S. De Angelis: Genese und Konfiguration einer Wissenschaft vom Menschen

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Titel
Anthropologien. Genese und Konfiguration einer ‚Wissenschaft vom Menschen‘ in der Frühen Neuzeit


Autor(en)
De Angelis, Simone
Reihe
Historia Hermeneutica. Series Studia 6
Erschienen
Berlin 2010: de Gruyter
Anzahl Seiten
XI, 479 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Laurens Schlicht, Doktorandenschule Laboratorium Aufklärung, Universität Jena und Martin Herrnstadt, Historisches Seminar, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Simone De Angelis untersucht in seiner Studie die Genese der Anthropologie(n) als „Wissensformation“ vor allem für das 16. und 17. Jahrhundert als ein Mittel der kritischen Diskussion der sogenannten „anthropologischen Wende“ des 18. Jahrhunderts. Wie der Untertitel seiner Studie schon andeutet, geht es ihm auch darum, eine monolithische Geschichtsschreibung über die Anthropologie infrage zu stellen und stattdessen eine plurale Betrachtungsweise verschiedener „Anthropologien“ nahezulegen. Seine These ist, dass die Anthropologie des 18. Jahrhunderts auf Probleme reagiert habe, die sich im 16. und 17. Jahrhundert in der Debatte um die Unsterblichkeit der Seele ergeben hätten (S. 2). Erst die Rekonstruktion der „wissensgeschichtlichen Konstitutionsbedingungen und Begriffssysteme“ (S. 4) der Anthropologie aus diesem Zeitraum böte die Möglichkeit, den Verlauf von anthropologischen Kontroversen im 18. Jahrhundert zu verstehen.

Die Studie gliedert sich in sechs verschiedene Kapitel, die hinsichtlich des zeitlichen Skopus’ und der methodischen Herangehensweise unterschiedliche Zugänge zum Thema eröffnen. Im ersten Kapitel untersucht De Angelis anhand einiger bedeutender Konzepte die Entwicklung der Anthropologie(n) in der Renaissance. Die Anthropologie(n) hätten sich seit 1540 durch eine veränderte Praxis der Kommentierung des aristotelischen Traktates de anima in eine neue Richtung entwickelt (Rezeption von vor allem medizinischem Wissen). Zum anderen hätten die Humanisten antike Vorstellungen vom Menschen rezipiert, so dass sich das anthropologische Wissen des 16. Jahrhunderts aus den Wissensfeldern Medizin, Physiologie und Psychologie konstituiert habe.

De Angelis verfolgt diese Fragestellung anhand einer Exegese des Traktates De anima et vita von Juan Louis Vives und der Schriften Melanchthons über die Seele sowie deren Kommentierungen. Am Beispiel Vives’ wird aufgezeigt, dass das natürliche Gesetz (lex naturalis) nicht mehr, wie zuvor, durch Einsicht erkannt wurde, sondern durch ein sinnliches Erkenntnisvermögen, das sich auf die Außenwelt richtet. Dadurch sei auch die Anthropologie neu konzipiert worden.

Die Analyse der beiden Lehrbücher Melanchthons über die Seele erlaube es, das Verhältnis zwischen der Anthropologie und einem umfassenden humanistischen Bildungskonzept zu untersuchen, da Melanchthon selbst an der Konzeption eines Bildungsprogramms arbeitete. Die Stellung der Medizin im Corpus der Schriften über die Seele sei durch die melanchthonschen Schriften deutlich gestärkt worden (S. 33). Seine Texte hätten am Anfang eines „großen kultur- und bildungspolitischen Programms im Zeichen der Melanchthonschen Reformation“ (S. 62) gestanden, im Zuge dessen die Mediziner den Weg im Umgang mit tradierten Wissensansprüchen gewiesen hätten.1

Das zweite Kapitel untersucht „Transformationen“ des Renaissancearistotelismus, die sich auf die Exegese des De-anima-Traktates auswirkten. Aus dieser Diskussion ist nach De Angelis auch die wissenschaftliche Systematik der Anthropologie des 17. Jahrhunderts zu verstehen (S. 66). Ein entscheidendes Konzept des Renaissancearistotelismus war die doppelte Betrachtung der menschlichen Seele, einmal als Teil der Metaphysik und einmal als Teil der Naturphilosophie. Anhand der Kommentierungspraxis zeigt der Autor, wie sich Methoden und Praktiken der Gewinnung von Wissensansprüchen über die Seele wandelten. Da es hier zur Begründung von Wissensansprüchen zunehmend notwendig wurde, sich auf anatomisches Wissen zu beziehen, untersucht De Angelis die Praktiken der Wissensgenerierung in diesem Bereich. Durch die anatomische Praxis wurde es demnach möglich, gegen den Wissensanspruch von Kollegen und gegen autoritative Quellen eigene Wissensansprüche zu vertreten (S. 142). Die textexegetische und die anatomische Praxis besaßen, so De Angelis, in diesem Zusammenhang denselben Stellenwert.

Im dritten Kapitel wird gezeigt, dass einige deutsche Diskussionen zur Begründung eines bestimmten Typs von Anthropologie führten. Durch die Schriften Otto Casmanns habe sich die durch die Fragmentierung des aristotelischen Seelenbegriffes möglich gewordene dualistische Anthropologie etabliert. Die Fragmentierung sei schließlich eine Folge der Inkompatibilität eines christlichen und eines säkularisierten Aristotelismus im 16. Jahrhundert gewesen. In Casmanns Entwurf der Anthropologie sei schon die cartesische Konzeption des menschlichen Körpers als seelenlose Maschine angelegt gewesen (S. 205). Aufgrund dieser Trennung sei der Mensch schließlich zum Gegenstand verschiedener Disziplinen geworden.

