U. Daniel u.a. (Hrsg.): Massenmedien im Europa des 20. Jahrhunderts

Titel
Massenmedien im Europa des 20. Jahrhunderts.


Herausgeber
Daniel, Ute; Schildt, Axel
Reihe
Industrielle Welt 77
Erschienen
Köln 2010: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
416 S.
Preis
€ 42,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Henrich-Franke, Fachbereich 1/Geschichte, Universität Siegen

Massenmedien fällt in modernen Gesellschaften die Funktion zu, die gesellschaftlichen Kommunikationsströme zu strukturieren und zu organisieren. Ihre Mitglieder können nicht mehr direkt miteinander kommunizieren, wohl aber können alle Individuen synchron die gleichen massenmedialen Angebote konsumieren. Derartiger massenmedialer Konsum erzeugt Vorstellungen und Räume imaginierter Gemeinschaften, in denen spezifische Identitäten konstruiert, rethematisiert und bestätigt werden. Insbesondere im 20. Jahrhundert hat die Erweiterung und Ausdifferenzierung des massenmedialen Ensembles zu einer Veränderung öffentlicher Sphären geführt. Diese gern als Medialisierung bezeichneten Entwicklungen sind – wie die Herausgeber des zu diskutierenden Sammelbandes treffend bemerken – ein „markanter Grundzug der europäischen Moderne und ein Kern deren Dynamik im 20. Jahrhundert“ (S. 11). Gilt diese Dynamik mit Blick auf die nationalstaatliche Dimension in Europa – zumindest für die Nationalstaaten Westeuropas – mittlerweile als meist gut erforscht, so ist die europäische Dimension dieser neuen medialen Qualität bisher in ihrer Umsetzung nur in Ansätzen untersucht worden. Europäische Mediengeschichte präsentierte sich bisher vorwiegend als Addition oder Komparation nationaler Geschichtsschreibung(en). Stellt einerseits die europäische Dimension ein Desiderat historischer Forschung dar, so kritisieren die Herausgeber an den bisherigen Forschungen andererseits eine weitgehende Herauslösung „der technisch basierten Massenmedien […] aus ihren historischen, nationalen oder kulturellen Kontexten“ (S. 11), wodurch ihre Entwicklungen allzu oft als säkulare Tendenzen beschrieben werden, die als Summe die so genannte Medialisierung ausmachen.

Ausgehend von den skizzierten Beobachtungen formulieren die Herausgeber des Sammelbands das Ziel einer mediengeschichtlichen Erweiterung der allgemeinen Geschichte. Zwei Aspekte werden dabei besonders betont. Erstens versucht der Band danach zu fragen, „welche Bedeutung den technisch basierten Massenmedien im Zusammenhang der transnationalen und internationalen Austausch-, Wechselwirkungs- und Abgrenzungsprozesse zukommt, die für die Geschichte des 20. Jahrhunderts im Allgemeinen und diejenige Europas im Besonderen konstitutiv sind“ (S. 13). Hierbei soll der Bezugsrahmen Europa nicht handbuchartig erfasst werden. Vielmehr wird eine mediengeschichtliche Perspektive intendiert, welche die Grenze zwischen nationaler, trans- und internationaler Geschichte obsolet werden lässt, aber gleichzeitig die verschiedenen Konstitutionen der territorial-politischen Bezugsgröße Europa unter den Bedingungen entfalteter massenmedialer Ensembles aufzeigt. Zweitens sollen die mediengeschichtlichen Analysen nicht ohne Konkretisierung ihrer kontextuellen Voraussetzungen betrieben werden. Wenn der Band dabei von der Kontextualisierung der Massenmedien spricht, zielen die Herausgeber auf die vergesellschaftende Wirkung von Massenmedien ab, womit – im Sinne Georg Simmels – der Blick darauf gelenkt werden soll, „welche Wechselwirkungen zwischen Individuen, Gruppen oder Institutionen soziale und kulturelle Konfigurationen entstehen lassen, verfestigen, lösen oder gegenseitig abgrenzen“ (S. 23). Zusammengefasst strebt der Band nicht mehr – aber auch nicht weniger – an, als „für die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts einen Beitrag“ zu einer „kontextualisierten Version der Mediengeschichte“ zu liefern (S. 12). Dass dieses hochgesteckte Ziel den Herausgebern selber recht ambitioniert erscheint, lässt sich dadurch erahnen, dass sie es am Schluss ihrer gelungenen Einleitung dahingehend relativieren, lediglich eine „Einstiegshilfe in ein noch unzureichend vermessenes Gebirge, die europäische Mediengeschichte des vergangenen Jahrhunderts als Teil von dessen allgemeiner Geschichte“ geben zu wollen (S. 25).

Angesicht des skizzierten Forschungspanoramas ist es durchaus realistisch, wenn sich die Herausgeber mit einem Beitrag zufrieden geben, „der die historische und aktuelle Relevanz eines solchen Zugangs zur Geschichte der Medien“ (S. 26) unterstreicht und zu weiteren Explorationen in dieses Terrain motiviert. Hierzu gliedert sich der Sammelband thematisch-analytisch in drei Abschnitte (Massenmediale Vergesellschaftung; Medien, Recht und Politik; Medienthemen – Medien als Thema), innerhalb derer jeweils chronologisch aufgebaut insgesamt 15 Einzelstudien vorgenommen werden. Inhaltlich differenziert der Band erstens nach der homogenisierenden bzw. differenzierenden Rolle der Medien, zweitens nach den Rahmenbedingungen, in deren Kräftefeldern die Medien stehen, und drittens nach zentralen Themenbereichen, an denen Beispiele medialer Vergesellschaftung inhaltlich festgemacht werden sollen.

