J.-D. Müller u.a. (Hrsg.): Pluralisierungen

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Titel
Pluralisierungen. Konzepte zur Erfassung der Frühen Neuzeit


Herausgeber
Müller, Jan-Dirk; Oesterreicher, Wulf; Vollhardt, Friedrich
Reihe
Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit 21
Erschienen
Berlin 2010: de Gruyter
Anzahl Seiten
XIV, 324 S.
Preis
€ 79,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Robert Seidel, Institut für Deutsche Literatur und ihre Didaktik, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main

Der anzuzeigende Band dokumentiert anschaulich Fluch und Segen großer interdisziplinärer Forschungsprogramme, wie sie von den wichtigen Förderinstitutionen (zum Beispiel der DFG) unterstützt und zunehmend von den Hochschulleitungen und Teilen der wissenschaftlichen Öffentlichkeit als Ausweis von ‚Exzellenz‘ und ‚Drittmittelstärke‘ eingefordert werden. Der Münchner Sonderforschungsbereich (SFB) 573 „Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit“ ist Träger eines solchen Forschungsprogramms. Er besteht seit 2001, wird von renommierten Vertretern zahlreicher kulturwissenschaftlicher Disziplinen geleitet, verfügt über eine ausgezeichnete, stets aktualisierte Internet-Plattform 1 und hat in den vergangenen Jahren eine beeindruckende Zahl von Konferenzen abgehalten und Publikationen – Sammelbände und Monographien – hervorgebracht.

In den halbjährlich erscheinenden, den Rang einer wissenschaftlichen Zeitschrift beanspruchenden „Mitteilungen“ des SFB wird jeweils zu Beginn eine konzise Fassung des Forschungskonzeptes abgedruckt, aus dem hervorgeht, dass „Pluralisierung […] die Vermehrung der in einem Lebens- oder Kulturbereich bekannten und relevanten Repräsentationen der Wirklichkeit“ meint, dass zugleich aber, da „Pluralität noch nicht Pluralisierung bedeutet“, deren adäquate Erfassung das komplementäre Konzept der „Autorität“ voraussetzt. Freilich: „Das Verhältnis von Pluralisierung und Autorität ist […] keineswegs deckungsgleich mit dem von Innovation und Beharrung“, denn „die dynamischen Momente der Pluralisierung stehen der Statik vorgegebener Autoritäten nicht einfach antithetisch gegenüber, vielmehr sind beide in vielfältiger Weise miteinander verflochten“.2

Über die periodische Rekapitulation des Forschungsansatzes hinaus sind die Organisatoren nach Kräften bemüht, ihr Vorgehen methodisch abzusichern und größtmögliche Transparenz herzustellen. So wurden in den Jahren 2002 und 2006 Kolloquien abgehalten, in denen man sich mit den komplementären Leitbegriffen des SFB – zunächst ‚Autorität‘, dann ‚Pluralisierung‘ – systematisch auseinandersetzte. Über diese Kolloquien wurde in der hauseigenen Zeitschrift berichtet 3, und es wurden Sammelbände herausgegeben, die einleitend über die Genese der Konferenzen und fällige Modifikationen bei der späteren Edition der Kongressakten Rechenschaft ablegen. Im Falle des vorliegenden Bandes, der die zweite dieser programmatischen Tagungen dokumentiert, griff man im Vorwort auf die „Präambeln der Anträge zur Einrichtung bzw. zur Fortführung des SFB“ (S. V) zurück und sah sich endlich zu einer systematischen Historisierung des eigenen Vorgehens genötigt: „Cornel Zwierlein untersucht die wissenschaftsgeschichtliche Genealogie der Problemfigur ‚Pluralisierung und Autorität‘“ (S. VIII). Zwierleins Beitrag eröffnet den Band.

All dies ist vor dem Hintergrund der häufig geäußerten Klagen, wonach in Sammelbänden und Festschriften beliebig zusammengestellte Lesefrüchte, unausgegorene Gefälligkeitsbeiträge und Überbleibsel abgelegter Forschungsinitiativen Eingang fänden, durchaus berechtigt. Heutzutage versucht man die Vorstellung von Wissenschaft als Dialog ernst zu nehmen und jene Kontingenz, die ein Signum (post)moderner Lebenswirklichkeit sein soll, jedenfalls in der eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit auszuschalten. Zugleich erscheint allerdings die Rhetorik von Vernetzung und Synergie ein wenig apologetisch, zwingen die Suprastrukturen der riesigen Forschungsverbünde den einzelnen Wissenschaftler doch allzu oft in ein Korsett übergeordneter Fragestellungen und Methoden, dem sich sein konkretes Forschungsinteresse zuweilen nur mit einigem Aufwand einpassen lässt.