Das vierte Kapitel versucht, Veränderungen im Verständnis der Anthropologie anhand des medizinischen Diskurses an der Universität Padua 1540-1660 zu erklären. Es gelingt De Angelis, exemplarisch zu zeigen, wie sich der komplexe Umgang mit autoritativen Quellen innerhalb des medizinischen Denkens gestaltete. Dabei ist es ihm ein Anliegen, die aus seiner Sicht vereinfachende Lesart des Umgangs mit medizinischen Autoritäten als einseitig auszuweisen. So habe etwa Andreas Vesal die Autorität Galens nicht zerstört, sondern sogar bewahrt, indem er Galens Text durch seine ausführliche Kommentierung als weiterhin korrekturwürdig erwiesen habe (S. 235).

Das fünfte Kapitel, das eine Vertiefung von zwei vorangegangenen Studien ist, untersucht Formen des Cartesianismus, die sich in den Niederlanden der 1650er-Jahre um eine Gruppe von Theologen konstituierten (Christoph Wittich, Johannes Clauberg). Samuel Pufendorf rezipierte diese Form des coccejanistischen Cartesianismus und entnahm ihr bestimmte Praktiken der Textexegese. Es sei diese spezifische Konstellation gewesen, die das Denken Pufendorfs bis in die 1680er- und 1690er-Jahre „beeinflusst“ habe, so insbesondere die Diskussion über das „doppelte Kappa“. Diese bibelhermeneutische Argumentationsfigur, die bei der Interpretation des Bibeltextes eine Lesart ad captum vulgi loqui (das heißt angepasst an den Verstehenshorizont der biblischen Zeitgenossen) unterstellt, wurde durch die new science und die Argumentationsstrategien der Medizin virulent und durch Pufendorf über Wittich rezipiert (S. 291). Durch die Infragestellung des biblischen Literalsinnes sei der Text der Bibel teilweise entautorisiert worden. Andere Wissensformen konnten so als Ressourcen zur Gewinnung von Wissensansprüchen Geltung erlangen (Medizin). Im sechsten Kapitel werden diese Studien vertieft. Hier zeigt De Angelis am Beispiel von Richard Cumberland, wie eine „posthobbessche“ Anthropologie durch eine Veränderung des Naturgesetzbegriffes möglich wurde.

Die Studie von De Angelis lässt im Unklaren, in welcher Weise einige der zentralen Begriffe verwendet werden („anthropologische Wissensformation“, „Wissensansprüche“, „epistemische Situation“) und demzufolge auch, wie einige apodiktische Aussagen genau zu verstehen sind. Einerseits kritisiert De Angelis eine Geschichtsschreibung, die die Anthropologie des 16. und 17. Jahrhunderts grob vereinfachend als „metaphysisch“ und „theologisch“ abqualifiziert. Andererseits unternimmt er es auf der Basis eines eher schmalen Quellencorpus selbst, umfassende Thesen zu generieren, wie etwa diejenige, wonach „die Beschreibung der Genese und Entwicklung der modernen Anthropologie auf der Grundlage der Beziehung zwischen dem Begriff des Naturgesetzes und dem medizinischen Wissen zu erfolgen hat“ (S. 350). De Angelis zeigt mit seiner Untersuchung zwar, dass eine solche Rekonstruktion höchst attraktiv sein kann, aber die Ausblendung großer Traditionslinien in den Wissenschaften von den Menschen und ihren Arten, wie etwa der französischen Tradition des 17. und 18. Jahrhunderts, macht es fraglich, ob es auf der Basis dieses Quellencorpus (dessen Zustandekommen unklar ist) zulässig ist, derart globale Thesen zu formulieren. Der Versuch der Erklärung aller „Anthropologien“ des 18. Jahrhunderts aus einem Prinzip heraus (S. 398) überrascht auf zwei Weisen: zum einen, weil der Titel „Anthropologien“ hier eine plurale Betrachtungsweise erwarten lässt, zum anderen, weil gerade die methodische Herangehensweise mit den Begriffen des „Wissensanspruches“ und der Betrachtung von Autorisierungsvorgängen ihre Stärke aus der Kritik an einer einheitsstiftenden Geschichtsschreibung schöpft. Damit wird das kritische Potential der Studie von De Angelis – die Kritik an einer vereinfachenden Konstruktion eines einheitlichen historischen Narrativs – unterlaufen.

Die konzisen Darstellungen von bestimmen Diskussionen, wie etwa den aristotelischen Debatten, können hingegen vollständig überzeugen. Die Darstellung von Kontroversen, die gewissenhafte und ideenreiche Arbeit an den Texten bilden die große Stärke der Arbeit. Die Vielfalt der dargestellten Wissensbereiche macht deutlich, wie unterschiedlich die von den zeitgenössischen Quellen berücksichtigten Diskussionsebenen waren. Trotz der oben benannten Probleme ist die von De Angelis fruchtbar gemachte Heuristik vielversprechend. Diese ist unerlässlich, will man die Pluralität denkbar machen. Wie dies bewerkstelligt werden kann, hat De Angelis in seiner Studie sehr überzeugend – und auch sprachlich sehr ansprechend – aufgezeigt. Darüber hinaus konnte er zeigen, wie lohnend ein Blick in die Quellen der Anthropologie(n) in der Renaissance ist, wenn man die Geschichte der Anthropologie(n) des 18. Jahrhunderts zu schreiben unternimmt.

Anmerkung:
1 De Angelis nutzt hier Lutz Dannebergs Begriff der „Wissensansprüche“, der darauf hinweist, dass es bei der wissenschaftshistorischen Untersuchung nicht darum gehe, fertiges Wissen zu untersuchen, sondern immer nur um den Anspruch und die Strategie bestimmter Akteure, Wissen zu generieren.

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