Cover
Titel
Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung


Autor(en)
Münkler, Herfried
Erschienen
Anzahl Seiten
300 S.
Preis
€ 19,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dagmar Hilpert, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Bücher über die „Mitte“ sind in Deutschland keine Seltenheit mehr. Schon seit einigen Jahren wird von den Randlagen wieder mehr auf das Zentrum der Gesellschaft geblickt und die Bedeutung der „Mitte“ für Politik und Gesellschaft diskutiert. Aufmerksamkeit erregt die „Mitte“ besonders durch ihr vermeintliches Verschwinden. 2006/07 haben sich Historiker, Soziologen und Wirtschaftswissenschaftler in einer Studie der Herbert-Quandt-Stiftung erstmals ausführlicher der „gesellschaftlichen Mitte“ gewidmet.1 Seitdem sind etliche weitere Bücher und Untersuchungen erschienen.2 Die wenigsten setzen sich dabei mit der langen Vorgeschichte heutiger Entwicklungen und Diskurse auseinander; sie geben sich meist mit Gegenwartsdiagnosen zufrieden. Hier füllt Herfried Münklers neues Buch über das ambivalente Verhältnis vor allem der Deutschen zur „Mitte“ eine Lücke. Es führt den Leser durch 2.500 Jahre Mitte-Theorie und Mitte-Diskurs – von Aristoteles über Cicero, Machiavelli und Hegel, Marx, Schopenhauer und Nietzsche bis zu Carl Schmitt und Hermann Lübbe. Es ist ein Rundumschlag, der in beinahe globalhistorischer Manier die wichtigsten Entwicklungen, Etappen, aber auch Kontroversen der Geschichte der „Mitte“ wiederentdeckt und erörtert.

Der Titel des Buches ist nicht neu. Mit „Mitte“ und „Maß“ haben schon andere experimentiert, auf die sich Münkler ausdrücklich auch bezieht. An erster Stelle ist natürlich Hans Magnus Enzensberger mit seinem Essay „Mittelmaß und Wahn“ von 1988 zu nennen. Weniger bekannt dürfte sein, dass Wilhelm Röpke, ein Verfechter des Ordoliberalismus, 1950 ein Buch mit dem Titel „Maß und Mitte“ verfasste. Die Ordoliberalen hielten die ungebremste Dynamik des Kapitalismus für eine Gefahr, die es zu bändigen gelte. Röpke setzte dabei auf die Einsicht der Akteure, die angesichts der Folgen von Maßlosigkeit aus Eigeninteresse dazu tendieren würden, Maß zu halten. Diese Erwartung erscheint heute mehr denn je überholt – Maß und Maßstäblichkeit sind nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch im Freizeitverhalten und in der Arbeitswelt verloren gegangen. So diagnostiziert Münkler: „Die Bedrohung der Mitte und der Verlust des Maßes gehen Hand in Hand.“ (S. 68)

Dass „Mitte“ und „Maß“ zusammengehören, arbeitet Münkler im ersten der vier eng miteinander verwobenen Essays überzeugend heraus. Aber es ist eine komplizierte Verbindung. Der „Auffassung, die soziopolitische Mitte sei der berufene Hüter und Wahrer des Maßes, der die Extreme im Zaum hält und Exzesse verhindert, steht die Überzeugung entgegen, eine Mitte, die ihr eigenes Maß zum Maßstab für alle macht, drohe das Außergewöhnliche und Herausragende zu verhindern und alles auf Mittelmaß zu reduzieren“ (S. 15). Die Kritik an ihrer Mediokrität – vor allem vertreten von Friedrich Nietzsche – gehört ebenso zur Semantik der „Mitte“ wie die Vorstellung von Normativität, Normalität und Stabilität. „Mitte“ und „Maß“ sind auf die flankierenden Kräfte angewiesen; ohne Außenseitertum keine Mitte, ohne Maßlosigkeit kein Maß. Wie Münklers Ausführungen zeigen, entzieht sich die „Mitte“ moderner Gesellschaften einer starren Definition; sie wandelt sich und lässt sich nicht klar nach oben und unten abgrenzen, wohl aber anhand einiger sozioökonomischer und soziokultureller Charakteristika umreißen. Münkler greift hier auf vorangegangene Arbeiten zurück.3 Die gesellschaftliche und politische Stabilität der Bundesrepublik Deutschland sei während der letzten Jahrzehnte wesentlich dadurch gewährleistet gewesen, dass sich die obere und die untere Mittelschicht selbst als die „Mitte“ der Gesellschaft begriffen hätten. Dies sei inzwischen aber gefährdet (S. 57). Münkler folgt damit den Diagnosen der Soziologen Heinz Bude und Berthold Vogel, die in ihren jüngsten Untersuchungen argumentiert haben, dass die Bedrohung der „Mitte“ nicht von außen, sondern von innen komme.4

