A. Brendecke: Imperium und Empirie

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Titel
Imperium und Empirie. Funktionen des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft


Autor(en)
Brendecke, Arndt
Erschienen
Köln 2009: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
486 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marc-André Grebe, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Die jüngst auf dem Historikertag 2010 als beste Habilitationsschrift ausgezeichnete Monographie Arndt Brendeckes untersucht den Zusammenhang von Empiriegebrauch und Kolonialherrschaft zur Zeit der spanischen Habsburger. Anhand zahlreicher Fallbeispiele, vornehmlich aus dem 16. Jahrhundert, gibt die Arbeit Einblick in den vormodernen Umgang mit empirischen Daten wie auch in die kommunikative Interaktion innerhalb des institutionellen Gefüges der kolonialen Administration. Wie Brendecke mehr als einmal zeigt, hatte die empirische Revolution in Spanien mannigfaltige dysfunktionale Effekte. Die vorliegende Untersuchung trägt so dazu bei, den Mythos vom straff zentral geführten Reich der spanischen Habsburger zu dekonstruieren. Die große Leistung des Autors ist aber zweifelsohne die Synthese von ideen-, wissenschafts- und kommunikationsgeschichtlichen Ansätzen sowie deren Einbettung in die Politikgeschichte wie auch deren Verknüpfung mit der Kulturgeschichte der Verwaltung des spanischen Imperiums.1

Gerade zur Zeit Philipps II. wurde bewusst das Ideal vom klugen und allwissenden König (rey prudente, rey sabio) gepflegt, der die Welt von seinem Schreibtisch im Escorial aus mit Feder und Papier regierte. Die Stilisierung Philipps zum ersten Bürokraten des vormodernen Staatsapparats und seines Arbeitseifers, der ihm den Beinamen „Papierkönig (rey papelero)“ (S. 32) einbrachte, verweisen auf die enorme Aufwertung schriftbasierter Regierungstechniken wie auch auf das rapide Anwachsen von Schriftlichkeit in dieser Zeit, das eine wesentliche Vorbedingung für die transatlantische Kommunikation darstellte. In dieser Art der Regierung war allerdings allein aufgrund der physischen Beschränkung der Arbeitskraft Philipps II. wie auch seiner Sekretäre bereits der Keim des Scheiterns angelegt.

Da die Vorstellung vom allwissenden Herrscher folgenreiche Implikationen für die nachfolgenden Ebenen der Verwaltung hatte, widmet sich Brendecke zunächst diesem Thema und damit der Analyse des ideengeschichtlichen Verhältnisses von Wissen und Herrschaft. Dabei legt er besonderes Augenmerk auf die verschiedenen Ansätze und Diskurse in vormodernen Fürstenspiegeln und der Traktatliteratur, die dem Herrscher einerseits „Allsicht“ unterstellten, andererseits aber auch Blindheit vorwarfen. Mit „Allsicht“ war nicht Allwissenheit gemeint, sondern die Vorstellung vom „Ideal herrschaftlicher [pastoraler] Aufmerksamkeit als Grundbedingung gesellschaftlicher Gerechtigkeit.“ (S. 336). Als „Blindheit des Königs“ bezeichneten vormoderne Traktate das Dilemma, das mit der Akkumulation von Macht und deren notwendiger Delegation immer einhergeht, nämlich, dass sich zwangsläufig „‚Korridore der Macht’ [bilden], die den Herrscher informationell entmündigen“ (S. 337).

Das zweite Kapitel „Wissen als Postulat des Herrschers“ analysiert die semantische Koppelung von Information und Entscheidung im Diskurs vormoderner Herrschaft. Methodologisch aufschlussreich ist die in diesem Abschnitt erfolgende sorgfältige Aufarbeitung der historischen Semantik und Begriffsgeschichte der Wortfelder informatio/informare, da sich, wie der Autor plausibel darlegt, mit dem Begriff der Information „ein spezifischer Rationalitäts- und Legitimitätsanspruch in den Sprachgebrauch ein[schrieb]“ (S. 73). Brendecke kommt zu dem Ergebnis, dass Wissen „im Sinne der aristotelischen Tradition auf Gründe, Information auf eine verfahrenstechnisch erworbene Kenntnis empirischer Umstände“ (S. 79) verweist.

Des Weiteren rekonstruiert der Autor überzeugend, dass die der inquisitorischen Rechtskultur entlehnten Verfahren der Zeugenbefragung die Grundlage für die Prozesse und Modelle bildeten, die in der Kolonialpolitik unter anderem zur Erhebung empirischer Daten verwandt wurden, aber auch der Kommunikation zwischen den Untertanen in den Kolonien und dem Mutterland dienten. Wie die Erhebung von Wissen vonstatten ging, zeigt er anhand einer ausführlichen Analyse eines Datensammlungsprojekts der Krone von gigantischem Ausmaß, bei dem mithilfe standardisierter Fragebögen Daten zu allen denkbaren Wissensgebieten Amerikas durch den Indienrat erhoben wurden. Ziel war die vollständige Kenntnis (entera noticia) der überseeischen Gebiete. Mittels der Analyse dieses Projektes, das von Juan de Ovando im Zuge einer Visitation des Indienrates ab 1569 initiiert wurde, und der nachfolgenden Erhebungen, die vor allem als Relaciones Geográficas bekannt geworden sind2, vermag Brendecke die breite Palette der angewandten Techniken wie auch die Grenzen der Leistungsfähigkeit der Verwaltung aufzuzeigen. Deutlich wird herausgearbeitet, dass Wissen über die Neue Welt vor allem mittels interrogativer Verfahren generiert wurde.

