D. Larsen: Fortrængt Grusomhed (Dänische SS-Wächter 1941-45)

Titel
Fortrængt Grusomhed. Danske SS-Vagter 1941-45


Autor(en)
Larsen, Dennis
Erschienen
Kopenhagen 2010: Gyldendal
Anzahl Seiten
258 S.
Preis
254,52 DKK
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens-Christian Hansen, Institut für Geschichte und Gesellschaftsstudien, Universität Süddänemark

Etwa 6000 dänische Staatsbürger meldeten sich während des Zweiten Weltkriegs freiwillig zur SS. Etwa ein Viertel dieser Männer gehörte der deutschen Minderheit in Dänemark an. Die Beteiligung dänischer Staatsbürger an nationalsozialistischen Kriegsverbrechen, besonders an der Ostfront, ist bisher ansatzweise untersucht worden.1 Die Mittäterschaft dänischer Staatsbürger an den Verbrechen, die in verschiedenen Formen von nationalsozialistischen Straf- und Konzentrationslagern begangen wurden, war jedoch bis zum Erscheinen der hier rezensierten Publikation in Dänemark weitgehend unbekannt.

Im Bereich der Täterforschung zu NS-Verbrechen gibt es international mittlerweile eine lange Reihe von Studien, die sich intensiv mit der Rolle der SS und anderer Machtorgane des NS-Staates sowie mit Darstellungen von Einzeltätern auseinandergesetzt haben.2 Mit seinem Buch „Fortrængt Grusomhed“ (zu Deutsch: Verdrängte Grausamkeit) bietet der im dänischen Nationalmuseum tätige Historiker Dennis Larsen eine weitere Perspektive. Das Buch ist der Versuch einer Auseinandersetzung mit der Mittäterschaft nicht-deutscher Staatsbürger in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Larsens Ziel ist es aufzudecken, in welchem Ausmaß dänische SS-Männer in Gewaltverbrechen in nationalsozialistischen Lagern verwickelt waren und welche Rolle sie bei diesen spielten. Wichtigster methodischer Ansatzpunkt ist eine Analyse der Verfahren gegen die Täter in der unmittelbaren Nachkriegszeit, die Larsen durch umfassende Recherchen in vor allem dänischen, britischen und deutschen Archiven zusammengetragen hat. Obwohl eine dezidierte Stellungnahme zu vergleichbaren theoretischen Ansätzen weitgehend fehlt, ist eine Inspiration durch die Studien von Christopher Browning und Daniel Goldhagen unverkennbar.3 Ein weiterer Schwerpunkt ist die Beurteilung des Umgangs der dänischen und internationalen Justiz mit den Tätern. Larsen kann für 99 Dänen eine Mittäterschaft an den Verbrechen in nationalsozialistischen Lagern nachweisen und durch Fallstudien verdeutlichen, dass dänische SS-Männer ihren deutschen Kollegen in punkto Gewaltausübung aus politischer Überzeugung ebenbürtig waren. Gleichzeitig thematisiert Larsen die Rolle der deutschen Minderheit in Nordschleswig/Sønderjylland, da 43 der ermittelten SS-Männer sich zu dieser Minderheit bekannten; eine Erkenntnis, die vor allem in den dänischen Medien ein erneutes Interesse für die Rolle der in den Jahren 1933-1945 stark nazifizierten Minorität geweckt hat.

Larsen beschreibt in seiner Einleitung die Entwicklung des nationalsozialistischen Konzentrationslagersystems als Kontext seiner Untersuchung. Er verdeutlicht in seiner Darstellung des KZ-Systems während des Krieges die Rotation von SS-Männern zwischen Fronteinsatz und Konzentrationslagern anhand von dänischen Beispielen. Larsen untermauert damit, dass dänische SS-Freiwillige nicht nur an der Front eingesetzt wurden, eine Legende, die durch ehemalige SS-Freiwillige in der Nachkriegszeit mit Erfolg verbreitet wurde, sondern unter anderem wegen kriegsbedingter Verwundungen auch vermehrt als Wachpersonal in Konzentrationslagern tätig waren. Obwohl das Buch durch seine klare Argumentation, seine stichfeste Beweisführung und seine nüchterne Sprache durchgehend überzeugt, fallen auch mehrere Mängel und Schwächen auf. Die Einleitung ist beispielsweise etwas schwerfällig geraten, was darauf zurückzuführen ist, dass Larsen sich vorwiegend auf eine begrenzte Auswahl von neueren deutschen Standardwerken stützt und dessen Pointen zum Teil ohne größere Reflektion wiedergibt.4