Am Anfang jedes Versuchs einer Mitte-Definition steht Aristoteles. Wie der Überblick zur politischen Theorie und Ideengeschichte zeigt, war er jedoch mitnichten der einzige, der sich intensiv mit der Mitte beschäftigt hat. Der Leser von Münklers zweitem Essay („Mitte und Macht“) begegnet vielen bekannten Denkern vor allem der Aufklärung und des 19. Jahrhunderts, doch auch einigen unbekannteren Namen wie etwa dem spanischen Antiliberalen Donoso Cortés. Und wer hätte gedacht, dass auch Wilhelm Busch seinen Beitrag zur Mitte-Theorie geleistet hat? Die Geschichte von Max und Moritz illustriert das Aufbegehren und glückliche Einfügen in das mittlere Leben. Busch teilte damit nicht Schopenhauers düstere Prognosen über die Selbstzerstörung der Mitte durch Langeweile und Genügsamkeit. Schopenhauer, „der Prototyp des deutschen Intellektuellen, der von seiner sozialen Stellung her der Mittelschicht zugehört […], gleichzeitig aber die Umgebung, in die er geraten ist, nach Kräften verachtet und an ihr leidet“ (S. 113), verkörpert für Münkler die Suche der Deutschen nach der Mitte. Allerdings zeigen die Ausführungen zu Rousseau sowie auch zur Französischen Revolution und zum „Justemilieu“, dass das Mitte-Thema die französische Nation und ihre Denker ähnlich intensiv beschäftigt und herausgefordert hat. Gerade in den letzten Jahren wird um die „classe moyenne“ in Frankreich eine aufgeregte Debatte geführt.5 Es stellt sich somit die Frage, ob die „Mitte“ tatsächlich ein so „genuin deutsches Thema“ ist, wie Münkler behauptet (S. 14), oder ob nicht vielmehr von einem europäischen Mitte-Diskurs die Rede sein muss.

Im dritten Essay widmet sich der Autor den geopolitischen und geostrategischen Vorstellungen von „Mitte“ sowie der besonderen Lage Deutschlands in der Mitte Europas („Mitte und Raum“). Die Bündnispolitik Bismarcks und die Expansionspolitik Hitlers sind dabei nur die prominentesten Beispiele für Einkreisungsängste und strategisches Agieren aus der Mitte. Auch innerhalb der deutschen Grenzen ist die Frage nach Peripherie und Mitte zu unterschiedlichen Zeiten jeweils anders beantwortet worden, wie Münkler anhand zahlreicher Beispiele zeigt. Nicht alle seine Mitte-Assoziationen und Vergleiche indes sind gleich überzeugend, und einige Passagen sind etwas zu lang geraten. Dies gilt zum Beispiel für die Ausführungen zur Metropole, in denen Münkler auch den Angriff auf die Twin Towers in New York nicht ausspart (S. 158), sowie zur geostrategischen Kriegsführung. Zudem ist die Unterbrechung der Chronologie bedauerlich. Der vierte Essay nimmt zwar den Faden des zweiten Kapitels wieder auf. Er widmet sich jedoch vor allem den Parteien und dem Kampf um die politische Mitte in der Weimarer und Bonner Republik. Über die Bonner Republik und die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky) wird viel Wichtiges angeführt, ebenso über die alten und neuen „Mitten“ der Parteien und die Ambivalenzen einer „Politik der Mitte“. Allerdings haben hier andere das Feld bereits gründlich bearbeitet.6 Am Ende steht die wenig ermutigende Prognose eines Auseinanderdriftens von oberer und unterer Mittelschicht, welches kaum dadurch aufgefangen zu werden scheint, dass sich immer mehr Parteien in der politischen Mitte tummeln. Auf ein Fazit des Buchs und eine Bündelung der Erkenntnisse hat Münkler ansonsten leider verzichtet.

Die spannungsreiche Suche der Deutschen nach der „Mitte“ wird während der Lektüre in allen Facetten greifbar. Herfried Münklers Wissensschatz und die Souveränität, mit der er den Leser durch die Jahrhunderte der Geistes- und Ideengeschichte führt, sind beeindruckend. Der kundige Leser entdeckt vieles, was er schon kannte, was ihm bisher aber nicht so deutlich und in so gut lesbarer Form vor Augen geführt wurde.

Anmerkungen:
1 Herbert-Quandt-Stiftung (Hrsg.), Zwischen Erosion und Erneuerung. Die gesellschaftliche Mitte in Deutschland. Ein Lagebericht, Frankfurt am Main 2007.
2 Vgl. zuletzt: Ulrike Herrmann, Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht, Frankfurt am Main 2010; Marc Beise, Die Ausplünderung der Mittelschicht. Alternativen zur aktuellen Politik, Bonn 2009.
3 Paul Nolte / Dagmar Hilpert, Wandel und Selbstbehauptung. Die gesellschaftliche Mitte in historischer Perspektive, in: Herbert-Quandt-Stiftung, Zwischen Erosion und Erneuerung, S. 11-101.
4 Heinz Bude, Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft, München 2008; Berthold Vogel, Wohlstandskonflikte. Soziale Fragen, die aus der Mitte kommen, Hamburg 2008.
5 Régis Bigot, Les classes moyennes sous pression, CRÉDOC, Cahier de recherche No. 249, Décembre 2008, online unter <http://www.lefigaro.fr/assets/pdf/bourse-patrimoine/etudelesclassesmoyennes.pdf> (1.1.2011); Louis Chauvel, Les classes moyennes à la dérive, Paris 2006.
6 Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000; ders., Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik, München 2004; Franz Walter, Gelb oder Grün? Kleine Parteiengeschichte der besserverdienenden Mitte in Deutschland, Bielefeld 2010; ders., Baustelle Deutschland, Frankfurt am Main 2008.

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