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Titel
Arbeit & Gewalt. Das Außenlagersystem des KZ Neuengamme


Autor(en)
Buggeln, Marc
Erschienen
Göttingen 2009: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
752 S., 29 Abb.
Preis
€ 77,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elissa Mailänder, Centre interdisciplinaire d’études et de recherches sur l’Allemagne (CIERA)

Mit seiner umfassenden Dissertation zum KZ-Außenlagersystem Neuengamme hat Marc Buggeln eine historische Pionierarbeit vorgelegt. Es ist ihm gelungen, eine sorgfältig dokumentierte empirische Lagergeschichte mit sozialwissenschaftlichen Fragestellungen zu verknüpfen und damit fundamentale Forschungsfragen der KZ-Forschung weiterzuführen. Buggeln hat ein beeindruckendes Quellenkorpus eingearbeitet, das sich unter anderem aus administrativen Dokumenten der NS-Zeit (Totenbücher, Lagerkorrespondenzen, Personalakten, Firmendokumente etc.), Nachkriegsvernehmungen von Überlebenden und ehemaligen KZ-Angestellten, Überlebendenberichten sowie Fotografien und Zeichnungen zusammensetzt.

Thema der Arbeit ist der Einsatz von KZ-Häftlingen in der deutschen Kriegswirtschaft sowie ihre Arbeits- und Lebensbedingungen. Bis Ende des Krieges gehörten insgesamt 85 Ableger zum KZ-Komplex Neuengamme, vom Hauptlager spannte sich „ein fast flächendeckendes Netz von Außenlagern über Norddeutschland aus“ (S. 12). Buggeln konzentriert sich dabei auf die zweite Kriegshälfte, in der das System der Außenlager entstand und die KZ-Sklavenarbeit für die Rüstungsindustrie zunehmend Bedeutung gewann.

Im ersten Kapitel analysiert Buggeln die politischen und ökonomischen Hintergründe für die Umstellung der deutschen Kriegswirtschaft auf Sklavenarbeit und die damit verbundene Expansion des KZ-Außenlagersystems Neuengamme. Kapitel zwei zeichnet die Verhandlungsprozesse zwischen den unterschiedlichen Akteursgruppen nach und schafft ein Panorama der Machtstrukturen. Kapitel drei erörtert die komplexen Beziehungen zwischen dem Hauptlager und den Außenlagern. Im eigens für die Publikation erarbeiteten Kapitel vier beschäftigt sich Buggeln mit den für Neuengamme zahlreich überlieferten Bildern des Grauens. In Kapitel fünf arbeitet Buggeln Faktoren heraus, die das (Über)-Leben im Lager prägten. Schwerpunkt der Arbeit bilden somit die konkreten Lebens- und Arbeitsbedingungen der Häftlinge in den Außenlagern. Den Kern der Arbeit bildet das 150 Seiten starke sechste Kapitel zu „Taten und Tätern“, das die Gewalt und die Handlungsoptionen der Bewacher im Außenlagerkomplex Neuengamme behandelt. Kapitel sieben ist der Häftlingszwangsgesellschaft, ihren strukturellen Gegebenheiten und individuellen wie kollektiven Überlebensstrategien gewidmet. Daran anschließend nimmt Buggeln anhand von acht lebensgeschichtlichen Interviews die individuelle Überlebensperspektive in den Blick. Kapitel acht erläutert das Wegsehen und Hinnehmen der lokalen Bevölkerung. Im neunten Kapitel beschreibt Buggeln die ungemein gewalttätigen Evakuierungen der Außenlager.

In den bereits zahlreich vorliegenden Rezensionen wurden insbesondere die Sachkunde des Autors und die Multiperspektivität seiner Analyse hervorgehoben, die sowohl die ökonomische Entwicklung des KZ-Systems und den zunehmenden Einfluss der Privatwirtschaft, als auch die konkreten Arbeits- und (Über-)Lebensbedingungen der Häftlinge und das Gewalthandeln der Lager-SS vor Ort in den Blick nimmt. Auf eines der Kernthemen der Arbeit, nämlich die Frage nach dem Ursprung und der Dynamik der KZ-Gewalt, wurde jedoch vergleichsweise selten eingegangen. In diesem Zusammenhang bringt der praxeologische Untersuchungsansatz dieser Arbeit einen wichtigen Erkenntnisgewinn. Sich methodisch auf Pierre Bourdieus Handlungstheorie stützend, wirft Buggeln einen kultursoziologischen Blick auf die KZ-Gewalt.1 Wie vorhergehende Studien aus der NS-Forschung zeigen, hat gerade die Geschichtswissenschaft von einer theoretischen und methodischen Bereicherung außerhalb des zeithistorischen Fachexpertentums ungemein profitiert.2