Dänische SS-Männer waren in einer Vielzahl von Konzentrationslagern eingesetzt. Haupteinsatzort war jedoch das Konzentrationslager Neuengamme mit seinen Außenlagern, unter anderem wegen der geografischen Nähe zu Dänemark. Dementsprechend schildert Larsen den Alltag der dänischen KZ-Wachleute vor allem am Beispiel des Lagerkomplexes des KZ Neuengamme. Anhand der Lebensläufe von Carsten Christian Jensen, Anton Peter Callesen, Gustav Alfred Jepsen, Hans F. Petersen und zahlreichen anderen dänischen KZ-Wächtern zeigt er das Ausmaß der Brutalität dänischer Täter. Beispiele sind hier bekannte und besonders grausame Verbrechen wie das Massaker an KZ-Häftlingen in Lüneburg am 11. April 1945 und die Kindermorde im Neuengammer Außenlager Bullenhuser Damm am 20. bis 21. April 1945, an denen dänische SS-Männer mitschuldig waren. Die Täterorientierte Perspektive dient bei diesen Beispielen nicht nur einer Rekonstruktion des Tathergangs, sondern unterscheidet sich von früheren Darstellungen5 vor allem dadurch, dass Larsen die Verbrechen als Kulmination der Gewaltbereitschaft der Täter hervorhebt. Dieses wird vor allem bei der späteren Beurteilung der genannten Verbrechen in Bezug auf das Strafausmaß der Täter deutlich.

Am Beispiel des Arbeitserziehungslagers Nordmark in Kiel wird gezeigt, dass Dänen nicht nur in Konzentrationslagern als Wachmannschaften tätig waren. Orla Eigil Jensen und zwei andere Dänen leisteten hier als SS-Männer Wachdienst. Larsen stellt dabei fest, dass die Verbrechen im Arbeitserziehungslager durchaus mit Gräueltaten in den Konzentrationslagern vergleichbar waren. Er dokumentiert durch sein Buch nicht nur den Umfang, sondern auch die große Variation von Verbrechen, an denen sich Dänen beteiligten. Obwohl dies durch eine intensive Quellenanalyse dokumentiert wird, wären systematische oder schematische Aufstellungen der untersuchten Parameter wie zum Beispiel persönliche Hintergründe, Motive, ethnische Zugehörigkeit auf der einen Seite sowie der Ergebnisse des juristischen Nachspiels auf der anderen Seite wünschenswert. Dieses ist im letzten Kapitel leider nur ansatzweise qualitativ und überhaupt nicht quantitativ geschehen. So wirken die zum Teil sehr lang geratenen Zitate aus den Quellen gegenüber der analytischen Durchdringung des Gegenstandes als zu dominant.

