrag von Stephen Lambert (Connecting with the Past in Lykourgan Athens: an Epigraphical Perspective, S. 225–238) widmet sich ebenfalls Vergangenheitsbezügen in athenischen Inschriften und erklärt ihre steigende Zahl in lykurgischer Zeit mit dem wachsenden Bedürfnis nach erzieherischen Vorbildern für die Gesellschaft in einer Krisensituation.

Dass auch in hellenistischer und römischer Zeit die Bezugnahme auf die Vergangenheit von großer Bedeutung für die Zeitgenossen war, zeigen Kostas Buraselis (God and King as Synoikists: Divine Disposition and Monarchic Wishes Combined in the Traditions of City Foundations in Alexander’s and Hellenistic Times, S. 265–272) und Tanja Scheer („They that held Arkadia“. Arkadian Foundation Myths as Intentional History in Roman Times, S. 273–296) anhand der Gründungsgeschichten hellenistischer Herrscher und der Selbstdarstellung kleinasiatischer Städte als arkadische Gründungen in römischer Zeit. Auch die Beiträge von Ralf von den Hoff (Media for Theseus, or: The Different Images of the Athenian Polis-hero, S. 161–188) und Ian Worthington (Intentional History: Alexander, Demosthenes and Thebes, S. 239–246) verorten die Bezugnahme auf einzelne Motive der Vergangenheit in Zeit und Raum und können so die Entwicklung unterschiedlicher Darstellungen von Theseus oder Alexander aufgrund des historischen Kontexts ihrer Präsentation nachvollziehen.

Die letzten drei Beiträge erweitern die Perspektive des Sammelbandes. So verweist Nicola di Cosma (Ethnography of the Nomads and „Barbarian“ History in Han China, S. 297–324) auf einen ähnlichen Umgang mit der Vergangenheit im antiken China. Die Geschichte der benachbarten Nomadenvölker und ihre Konstruktion als „Barbaren“ wurden dabei im Sinne der Gegenwart und entsprechend der Intention der jeweiligen Autoren vollzogen. Jonas Grethlein (Beyond Intentional History: A Phenomenological Model of the Idea of History, S. 325–340) stellt sein phänomenologisches Modell vor, das nicht den funktionalen Gebrauch von Vergangenheitsbezügen in der Gegenwart ergründet, sondern den Menschen in seiner Rolle als temporäres Lebewesen betrachtet. Den Abschluss bildet der Beitrag von Kostas Vlassopolous (Constructing Antiquity and Modernity in the Eighteenth Century, S. 341–360). In diesem betont er, dass die Konzepte von Altertum und Modernität im 18. Jahrhundert entwickelt und durch verschiedene Mechanismen festgeschrieben wurden.

Insgesamt verbindet der Sammelband viele aufschlussreiche Einzelstudien ausgewiesener Experten. Auch wenn der Grad der Bezugnahme auf das zugrundeliegende Konzept der Intentionalen Geschichte in den Beiträgen variiert, ergibt sich ein schlüssiges Gesamtbild. Dieses betont die Bedeutung, aber auch die Pluralität der Erinnerungskultur im antiken Griechenland, die sich auf allen Ebenen der Polis und über diese hinaus vollzog. Die Forschungsergebnisse der einzelnen Vertreter der Alten Geschichte, Klassischen Philologie, Religionswissenschaft und Archäologie fügen sich so zu einem Ganzen zusammen und beleuchten aus verschiedenen Blickwinkeln den funktionalen Umgang mit Vergangenheit im antiken Hellas. Dieses Bild wird durch die Verweise auf andere Regionen und Zeiten sowie weitere Modelle zur Erfassung der Vergangenheit sinnvoll abgerundet. Der Sammelband zeigt so, dass die Forschungsarbeit im Bereich der griechischen Erinnerungskultur keineswegs abgeschlossen ist, sondern offenbart das Potential, das die Beschäftigung mit dem Umgang der Griechen mit ihrer Vergangenheit noch immer birgt.

Anmerkung:
1 Dies zeigt schon die Zahl von Publikationen zu diesem Thema im Jahre 2010, vgl. Jonas Grethlein, The Greeks and Their Past. Poetry, Oratory and History in the Fifth Century BCE, Cambridge 2010; Karl-Joachim Hölkeskamp / Elke Stein-Hölkeskamp (Hrsg.), Die griechische Welt. Erinnerungsorte der Antike, München 2010.

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