Nach einer Einführung in die Institutionen des spanischen Hofes sowie die maßgeblichen Räume und Medien des Wissens werden für den praktischen Umgang mit nautischem und kartographischem Wissen in der Casa de Contratación, einer in Sevilla angesiedelten kolonialen Verwaltungsinstitution, die theoretischen Erwägungen mittels eines Fallbeispiels überprüft. Anhand der Debatte um die Einführung neuer Seekarten zeigt Brendecke eine für die Geschichte des Herrschaftswissens exemplarische Situation, nämlich wie in Sevilla zu Beginn des 16. Jahrhunderts Wissenspraxis – in Form der Seefahrt – auf wissenschaftliche Theoriebildung traf. Neben dem wissenschaftsgeschichtlichen Erkenntniswert dieses Kapitels ist vor allem hervorzuheben, wie die Interessen der verschiedenen Akteure und Gruppen in der Auseinandersetzung um die Anfertigung einer zu verwendenden standardisierten Muster-Seekarte (padrón real) in die Analyse mit eingebracht werden und ein lebendiges Bild der Kommunikation und Interessenaushandlung zwischen den involvierten Akteuren gezeichnet wird.3

Brendeckes besonderes Verdienst ist hierbei, dass es ihm im Zuge der einem dezidiert praxeologischen Ansatz folgenden Analyse der mikropolitischen Ebene gelingt, die zum Teil widersprüchlich erscheinenden Motive der Akteure und deren Einbindung in familiäre und vor allem klienteläre Netzwerke auf überzeugende Weise offen zu legen. Niemals wurden nämlich nur Informationen zwischen den Kolonien und dem Mutterland ausgetauscht, sondern immer auch Interessen. So waren der Indienrat wie auch der König mit einer Flut an subjektiven Berichten und Petitionen konfrontiert, so dass letztlich ein diffuses und ungenaues Bild der Lage Amerikas für die Räte in Spanien entstand.

Auch überzeugt Brendeckes Argument, dass der Austausch von Wissen dabei nicht nur der Lieferung von Information an die in Madrid ansässigen kolonialen Verwaltungsinstitutionen diente, sondern vielmehr ein „konstitutiver Bestandteil der Aushandelung politischer Macht“ (S. 177) war, denn die Herrschaft auf Distanz der spanischen Habsburger, die niemals den amerikanischen Kontinent betraten, konnte nur mittels politischer Kommunikation funktionieren. So plädiert der Autor dafür, Herrschaft besonders im kolonialen Kontext als „Formation politischer Kommunikation“ (S. 340) zu begreifen. Dabei muss die Übermittlung von Informationen an den Madrider Hof auch als ein Gradmesser für die Loyalität bzw. Illoyalität der Untertanen in der Neuen Welt angesehen werden. Die Regierung der amerikanischen Territorien konnte nur mittels Vertrauen auf der einen und Kontrolle auf der anderen Seite geschehen. Dafür hielten die Krone und ihre Instanzen der Kolonialverwaltung verschiedene Kommunikationskanäle offen, um bewusst Denunziation zuzulassen, die sozialen Druck auf die Akteure in der Neuen Welt ausübte und lokale Handlungsspielräume einschränken sollte. Die gegenseitige Kontrolle sorgte so für ein normengerechtes Verhalten und stärkte die Stellung der Krone, da sie mit dieser der inquisitorischen Rechtskultur entlehnten Praxis „lokale Schweigekartelle auf[brach]“ und damit dazu beitrug, „die Kommunikations- und Loyalitätsstrukturen zu vertikalisieren“ (S. 49).

Auf Basis von umfangreichem Quellenmaterial und enormem Sachwissen gelingt es dem Autor mit der vorliegenden Habilitationsschrift, einen Einblick in die innerhalb der administrativen Institutionen ablaufenden Aushandlungsprozesse und die verschiedenen Kanäle der Kommunikation zu vermitteln. Zugleich gibt die Arbeit Aufschluss über frühneuzeitliche Herrschaftspraktiken, die vor allem auf der konsensualen Aushandlung von Interessen der verschiedenen Akteure und der Verteilung von Gunstbezeugungen fußten, mit denen Loyalität gesichert wurde. So wird in der Arbeit immer wieder die herausragende Bedeutung der Verteilung von Gunsterweisen (gracias y mercedes) und die damit verknüpfte Notwendigkeit der Krone erkennbar, sich als Bestrafungs- und Belohnungsgewalt gegenüber den Amerika-Spaniern zu inszenieren.

Hervorzuheben ist zudem die Tatsache, dass Brendecke die Quellenpassagen allesamt ins Deutsche übersetzt hat, was die Arbeit auch für ein Publikum empfehlenswert macht, das nicht des Spanischen mächtig ist. So werden politik-, kultur- und wissenschaftsgeschichtlich interessierte Leser wie auch jene, die sich mit der iberoamerikanischen Geschichte beschäftigen, bei diesem Buch ebenso auf ihre Kosten kommen wie Frühneuzeitforscher. Wie mit empirischem Wissen in der spanischen Kolonialherrschaft umgegangen wurde, zeigt Brendeckes exzellente Monographie auf beeindruckende Weise und macht sie für jeden, der sich mit der Erforschung der vormodernen spanischen Kolonialpolitik beschäftigt, zur unverzichtbaren Lektüre.

Anmerkungen:
1 Ebenfalls 2009 ist die Arbeit der Wissenschaftshistorikerin Maria Portuondo erschienen: Secret Science. Spanish Cosmography and the New World, Chicago 2009.
2 Vgl. auch Barbara E. Mundy, The Mapping of New Spain. Indigenous Cartography and the maps of the Relaciones Geográficas, Chicago 1996.
3 Zur Kartographie siehe z. B. Ricardo Padrón, The Spacious Word. Cartography, Literature, and Empire in Early Modern Spain, Chicago 2004.