Eine Stärke der Studie ist Larsens Analyse des Umganges der dänischen und alliierten Justiz mit den Tätern. Deren Zusammenarbeit, unter anderem in Bezug auf die Auslieferung dänischer Kriegsverbrecher, wird im Buch mehrfach thematisiert. Besonders den dänischen Behörden weist Larsen hier Milde nach, die politisch motiviert war. Einer anfangs intensiven Phase von relativ harten Verurteilungen dänischer Kriegsverbrecher folgte bald eine Welle von Amnestien und Strafmilderungen, die dazu dienten, die verurteilten Personen wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Dies hatte in der Nachkriegszeit für die Integration der deutschen Minoritätsgruppe eine zentrale Bedeutung. Obwohl Larsens Fragestellung nicht darauf ausgelegt ist zu hinterfragen, wie Dänemark sich politisch mit seinen Kriegsverbrechern auseinandersetzte, verdeutlichen die Ergebnisse der Analyse dänischer Gerichtsverfahren, dass hier noch weitere Forschung möglich und sinnvoll ist. Die bis auf wenige Todesurteile – mehrere davon von alliierten Gerichten gefällt – relativ milde und in den späteren Jahren geradezu passive Justiz sowie das Schweigen der deutschen Minderheit legten somit den Grundstein zum Verdrängen der grausamen Taten, auf die Larsen in seinem Titel anspielt.

Die Darstellung der Gewaltverbrechen von dänischen Staatsbürgern in nationalsozialistischen Straf- und Konzentrationslagern sowie die spätere juristische Aufarbeitung gelingt Dennis Larsen durchgehend. Mit einem komparativen Ansatz, beispielsweise dem Vergleich mit norwegischen oder niederländischen Tätern, hätten die Ergebnisse der Studie vielleicht noch überzeugender herausgestellt werden können. Durch den rein dänischen Blickwinkel sticht die Hauptpointe des Buches jedoch stark ins Auge: der große Anteil der deutschen Minderheit an den von Larsen ermittelten Gewaltverbrechen. Knapp die Hälfte der ermittelten Personen gehörte dieser Bevölkerungsgruppe an. Insgesamt zeichnet sich das Buch dadurch aus, dass die Motivation gerade dieser Täter durch eine eingehende Analyse der Verfahrensakten hinterfragt wird. Nicht nur ethnische Zugehörigkeit und politische Überzeugung spielten hier eine Rolle, sondern auch finanzielle Absicherung und soziale Akzeptanz innerhalb der deutschen Minderheit. Ein großer Anteil der Bevölkerungsgruppe hoffte schon nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten auf eine Durchsetzung einer erneuten Grenzrevision durch Hitler, um sie damit „heim ins Reich“ zu holen. Viele waren dem Nationalsozialismus deshalb sowohl aus taktischen wie auch politischen Gründen wohl gesonnen, was die SS bei der Rekrutierung Freiwilliger auszunutzen wusste. Larsens Buch liefert somit nicht nur Einsichten in Art und Umfang der Verbrechen, sondern gibt dem Leser gleichzeitig einen detaillierten Einblick in die Täterperspektive von kollaborierenden Dänen sowie dänischen Staatsbürgern, die der deutschen Minderheit in Dänemark angehörten, womit es einen bedeutenden Beitrag zur Kollaborationsforschung leistet.

Anmerkungen:
1 Claus Bundgaard Christensen u.a., Under Hagekors og Dannebrog, Danskere i Waffen-SS 1940-45, Kopenhagen 1998.
2 Als wenige Beispiele seien genannt: Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers Willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996; Karin Orth, Die Konzentrationslager-SS. Sozialstrukturelle Analysen und biographische Studien, Göttingen 2000; und Christopher R. Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Reinbek 1993.
3 Christopher R. Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Reinbek 1993; Daniel Goldhagen, Hitlers Willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996.
4 Wolfgang Benz / Barbara Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors, Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 1-7, München 2005-2009; Johannes Tuchel, Die Inspektion der Konzentrationslager 1938-1945, Berlin 1994; Ulrich Herbert / Karin Orth / Christoph Dieckmann (Hrsg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur, 2 Bände, Göttingen 1998.
5 Günter Schwarberg, Die Kinder vom Bullenhuser Damm, Hamburg 1983; Immo de Vries, 11. April 1945: Der Massenmord in Lüneburg an Häftlingen des KZ-Außenlagers Wilhelmshaven durch SS und Wehmachtsoldaten, in: Detlef Garbe / Carmen Lange (Hrsg.), Häftlinge zwischen Vernichtung und Befreiung, Bremen 2005, S. 145-153.

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