Buggeln untersucht das Prinzip „Vernichtung durch Arbeit“ anhand von konkreten Arbeitseinsätzen und -situationen. Sein genauer Blick auf das Täterhandeln richtet sich nicht auf Intentionen, sondern auf konkretes menschliches Verhalten und verknüpft dabei individuelles Handeln mit strukturellen Handlungsbedingungen. Dies ist umso bedeutender, als die historische Konzentrationslagerforschung die Gewaltproblematik bislang nur selten thematisiert hat, obwohl Gewalt und Tod zur essentiellen alltäglichen KZ-Erfahrung gehören, nicht nur für die Häftlinge, die unterschiedliche Formen von Gewalt erlitten, sondern ebenso für die Bewacher, die diese Gewalt anwandten.3

Buggeln lenkt das Augenmerk auch auf zivile Beteiligte wie Industrielle, Bürokraten, Werkleiter und Verwalter sowie auf Wehrmachtssoldaten und Polizisten, die ebenfalls zum KZ-Wachdienst in den Außenlagern und zur Überwachung der Rüstungsarbeit herangezogen wurden. Ein konstitutiver Unterschied zwischen Neuengammer Außenlagern und dem Hauptlager war, dass sich die Wachmannschaften in den Außenlagern weniger aus altgedienten SS-Männern als vielmehr aus älteren, teilweise invaliden Wehrmachtsoldaten, Marinesoldaten, Zollbeamten, Polizisten sowie sogenannte SS-Aufseherinnen zusammensetzten. Diese mit viel Konfliktpotential behaftete heterogene Gruppe spaltete sich zusätzlich in sogenannte Reichs- und Volksdeutsche. Dass die neu rekrutierten Kräfte den alten SS-Haudegen in Punkto Gewalt wenig nachstanden, wirft weitergehende Fragen zur Sozialisierung und Habitualisierung von Gewalt im Lager auf.

Zu Recht folgt Buggeln in seiner Studie einem weiten Begriff von Gewalt. Er umfasste direkte körperliche (Schlagen, Treten, Aufhängen etc.) ebenso wie verbale Gewalt sowie unzureichende Ernährung und Hygiene, das Fehlen medizinischer Versorgung etc. Dass er in seiner akteurszentrierten Analyse jedoch auf das Galtungsche Konzept der „strukturellen Gewalt“ stützt, ist problematisch.4 Buggeln legt eindrücklich dar, dass der Hunger, die häufigste Todesursache, nicht nur auf der vom Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft vorgegebenen Rationierung beruhte, sondern auch auf der konkreten Dienstpraxis im Lager. Die SS-Angehörigen wie auch die zivilen Verwalter vor Ort konnten die Rationen beibehalten, ja vergrößern, aber auch verkleinern oder ganz streichen. Selbst wenn sich die unterschiedlichen Verantwortlichen die vorgegebenen knappen Rationen „korrekt“ und ohne zusätzliche Schikanen verteilten, waren sie doch mehr als bloße Ausführende. Denn innerhalb ihrer jeweiligen Handlungsrahmen trugen und gestalteten sie die Struktur aktiv mit.

Die Auswertung von Rekrutierung, Werdegang und Dienstpraxis der Täter zeigt, dass weniger ideologische Überzeugung als vielmehr Aufstiegsmöglichkeiten und die Bezahlung für das Verhalten der Akteure ausschlaggebend waren. Buggeln tut gut daran, zu erinnern, dass für einen SS-Oberscharführer der KZ-Dienst finanziell reizvoll war. Der gelernte Zimmerer Arnold Strippel beispielsweise hätte im zivilen Leben bestenfalls 240 Reichsmark brutto verdient, während sich sein Nettogehalt bei der SS auf 329,79 Reichsmark belief. Für die unteren Chargen war dies ein Anreiz, sich hochzuarbeiten, was vielfach hochschlagen bedeutete. Wesentlich für das gewalttätige Verhalten war die Position innerhalb der Diensthierarchie. Wie Buggeln beweisen kann, etablierten sich in den Reihen der Lager-SS „feine Unterschiede“ (Pierre Bourdieu): Untere Chargen, die etwa als Rapportführer oder Blockführer in einem direkten Kontakt mit den Häftlingen standen, wandten häufig und massiv körperliche Gewalt an, während Verwaltungsposten oder höhere SS-Führer in Kommandostellen selten selbst Hand anlegten. Gewalt wurde somit im Lager zu einem Distinktionsmerkmal, wie Buggeln an Strippels Lagerkarriere überzeugend darlegen kann. Dennoch bestanden immer und jederzeit Handlungsoptionen, denn jeder Befehl musste von den Akteuren vor Ort gedeutet und konkret umgesetzt werden – kein Bewacher und keine Bewacherin musste Häftlinge töten oder misshandeln: Für die Mehrzahl der KZ-Häftlinge galt vielmehr „aus der Sicht der SS, dass sie getötet werden konnten“ (S. 658).Von dieser Möglichkeit machten die Bewacher reichlich Gebrauch.