Der Rezensent des Bandes wählt daher zunächst einen anderen Lektürezugang, indem er die Perspektive des interdisziplinär interessierten Nutzers wählt, der einen Sammelband mit Frühneuzeitthemen in Bezug auf wichtige Fragestellungen, schlüssige Argumentationen und solide Materialpräsentation mustert. Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis zeigt, dass neun der 14 Beiträge sich als Fallstudien zu den Komplexen „Religion und Pluralisierung“ bzw. „Pluralisierung des Wissens“ ausweisen. Auch unter der einleitenden Rubrik „Konzeptionalisierungen der Frühen Neuzeit“ widmen sich zwei Aufsätze der humanistischen Sprachendebatte (Florian Mehltretter, Jörg Robert), in der es bekanntlich nicht nur um die Frage nach Latein versus Volkssprache, sondern generell um die Ausdifferenzierung von Kunst- und Fachsprachen bzw. um die Leistungsfähigkeit von ‚Sprache‘ (S. 65) überhaupt ging. Mit Sprache, Religion und Wissen stehen also drei Diskursfelder im Zentrum des Bandes, die für die Frühneuzeitforschung fraglos höchste Relevanz besitzen.

Dass die konfessionelle Spaltung Europas einerseits zu weiterer Differenzierung, ja Radikalisierung auch innerhalb des Protestantismus führte, andererseits aus theologischer wie aus politischer Perspektive Versuche zur Etablierung fester Strukturen und zur (partiellen) Einigung zwischen den Konfessionen unternommen wurden, ist ein bekanntes Faktum. Gewiss können Phänomene wie die Debatte um den Supremat des Königs über die ‚Church of England‘ (Gabriela Schmidt / Enno Ruge), die Veröffentlichung des Book of Common Prayer (Brian Cummings) oder die Einrichtung und das Wirken des ‚Corpus Evangelicorum‘ als halboffizielles Organ des Immerwährenden Reichstags (Peter Brachwitz / Edith Koller) mit dem Interesse der Frühneuzeitforschung rechnen, zumal wenn sie – wie in diesem Band durchweg geschehen – in quellengestützten Untersuchungen aufgearbeitet werden. In der polemisch geführten Auseinandersetzung um den 1534 vom Parlament ratifizierten Anspruch Heinrichs VIII., als souveräner Fürst seines Landes auch dessen Kirche vorzustehen, spielte der Dualismus der ‚zwei Kirchen‘, der je nach Standpunkt unterschiedlich gefasst werden konnte (S. 173), eine wichtige Rolle. Eine Vereinheitlichungsmaßnahme besonderer Art war die 1699 von den protestantischen Reichsständen beschlossene Kalenderreform, die natürlich keineswegs eine willfährige Angleichung an den Gregorianischen Kalender darstellte, sondern von praktischen Notwendigkeiten bestimmt war und als eigenständige Leistung des Protestantismus (Verbesserter Kalender) präsentiert werden konnte (S. 132).

Von besonderem interdisziplinärem Interesse sind traditionell Studien zur Geschichte des Wissens, seiner Ordnung, Abbildung und Funktionalisierung. Die frühneuzeitliche Vervielfältigung der Wissensbestände wurde von den Zeitgenossen als ebenso faszinierend wie problematisch gesehen. Die Etablierung der ‚Litterärgeschichte‘ bzw. ‚historia litteraria‘ (Frank Grunert) führte beispielsweise dazu, dass man einen immer gründlicheren Einblick in die Geschichte der Disziplinen, die Lebensläufe und Leistungen ihrer Vertreter sowie den Stand des jeweils erreichten Wissensfortschritts erlangte, zugleich aber gerade aufgrund dieser Kenntnisse eingestehen musste, dass ohne eine Verteilung auf mehrere, von Spezialisten zu erarbeitende Kompendien die Gesamtheit des Wissens nicht mehr zu erfassen war (S. 197). Rückgriffe auf Rhetorik und Topik als Leitstrategien frühneuzeitlicher Wissensordnung zeigen sich an der Verwendung von Metaphern als Integrationsmedien in den zeitgenössischen Enzyklopädien (Martin Schierbaum) – man denke an Theodor Zwingers berühmtes Theatrum vitae humanae (1565) – oder an groß angelegten Tabellenwerken (Benjamin Steiner), die als besonders anschaulichen Beweis für die noch auszufüllenden Wissenslücken teilweise umfangreiche Leerstellen in der Präsentation historischer Zusammenhänge markierten (S. 242).

