H.-C. Seidel: Der Ruhrbergbau im Zweiten Weltkrieg

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Titel
Der Ruhrbergbau im Zweiten Weltkrieg. Zechen – Bergarbeiter – Zwangsarbeiter


Autor(en)
Seidel, Hans-Christoph
Reihe
Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen, Reihe C: Arbeitseinsatz und Zwangsarbeit im Bergbau während des Ersten und Zweiten Weltkrieges 7
Erschienen
Anzahl Seiten
640 S.
Preis
€ 79,-
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Irmer, Berlin

Nachdem in den letzten Jahren zahlreiche regional- und unternehmensgeschichtliche Einzelstudien zur NS-Zwangsarbeit entstanden sind, lässt sich ein steigendes Interesse an einordnenden und vergleichenden Fragestellungen feststellen. Hans-Christoph Seidel zeigt mit seiner an der Ruhr-Universität Bochum eingereichten, umfangreichen Habilitationsschrift zum Ruhrbergbau im Zweiten Weltkrieg, dass sich diese Auseinandersetzung auch im Hinblick auf die Weiterentwicklung des Forschungsgegenstandes lohnt.

Seidel untersucht mit dem Ruhrbergbau eine Branche, die bis Mitte des 20. Jahrhunderts einer der bedeutendsten deutschen Industriezweige war. Für die nationalsozialistische Kriegswirtschaft war die Steinkohle ein Schlüsselrohstoff. Das wichtigste Instrument der Fördersteigerung war der Arbeitseinsatz, der seit 1941 zunehmend auf ausländische Arbeitskräfte und Zwangsarbeiter zurückgriff. Ohne ihren Einsatz hätte sich die Steinkohleförderung nicht in der erfolgten Form aufrechterhalten oder steigern lassen. Im September 1944, auf dem quantitativen Höhepunkt des Ausländereinsatzes, arbeiteten Seidel zufolge in den Gruben an Rhein und Ruhr mehr als 163.000 „Fremdarbeiter“ und Kriegsgefangene, was einem Anteil von knapp 42 Prozent an der Arbeiterbelegschaft entsprach.

In seiner Branchenanalyse will Seidel die Zwangsarbeit im Zusammenhang mit der Produktion und Produktionspolitik, dem gesamten Arbeitseinsatz, der Sozialpolitik des NS-Staates und der Zechen sowie den Arbeits- und Sozialbeziehungen auf betrieblicher Ebene untersuchen. Er erweitert dabei den Blick auf die Bergbau-Verbände als bislang wenig beachtete Akteure. Außerdem bezieht er einen Vergleich der Lebens- und Arbeitsbedingungen von deutschen Zivilarbeitern mit denen von ausländischen Arbeitskräften und Zwangsarbeitern in seine Untersuchung ein. Nicht weniger anspruchsvoll ist das Ziel der Arbeit, „ausgehend von der Frage der Zwangsarbeit und immer wieder auf sie hinführend, eine breiter angelegte (wirtschaftsgeschichtlich informierte) Organisations- und Sozialgeschichte des Ruhrbergbaus während des Zweiten Weltkrieges“ zu liefern (S. 29). Für diese Untersuchung hat Seidel zahlreiche Quellen durchgesehen, darunter Unterlagen von 26 Unternehmen und Zechen des Ruhrgebiets sowie Überlieferungen industrieller Organe und Verbände wie der Reichsvereinigung Kohle und der Absatzorganisation Rheinisch-Westfälisches Kohlensyndikat. Diese Bestände wurden im Hinblick auf die Organisation von Arbeit und Zwangsarbeit erstmals intensiv ausgewertet.

Die seit Ende 1938 zunehmende Rekrutierung von Ausländern wurde von Zechenbetreibern, ihren Verbänden und deutschen Beschäftigten zunächst nur als ein Notbehelf angesehen. Auch nach Kriegsbeginn wurden, ähnlich wie in anderen Branchen, zunächst ausländische Arbeitskräfte insbesondere aus Westeuropa eingestellt. Den entscheidenden Wendepunkt datiert Seidel auf den Herbst 1941, als der Einsatz von Ostarbeitern, sowjetischen Kriegsgefangenen und später italienischen Militärinternierten begann. Der „Russeneinsatz“ ab 1942 markierte einen weiteren tiefen Einschnitt in der Arbeitseinsatzpolitik: Zwangsarbeiter wurden nun nicht mehr nur zu Hilfsarbeiten, sondern zum Beispiel auch als Hauer in den Gruben eingesetzt. Außerdem wurde der Einsatz von Zwangsarbeitern insbesondere aus den besetzten Gebieten der Sowjetunion ausgeweitet: Ende 1944 arbeiteten in den Ruhrzechen etwa 90.000 sowjetische Kriegsgefangene und mehr als 30.000 Ostarbeiter, zwei Drittel aller zu diesem Zeitpunkt eingesetzten ausländischen Arbeitskräfte.

