Titel
Europa backstage. Expertenwissen, Habitus und kulturelle Codes im Machtfeld der EU


Autor(en)
Poehls, Kerstin
Anzahl Seiten
276 S.
Preis
€ 28,80
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Annina Lottermann, Kulturwissenschaftliches Institut Essen (KWI)

In der wissenschaftlichen Literatur gibt es gegenwärtig eine stetig wachsende Anzahl an Publikationen zum Thema Europa. Ihre Vielzahl drückt sich nicht nur in der großen Menge der Veröffentlichungen aus, meist Einzelfallstudien zu unterschiedlichen Kontexten, sondern auch in den behandelten Themen, gewählten Perspektiven und beteiligten Disziplinen. Dabei unterliegen die verschiedenen Deutungsansprüche erheblicher Konkurrenz, aber weisen auch große Überschneidungen und Abgrenzungsproblematiken auf. In diesem heterogenen und häufig unklaren Feld ist es schwierig, neue wegweisende Forschungsfelder und -perspektiven aufzutun.

In der Kulturanthropologie und Europäischen Ethnologie hat sich das Interesse an Europa in den vergangenen Jahren erheblich gewandelt. Wurde Europa einst als geographischer Referenzpunkt begriffen und wurden Forschungen vor allen Dingen auf der lokalen Mikroebene durchgeführt, wendet sich das aktuelle Forschungsinteresse verstärkt den komplexen Wechselwirkungen zwischen lokalen, regionalen, nationalen und supranationalen Ebenen zu. Dabei geraten zunehmend auch die Europäische Union und der Prozess der Europäisierung in den Blick. Hierbei werden vielfältige Akteure und ihre vielseitigen alltäglichen Praktiken, mit denen sie Europa innerhalb der Grenzen der Europäischen Union und darüber hinaus mitgestalten, analysiert.

Die Berliner Europäische Ethnologin Kerstin Poehls beschäftigt sich in ihrer Dissertation „Europa backstage. Expertenwissen, Habitus und kulturelle Codes im Machtfeld der EU“ mit jungen Studierenden am privaten Europakolleg (offizieller Name Collège d’Europe/ College of Europe) im belgischen Brügge und polnischen Natolin. An diesen renommierten und traditionsreichen Postgraduierten-Ausbildungsstätten werden seit 1949 (Brügge) bzw. 1993 (Natolin) internationale Nachwuchskräfte zwei Semester lang auf eine berufliche Zukunft in Institutionen in und im Umfeld der Europäischen Union in Brüssel und den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten vorbereitet. Studienplätze sind begehrt und kostspielig und nur nach einem erfolgreich bestandenen anspruchsvollen Bewerbungsverfahren zugänglich. Sie versprechen den Absolventinnen und Absolventen jedoch einen Karriereeinstieg in EU-Administrationen und Zugänge zu einflussreichen Netzwerken.

Kerstin Poehls beleuchtet den Internats- und Studienalltag eines Ausbildungsjahrgangs schwerpunktmäßig am Kollegstandort in Brügge. Auf der Basis einer mehrmonatigen ethnographischen Feldforschung, mittels teilnehmender Beobachtung, Interviews mit den Studierenden und Kollegmitarbeitern, informellen Gesprächen und Dokumentenanalysen liefert sie eine detaillierte Beschreibung der Prozesse und Praktiken in der Ausbildung einer zukünftigen europäischen Elite. Sie zeigt, dass es dabei neben dem Erwerb von Fachwissen und dem Aufbau von Netzwerken um die Herausbildung eines spezifischen europäischen Habitus geht („Homo Europaeus“). Dieser wird, so die Autorin, von den kulturpolitischen Vorstellungen der Europäischen Union wesentlich geprägt, aber in den alltäglichen Interaktionen der Studierenden und Kollegmitarbeiter auch eigenständig ausgehandelt, eingeübt („backstage“) und mitgestaltet („making“). Poehls spricht hierbei von einer spezifischen „EUropäischen“ Kultur, die sich durch informelles Wissen, distinktive Verhaltensweisen, Widersprüche und Machtstrukturen auszeichnet und deren Beherrschung als notwendig angesehen wird, um sich erfolgreich auf europäischem Terrain bewegen zu können. Theoretisch siedelt die Autorin ihre Arbeit zwischen sozialkonstruktivistisch inspirierten Europakonzepten, Foucaultscher Gouvernementalitätstheorie, machtsensiblen Konzepten von Intersektionalität sowie der Goffmannschen Metapher der Bühne an, auf der soziale Handlungsmöglichkeiten vor dem Hintergrund bestimmter Kontextmöglichkeiten quasi „einstudiert“ und ausgelotet werden.