Es ist offenkundig, dass die weitaus meisten Aufsätze des Bandes sich tatsächlich mit Gegenständen und Entwicklungen befassen, für deren Beschreibung die Begrifflichkeit von ‚Pluralisierung‘ und ‚Autorität‘ passend erscheint. Dies gilt nicht zuletzt für einen spannenden literaturwissenschaftlichen Beitrag über das „Wimmeln“ und „Wuchern“ frühneuzeitlicher Erzählsammlungen wie Johannes Paulis Schimpf und Ernst (1522), wo in der subtilen Analyse der Erzählungen und der sie strukturierenden Paratexte erkennbar wird, wie „im Kontrast zu dieser paratextuell konstruierten Ordnung […] ihre ungefüge semantische Pluralität deutlich hervor“ tritt (Frieder von Ammon / Michael Waltenberger, S. 283). Bisweilen führt der Rekurs der Autoren auf das vorgegebene Konzept freilich zu einer gewissen terminologischen Überfrachtung, womit vor allem ein stilistisches Problem benannt ist. Muss es im Kontext frühneuzeitlicher Konflikte um die Durchsetzung konfessioneller Positionen wirklich heißen, dass „solche Resemantisierungen religiöser Einheit […] der Rechtfertigung pluralisierender Innovation dienen“ konnten (Schmidt / Ruge, S. 164)? Ist die Ciceronianismusdebatte des 16. Jahrhunderts notwendig dadurch zu charakterisieren, dass „die Reduktion einer ganzen Sprache auf einen einzelnen Stil […] das (nur) Plurale zur ‚gefühlten‘ Pluralität im Sinne innersystemischer ‚Irritation‘ werden“ ließ (Robert, S. 54)?

Allerdings gibt es auch Fälle, in denen die Wahl des Pluralitätsparadigmas nicht ganz so überzeugend ist. Wenn die zunehmend empirisch arbeitenden Naturwissenschaften ihr spezifisches Potential im 17. Jahrhundert im Gewand metaphorischer Umschreibungen zum Ausdruck brachten (Bernhard F. Scholz, S. 269), wird dadurch vor allem die wohl zeitunabhängige Suggestivkraft des rhetorischen ornatus gerade auch auf einem Feld demonstriert, auf dem eigentlich allein „das Experiment […] die Gegenstandssicherung zu leisten“ hat (S. 270). Genau diesen Umstand reflektiert der Verfasser im Rekurs auf das „Strukturschema von Pluralisierung und Autorität“. Demnach „manifestiert sich hier die vom Strukturschema unterstellte Pluralisierung ja nicht als objektsprachige Vervielfältigung bestimmter Entitäten, sondern ‚nur‘ als metastufige Verdoppelung, und zwar als Verdoppelung der Möglichkeiten der Gegenstandssicherung“ (S. 256). Hier wie auch sonst nicht selten wird offenkundig versucht, den Pluralisierungsdiskurs um den Preis einer gewissen obscuritas für die eigene Argumentation auch da zu nutzen, wo es sich nicht unbedingt anbietet. Ein rechtshistorischer Beitrag zum Dualismus von positivem und natürlichem Recht (Jan Schröder) stellt hingegen – im Kontext des Sammelbandes etwas provozierend – die Anwendbarkeit des Pluralisierungsparadigmas in Frage und weist für das 17. Jahrhundert die Tendenz nach, „den alten Rechtsquellenpluralismus gerade zu überwinden“ (S. 112).

Die Struktur des Forschungsprogramms verführt womöglich dazu, Phänomene aller Art unter dem gewählten Aspekt zu analysieren, da die Gegenstände sich scheinbar allzu leicht in das dialektische Schema einspannen lassen. Vielsagend ist hier das Vorwort des Bandes, das sich als Kette von Pointen präsentiert: „Autorität ist selbst plural. […] Unter den Bedingungen frühneuzeitlicher Pluralisierungen ist Autorität stets Resultat von Autorisierungsprozessen. […] Pluralisierung ist immer auch Pluralisierung von Autorität und damit Infragestellung von deren Singularität und Unantastbarkeit. […] Pluralisierungen gehen immer auch mit Unifizierungs- oder Homogenisierungsschüben einher“ (S. VI-VII). Man mag sich nicht vorstellen, wie eine Gruppe von Nachwuchsforschern untereinander kommuniziert, wenn sie einige Jahre unter diesem Paradigma gemeinsam gearbeitet hat.

Andererseits zeugt die geleistete Arbeit, von der Gesamtkonzeption des Sonderforschungsbereichs bis zur Einzelfallstudie, von wissenschaftsstrategischer Energie, methodischer Reflektiertheit und – betrachtet man die übrigen Publikationen der am Band beteiligten Mitglieder des SFB – auch von großer Effizienz bei der Umsetzung der Forschungsprojekte. Der Sammelband bringt für den unbeteiligten Leser denn auch nicht nur informative Einzelstudien zu relevanten Themen, er führt auch in ein spannendes Forschungsprogramm ein, das der Frühneuzeitforscher kennen sollte, auch wenn er sich nicht dem Pluralisierungsparadigma und seiner Rhetorik verschreibt.

Anmerkungen:
1 <http://www.sfb-frueheneuzeit.uni-muenchen.de> (15.12.2010)
2 So zuletzt in: Mitteilungen 2 (2010), S. 5.
3 Zu ‚Pluralisierung‘: Mitteilungen 1 (2007), S. 48-53.

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