Titel
Abisag Tüllmann: 1935-1996 Bildreportagen und Theaterfotografie.


Autor(en)
Caspers, Martha; Lowis, Kristina; May, Ulrike; Haas, Monika; Lauterbach, Barbara; Sykora, Katharina
Erschienen
Ostfildern 2010: Hatje Cantz Verlag
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Ulrich Hägele, Institut für Medienwissenschaft, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Zum 75. Geburtstag von Abisag Tüllmann präsentiert das Historische Museum Frankfurt bis zum 27. März 2011 eine Werkschau mit rund 450 Bildern der lange Zeit in Frankfurt ansässigen Fotografin. Das Konzept für die Ausstellung entwickelte Martha Caspers. Die Kuratorin für Fotografie am Historischen Museum edierte auch den liebevoll zusammengestellten, reich illustrierten und überaus lesenswerten Katalog mit seinen sieben, erfrischend kurz gehaltenen Abhandlungen. Die Texte widmen sich dem Werk (Martha Caspers), den gedruckten Fotografien (Katharina Sykora; Kristina Lowis), Film und Kultur (Monika Haas, Kristina Lowis), dem Theater (Barbara Lauterbach) und biographischen Notizen (Ulrike May).

Abisag Tüllmanns Werk ist zweigeteilt und umfasst über sechshunderttausend Negative, siebzigtausend Vintage Prints und mehrere zehntausend Farbdias. Der etwas größere Teil besteht aus Theaterfotografien, die sich im Deutschen Theatermuseum München befinden. Der kleinere Teil - das bildjournalistisch-künstlerische Werk - erwarb nach dem Tod der Fotografin (1996) das Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin. Ausstellung und Katalog führen nunmehr beide Genres der Fotografin zu einem Ganzen zusammen.

Abisag Tüllmann war eine politische Fotojournalistin, eine, die im Fotografieren den einzig gangbaren Weg sah, um ihre „Träume“ und ihre „Formkraft“ zu verwirklichen. Sie vermittelt die „politischen, gesellschaftlichen und künstlerischen Umbrüche der Nachkriegszeit“, wirkt als „Dokumentaristin der ‚Neuen Sozialen Bewegungen‘“ (Martha Caspers, S. 12) von Studenten, Bürgerrechtlern gegen Rassentrennung und Kämpfern gegen Krieg und Ausbeutung in der Welt. Tüllmann selbst hatte als Kind einer Mutter mit jüdischer Abstammung bereits früh vor Augen, was es heißt, aus rassischen Gründen von der Gesellschaft verstoßen zu werden. Ihr Vater, Inhaber eines Lesezirkels, erhielt von den Nazis Berufsverbot und starb im Sommer 1945 an Entkräftung.

Nach Schule und zahlreichen Praktika arbeitet Tüllmann Ende der fünfziger Jahre in einem Wuppertaler Werbebüro, das der Schriftsteller Paul Pörtner leitet. Er gibt ihr ihren Vornamen, nach dem Gedicht von Rainer Maria Rilke. Abisag Tüllmann arbeitet für „Spiegel“, „Stern“, „Magnum“, „Brigitte“, „Emma“ und „Zeit“, wird Hausfotografin der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Zugleich fotografiert sie am Theater, an der Frankfurter Neuen Bühne, geht mit Claus Peymann an die Berliner Schaubühne. Tüllmann prägte die deutsche Theaterfotografie im Verlauf von über drei Jahrzehnten.