Im ersten der drei Hauptkapitel ihrer Dissertation beschreibt Kerstin Poehls den Gründungsmythos des Kollegs und die damit einhergehenden Narrative. Sie arbeitet heraus, wie Erzählungen über dessen Entstehung immer wieder an die Gründungsideale der Europäischen Gemeinschaft bzw. Union und zentrale damit verbundene männliche Persönlichkeiten zurückgebunden werden. So trägt beispielsweise jeder Kollegjahrgang den Namen eines berühmten europäischen Gründungsvaters. Poehls bewertet diesen Aspekt nicht nur unter Gendergesichtspunkten, sondern auch als eine Profilierungsstrategie des Kollegs im europäischen Ausbildungswettbewerb.

Kapitel zwei stellt die Lebensstilentwürfe und Biographien der am Kolleg Studierenden dar. Kerstin Poehls konzentriert sich hierbei auf gemeinsame Merkmale und macht deutlich, dass die meisten Kollegmitglieder eine transnationale Biographie aufweisen, im Umgang mit Dringlichkeit geübt sind, sich zum Politischen positionieren, ohne zwangsläufig politisch zu sein, und bürgerliche Etikette auch im Umgang mit Körperlichkeit, beispielsweise beim Tanz, beherrschen. Die Autorin bewertet diese Eigenschaften als Attribute, die im Kollegkontext auf ihre Europatauglichkeit geprüft und entsprechend weiterentwickelt und positioniert werden.

Das dritte Kapitel thematisiert die Konstruktion von Ortsbezügen im Kollegalltag und fragt danach, wie an den Standorten Brügge und Natolin die unterschiedlichen nationalen Herkünfte der Studierenden als Stereotype zur Sprache gebracht und hierarchisierend eingesetzt werden. Ähnlich wie im vorangehenden Kapitel setzt Kerstin Poehls diese in Bezug zu ihrer situationsspezifischen Anwendung und ihrem strategischen Einsatz im europäischen Kontext.

Im letzten und abschließenden Kapitel schlussfolgert Kerstin Poehls insgesamt, dass am Europakolleg in Brügge und Natolin eine spezifische Form des Europäisch-Seins eingeübt wird, die sich zwischen einer Rückbesinnung auf historische Gründungsideale und einer eigenständigen Aktualisierung bewegt und weniger ein fertiges Produkt als vielmehr ein strategisch nutzbares Handlungsvermögen darstellt. Das Kolleg sieht sie in diesem Zusammenhang als einen transnationalen Kristallisationspunkt und Katalysator unterschiedlicher Vorstellungen von Europäisch-Sein an.

Kerstin Poehls gelingt es, in ihrer Dissertation ein neues Feld nicht nur kulturanthropologischer und europäisch-ethnologischer Europaforschung zu erschließen und eine innovative Perspektive zu entwickeln. Der Mehrwert ihrer Arbeit (und vielleicht auch der Kniff) liegt darin, das Augenmerk einen Schritt zurück auf den Ausbildungsprozess zukünftiger europäischer Führungspersönlichkeiten zu legen. So beleuchtet sie Elite im EU-Kontext nicht als feststehendes (oder vorrangig als problematisches) Konzept, sondern in ihrer alltagspraktischen und häufig widersprüchlichen Entwicklung. Das ermöglicht den Blick auf die verschiedenen kulturellen Vorstellungen, Attribute und Spannungen, die damit einhergehen, und verdeutlicht, dass es sich dabei um einen kulturellen Aushandlungsprozess handelt. Auch die von Kerstin Poehls gewählte theoretische Herangehensweise an der Schnittstelle zwischen praxeologischer und performativer Analyse bringt in dieser Hinsicht neue Einsichten hervor, zumal die Autorin Aspekte von Subjektbildung, Raumorientierung und Körperlichkeit einbezieht. Beides liefert für die Erforschung von Europa(-Vorstellungen) und Elitenkulturen wichtige qualitative Impulse und ist anschlussfähig an politik-, sozial- und geschichtswissenschaftliche Überlegungen. Für die Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie sind zudem Poehls’ Überlegungen zum Umgang mit Forschungen im eigenen bzw. bekannten Umfeld wichtig und wie sie dies in eine reflektierende deskriptive Darstellungsform überführt. Darüber hinaus bestechen die engagierte Forschungspraxis der Autorin – Kerstin Poehls hat im Rahmen ihrer Forschung äußerst tiefe Einblick in den Kollegalltag beispielsweise in die Bewerbungsunterlagen der Studierenden erhalten können – und ihr lebendiger Schreibstil, der die Lektüre nicht nur zu einem ethnographischen Glanzstück, sondern auch zu einem bildreichen und spannenden Leseerlebnis macht. Man mag einzig bezweifeln, ob das Kolleg wirklich ein solch in sich geschlossenes, quasi laborartiges Feld darstellt. Aber auch diese Feststellung der Ethnographin weckt vor allem Neugier auf das Feld und Interesse, es intensiver zu betrachten.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/