Für den Rezensenten gilt es – wie immer bei Sammelbänden – zwischen der Qualität der einzelnen Beiträge und derjenigen des Bandes als Gesamtkomposition zu unterscheiden. Was den ersten Aspekt betrifft, so kann hier freilich nicht jeder Beitrag diskutiert werden. Generell führen die einzelnen Beiträge auf einem hohen, aber gleichzeitig verständlichen Niveau in die einzelnen Facetten des Themas ein. Die Vorgaben – insbesondere die sozialgeschichtliche Einbettung – werden jedoch nicht in allen Beiträgen überzeugend aufgegriffen. Zwei Beiträge stechen in den Augen des Rezensenten besonders heraus, da in ihnen die Verklammerung der einleitend formulierten Ziele und Fragen mit dem jeweiligen Einzelthema besonders gelungen erscheint. Erstens gelingt es Dominik Geppert am Beispiel der Europäischen Auslandsberichterstattung um 1900 sehr überzeugend, das Spannungsfeld von Nationalisierung und Internationalisierung des Massenmediums Zeitung in der schwierigen Phase vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs aufzuarbeiten. Zweitens gilt es den Beitrag von Jan C. Behrends zur Geschichte der Öffentlichkeit in der Sowjetunion und in Osteuropa (1917-1991) herauszustellen. Sehr gelungen zeigt Behrends die vergesellschaftende Wirkung der Massenmedien, indem er die Reaktion(en) der Bevölkerung, unter anderem den Rückzug ins Private, auf die jahrzehntelange Durchherrschung der Öffentlichkeit nachzeichnet.

Dass der Sammelband – als Gesamtwerk – nicht alle Facetten des Themas abbilden kann, versteht sich von selber. Nichtsdestotrotz zeigen sich Lücken, auf die es hinzuweisen lohnt. Erstens überrascht den Rezensenten die Unterbelichtung der Bedeutung der Technik für die Entwicklung der Massenmedien im Europa des 20. Jahrhunderts. Zwar wird in der Einleitung wiederholt auf die technische Basiertheit der Massenmedien hingewiesen, aber im Folgenden findet sich dieser Aspekt lediglich in einem Überblicksartikel von Wolfgang König wieder, der zwangsläufig nur eine oberflächliche Skizze entwerfen kann. Dieses Desiderat ist umso dringlicher, als die vergesellschaftende Wirkung letztlich immer nur dort ansetzen kann, wo die technischen Eigenschaften der Massenmedien wie etwa technische Standards oder Sende-/Empfangsgebiete dies erlauben. Zweitens kommt dem Rezensenten die wirtschaftliche Dimension der Massenmedien – bei allem Verständnis für die sozialgeschichtliche Perspektive – etwas zu kurz. Massenmedien haben einen bedeutenden (europäischen) Markt konstituiert, sowohl was die Finanzierung massenmedialer Angebote als auch was die Geräte produzierende Industrie betrifft. Wie sehr internationale Austausch-, Wechselwirkungs- und Abgrenzungsprozesse auch durch die wirtschaftliche Bedeutung von Massenmedien determiniert werden, hat Andreas Fickers erst kürzlich am Beispiel der Farb-TV-Kontroverse treffend gezeigt.1

Zu kritisieren ist schließlich die allzu deutsche Perspektive auf die Geschichte der Massenmedien im Europa des 20. Jahrhunderts, die den Leser nur ansatzweise für Nuancen und Schattierungen innerhalb Europas sensibilisiert. Schon die Zusammenstellung der Autoren zeigt eine klare Fokussierung auf die deutsche Forschung und Perspektive – symptomatisch ziert das Cover des Bandes ein Bild des Bundeskanzlers Konrad Adenauer nach der Bundestagswahl 1953. Ob der Sammelband – wie angestrebt – die Grenze zwischen nationaler, trans- und internationaler Geschichte obsolet werden lässt, aber gleichzeitig dennoch die verschiedenen Konstitutionen der territorial-politischen Bezugsgröße Europa unter den Bedingungen entfalteter massenmedialer Ensembles aufzeigt, muss daher angezweifelt werden. Zudem wirkt der Band auf den Verfasser mehr als eine Bestandsaufnahme der existierenden Forschung denn als eine zielgerichtete Öffnung neuer Horizonte, da nur wenige Beiträge innovative und neue Forschungsansätze und -erkenntnisse bringen. Insofern erscheint die einleitende Relativierung der eigenen Ziele durch die Herausgeber durchaus berechtigt. Nichtsdestotrotz besteht in der Zusammenführung der unterschiedlichen Forschungsarbeiten die eigentliche Stärke des Bandes. Er führt in der Kompaktheit eines Sammelbandes eine Vielzahl von Ansätzen und Perspektiven zusammen, die ansonsten allzu oft isoliert nebeneinander stehen. Profitiert hätte der Band letztlich von einer reflektierenden Zusammenführung der Beiträge mit Blick auf die einleitend formulierten systematischen Fragen und Erkenntnisinteressen. Wie so oft bei Sammelbänden bleibt es dem Leser überlassen, die Ergebnisse zu synthetisieren.

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass der – trotz aller Kritik – äußerst lesenswerte Sammelband dem medienhistorisch interessierten Historiker durchaus eine „Einstiegshilfe“ in das „noch unzureichend vermessene Gebirge“ (S. 25) der europäischen Mediengeschichte liefert. Ob er aber die medienhistorische Forschung zu neuen Explorationen motiviert, bleibt abzuwarten.

Anmerkung:
1 Andreas Fickers, “Politique de la grandeur” vs. “Made in Germany”. Politische Kulturgeschichte der Technik am Beispiel der PAL-SECAM-Kontroverse, München 2007; vgl. die Rezension von Rainer Karlsch. In: H-Soz-u-Kult, 22.12.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-4-250> (13.12.2010).

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