Der Ruhrbergbau nahm Seidel zufolge keine Vorreiterrolle beim Einsatz von ausländischen Arbeitskräften im Altreich ein, aber eine regionale Führungsrolle für das Ruhrgebiet. Zu den Besonderheiten zählte, dass in den Zechen keine polnischen Kriegsgefangenen und offenbar auch keine deutschen Juden im „Geschlossenen Arbeitseinsatz“ Zwangsarbeit leisten mussten. Außerdem wurden in den Steinkohlegruben des Ruhrgebiets, anders als in Oberschlesien, keine KZ-Häftlinge eingesetzt. Seidel hat schon an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass dies unter anderem an der ablehnenden Haltung der Reichsvereinigung Kohle lag.1

Seidel zeichnet nicht nur in diesem Punkt ein detailliertes Bild der Handlungsspielräume der Zechenbetreiber und ihrer Organisationen, denen es beispielsweise gelang, die Absetzung des vom NS-Regime eingesetzten Reichskohlenkommissars durchzusetzen. Dem Einsatz von ausländischen Arbeitskräften standen sie anfangs zurückhaltend gegenüber. Sie befürchteten eine Abwertung der Arbeit unter Tage, die die Absetzbewegungen von Deutschen, die „Flucht aus dem Bergbau“, verstärken würde. Der Bergbau war vor allem am Erhalt der deutschen Stammbelegschaft unter anderem durch sozialpolitische Maßnahmen interessiert; die deutschen Bergleute sollten Nutznießer der nationalsozialistischen Sozialpolitik sein, um sie langfristig an die Arbeit zu binden.

Anhand von Kriterien wie Ernährung, Entlohnung, Unterbringung oder Gesundheitsversorgung vergleicht Seidel die unterschiedlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen deutscher Bergmänner und der untertage eingesetzten ausländischen Arbeitskräfte und Zwangsarbeitern. Einige Zechen setzten die Zuteilung von Nahrungsmitteln gezielt als Disziplinierungsmaßnahme ein. Gegenüber sowjetischen Kriegsgefangenen bedeutete dies „eine Selektion der Kranken und Schwachen, bei denen man bewusst eine prinzipielle lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes in Kauf nahm, um sie als arbeitsunfähig in die Stalag zurückführen zu können“ (S. 568). Seidel verdeutlicht zugleich, dass es nicht nur strukturelle Gründe waren, die deutsche und ausländische Arbeiter voneinander trennten. Konkurrenz, Angst vor dem Verlust von Privilegien oder nationalistische und rassistische Ressentiments führten auch zu gewalttätigen Übergriffen deutscher auf ausländische Arbeiter. Unter den vielfältigen Ergebnissen der Studie ist dieser Befund einer der ernüchterndsten.

Abschließend bleibt festzuhalten, dass Hans-Christoph Seidel mit diesem Buch ein spezifisches Profil der Entwicklung des Ruhrbergbaus während des Zweiten Weltkriegs herausarbeitet. Er zeigt einen Weg auf, die Lebens- und Arbeitsverhältnisse von deutschen Zivilarbeitern, ausländischen Arbeitskräften und Zwangsarbeitern differenziert zu vergleichen. Die Studie schließt eine gravierende Lücke, sie ist eine überzeugende Branchenanalyse und wird zu einem Standardwerk über den Ruhrbergbau im Zweiten Weltkrieg werden. Für die Forschung bleibt zu hoffen, dass weitere solcher Branchenanalysen entstehen.

Anmerkung:
1 Hans-Christoph Seidel, „Ein buntes Völkergemisch hat eine Wanderung durch unsere Gruben gemacht.“ Ausländereinsatz und Zwangsarbeit im Ruhrbergbau 1940 bis 1945, in: Klaus Tenfelde / Hans-Christoph Seidel (Hrsg.), Zwangsarbeit im Bergwerk. Der Arbeitseinsatz im Kohlenbergbau des Deutschen Reiches und der besetzten Gebiete im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Bd. 1/2, Essen 2005, S. 75-159, hier S. 86.

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