Die Reportagefotos zeigen die Unwirtlichkeit der Metropolen, allen voran Frankfurt am Main. Die ehemalige Studentin der Innenarchitektur entwickelt ein visuelles Gespür für die gesichtslos hingeklotzten Neubauten der sechziger und siebziger Jahre und jenen Menschen, die rücksichtslose Spekulanten mit Hilfe der Polizei aus ihrem angestammten Wohnumfeld zu eliminieren versuchen. Ihre Fotografien sind Sozialdokumente einer Metamorphose: der im Bombenkrieg schwer getroffenen Stadt, die sich dann zu einer Wolkenkratzer-City entwickelt, vom Volksmund ‚Mainhattan‘ getauft. Tüllmanns Auslandsreisen führen sie für Reportagen unter anderem nach Algerien, Südafrika und in die DDR. Immer wieder fotografiert Tüllmann Themen aus dem sozialen Umfeld: Stadtstreicher, Migrant/innen, aber auch Kinder und Familien, daneben Bereiche der Jugendkultur, von Ausbildung und Arbeitsplatz. Zunehmend kommt dabei, „ihre persönliche, zunehmend politisierte Haltung insbesondere um das ereignisreiche Jahr 1968 zum Ausdruck“ (Kristina Lowis, S. 27). Die Liste Ihrer Portraits liest sich wie das Who-Is-Who der kritischen Linken: Rudi Dutschke, Herbert Marcuse, Daniel Cohn-Bendit, Joschka Fischer, Alice Schwarzer und Hans-Jürgen Krahl. Abisag Tüllmann gibt sich nicht damit zufrieden, ihre Aufnahmen in der Tages- und Wochenpresse abzudrucken. Sie veröffentlicht Bildbände über ihre Reportagen. Das herausragende Beispiel ihres publizistischen Werks ist der dreisprachig angelegte Band „Großstadt“ (1963) mit Bildern aus Frankfurt, der sie einem größeren Publikum bekannt macht. Tüllmann zeigt darin nicht etwa die Schokoladenseiten der Stadt, vielmehr nähert sie sich aus der zersiedelten Peripherie, den Müllhalden und Verkehrsflächen, um den Blick sodann auf die Veränderungen in dem von Bürogebäuden, Warenhäusern und Vergnügungsstätten dominierten Zentrum zu lenken. „Dieses Sehen ist in einem doppelten Sinn zu verstehen. Es verbindet einen analytischen Blick auf die Komplexität des menschlichen Lebens in der modernen Großstadt mit dem zugewandten Blick einer Teilnehmenden“ (Katharina Sykora, S. 23).

Man könnte Abisag Tüllmanns Vorgehen durchaus einen ethnographischen Charakter bescheinigen - vor allem weil man nie den Eindruck hat, als inszeniere sie. Ihre Bilder wahren journalistische Distanz, auch wenn sich die Fotografin mitten im Geschehen befindet. Ein moralisierender Unterton ist ihr fremd. Dies ist vielleicht der wichtigste Aspekt für jene, die sich wissenschaftlich mit Kulturphänomenen der Zeitgeschichte und deren Visualisierung beschäftigen. Abisag Tüllmanns Bilder bergen einen riesigen visuellen Fundus an Aspekten des Alltags, von denen viele bereits durch den Wandel der Geschmäcker und des Zeitgeistes verschüttet sind. Als Beispiel sei hierzu eine Aufnahme herausgegriffen. Ihr Titel: „Autowäsche am Main, Offenbach, 1967“. Fünfzehn oder zwanzig Autobesitzer haben ihre Vehikel hintereinander am Ufer des winterlichen Flusses geparkt. Einige Motorhauben und Kofferraumdeckel sind geöffnet. Die zumeist männlichen Fahrzeughalter putzen Felgen, ledern Windschutzscheiben, säubern Fußmatten oder begutachten, die Hände in den Hosentaschen, das Tun der Anderen. Das Wasser für die Reinigungsaktion wird mit Eimern direkt aus dem Main geschöpft. Abisag Tüllmann präsentiert das kollektive Autoputzen als öffentliches Happening. Der letztlich banale Akt markiert mit Wissen um die parallel verlaufenden politischen und sozialen Umbrüche eine visuelle Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die wiederum dem Bild seine surrealistische Anmutung verleiht.

Der Band „Abisag Tüllmann 1935-1996. Bildreportagen und Theaterfotografie“ ist vorbildlich gestaltet und gedruckt. Er vermittelt facettenreiche Eindrücke zum Werk der Fotografin. Mitunter hätten die Autorinnen sich mehr mit den eindrucksvollen Aufnahmen beschäftigen können. Die Abbildungen dienen zu sehr der Illustration und zu wenig der Analyse des fotografischen Werks. Dennoch seien Katalog und Ausstellung (sie wird 2011 auch in Berlin zu sehen sein) wärmstens all jenen ans Herz gelegt, die das Oeuvre einer der wichtigsten deutschen Fotografinnen des 20. Jahrhunderts kennen lernen wollen.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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