KZ-Gewalt ist, wie Buggeln belegt, nicht willkürlich, sondern erklärt sich aus komplexen sozialen Dynamiken und ihrem situativen Kontext. Dabei hätte man in der Analyse noch weiter gehen und die Wechselwirkung von Taten und Tätern anhand von konkreten Gewaltsituationen ausführen können: Welche Auswirkungen hatte körperliche Gewalt auf die Gruppendynamiken innerhalb der Lager-SS? Welche sozialen Praktiken setzten sich als neue Verhaltensmuster durch? Veränderten sich die Verhaltensweisen in den letzten Kriegsjahren? Gerade in einem homosozialen Raum wie der Lager-SS kommt dem Zusammenspiel von reichs- bzw. volksdeutschen Männern aus unterschiedlichsten sozialen und kulturellen Kontexten große Bedeutung zu. Wie verhandelten diese Männer Status, Kompetenz und Männlichkeit? Buggeln beschränkt die geschlechterspezifischen Aspekte seiner Untersuchung auf das Herausarbeiten von Unterschieden in den Gewaltpraktiken in Frauen- und Männerlagern und der vergleichsweise niedrigeren Sterblichkeit in den Frauenlagern. Aber Geschlecht als relationale Kategorie umfasst auch den Einfluss zeitgenössischer Männlichkeitsvorstellungen auf das Handeln der Akteure, insbesondere in einer „vermännlichten Gemeinschaft“, zu der auch die Lager-SS gezählt werden muss.5

Buggeln hat eine vielschichtige Untersuchung mit wichtigen Impulsen für die KZ-Forschung geliefert. Wie er unterstreicht, war in den Außenlagern direkte körperliche Gewalt nicht die häufigste Todesursache. Vielmehr waren es die von der SS geschaffenen Lebens- und Arbeitsbedingungen. Einerseits wurde aus ökonomischen und zweckrationalen Gründen sehr wohl auf Arbeitskraftoptimierung geachtet; in der Praxis waren die Bewacher jedoch nicht gewillt oder fähig, ihren Schlägerhabitus abzulegen, gegebenenfalls eigneten sie sich einen solchen auch erst bei Dienstantritt an. Im Phänomen der KZ-Sklavenarbeit in den Außenlagern „verband sich zerstörerische Gewalt mit instrumenteller Gewalt“ (S. 335), eine Verbindung, die, wie Buggeln zu Recht bemerkt, in der Gewaltforschung bislang übersehen wurde.6 Mit dieser sorgfältig recherchierten Detailstudie hat er ein Referenzwerk nicht nur für den Außenlagerkomplex Neuengamme, sondern für die gesamte KZ-Forschung geliefert. Überzeugend ist vor allem sein praxeologischer Analyseansatz, der die eigentliche Originalität der Untersuchung ausmacht und neue Fragen an die KZ-Forschung aufwirft.

Anmerkungen:
1 Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1976.
2 Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln 2002; ders., Bourdieu für Historiker? Ein kultursoziologisches Angebot an die Sozialgeschichte, in: Thomas Mergel / Thomas Welskopp (Hrsg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft: Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, S. 71-94.
3 Wolfgang Kirstein, Das Konzentrationslager als Institution des totalen Terrors, Pfaffenweiler 1992; Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationlager, Frankfurt am Main 1993; Elissa Mailänder Koslov, Gewalt im Dienstalltag. Die SS-Aufseherinnen des Konzentrations- und Vernichtungslagers Majdanek 1942-1944, Hamburg 2009.
4 Johan Galtung, Gewalt, Frieden und Friedensforschung, in: ders., Strukturelle Gewalt, Reinbek 1975, S. 7-36.
5 Vgl. Magnus Koch, Fahnenfluchten. Deserteure der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg – Lebenswege und Entscheidungen, Paderborn 2008. Thomas Kühne (Hrsg.), Männergeschichte – Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne, Frankfurt am Main 1996; Ulrich Bröckling, Disziplin. Soziologie und Geschichte militärischer Gehorsamkeit, München 1997.
6 Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008.

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