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Titel
Das Heimatbuch. Geschichte, Methodik, Wirkung


Herausgeber
Beer, Mathias
Erschienen
Göttingen 2010: V&R unipress
Anzahl Seiten
341 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Willi Oberkrome, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Ein Zeugnis disziplinären Kleinmuts liegt mitnichten vor. Der Erfolg – mitunter auf quellenanalytisch kaum umwölkte Deutungshöhen gelangter – globalgeschichtlicher Fragestellungen, transferhistorischer Zugriffe und international verknüpfender Metahistoriographien ist dem vielseitig interessierten und publizistisch breit ausgewiesenen Geschäftsführer des in Tübingen ansässigen Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Mathias Beer, sicher nicht entgangen. Gleichwohl hat er sein wissenschaftliches Augenmerk auf den parochial verengt und lokalistisch reduziert anmutenden Themenkomplex „Heimatbuch“ zu richten begonnen.

Für diese Entscheidung kann der von Beer edierte, insgesamt 14 Beiträge umfassende Tagungsband gute Gründe geltend machen. Das Genre Heimatbuch blickt auf eine über 100-jährige Geschichte zurück, die in der frühen Erosionsphase der „Welt von gestern“, also in den letzten Dekaden vor 1914, eine Hochkonjunktur erlebte. Das Publikumsinteresse für eine ‚ganzheitliche‘, also topographische, architektonische, wirtschaftliche, volkskundliche, künstlerische und historische Themen – nicht selten in anekdotisch-positivistischer Diktion und in uneinheitlichem Format – einschließende Ortsbeschreibung schwand auch in der Zwischenkriegszeit kaum. Ob die in den frühen 1920er-Jahren vollzogene Einführung des schulischen Heimatkundeunterrichts entsprechenden Rezeptionsneigungen Auftrieb verliehen hat, wie Jutta Faehndrich auf der Grundlage eigener Erhebungen über die regionale Produktion von Heimatbüchern konstatiert (S. 68), bedarf möglicherweise weiterer Klärung. Unstreitig bleibt hingegen der Befund, dass Heimatbücher in den Augen zahlreicher Ostvertriebener nach 1945 durch ihren inhaltlichen Universalanspruch „zum idealen Aufbewahrungsort für eine verlorene Heimat“ werden konnten (Faehndrich, S. 71). Sie fungierten unter den ostdeutschen Migranten häufig als Speicher gruppenkohäsiver Gedächtnisse (Wolfgang Sannwald) mit langfristiger identitäts- und geschichtspolitischer Prägekraft. Dieser Befund ist wahrscheinlich mühelos auf die ‚binnendeutschen‘, heimatkundlich inspirierten Ortsdarstellungen zu übertragen, die, wie Christel Köhle-Hezinger plastisch veranschaulicht, bisweilen sogar eine eher lektüreabstinente Leserschaft zu erreichen vermögen.

Um den Gehalt heimatliterarischer Geschichtsbilder und die Modalitäten ihrer Verbreitung geht es Mathias Beer und seinen Koautoren ganz essentiell. Denn auf die Ausformung, die Substanz und die intentionale Stoßrichtung populärer Geschichtsauffassungen nehmen die einschlägigen Publikationen – darüber besteht ein wenigstens impliziter Konsens zwischen den Beiträgern – wissenschaftlich kaum zu taxierende, geschweige denn zu kontrollierende, wahrscheinlich aber beträchtliche Einflüsse. Dafür spricht der kommerzielle Erfolg gefällig aufbereiteter Heimatwerke, die nicht selten konsensuale Vorstellungskomplexe in die Mental Maps der Leserschaft einpflanzen, welche die lokale Topik von offiziellen Festreden, Erinnerungskulturen und traditionspflegerischen Bemühungen bisweilen rasch und umstandslos dominieren können. Entsprechende Bilderwelten unter die Lupe einer ebenso diskussions- wie lern- und einspruchsbereiten Fachmannschaft zu legen, erscheint – nicht erst unter den tagesaktuellen Herausforderungen medial verbreiteter Vertreibungsnarrative – als Herausforderung einer methodologisch geschulten Geschichtswissenschaft, die ihres professionellen Anspruchs auch auf dem Feld der „kleinen Heimaten“ nicht entraten kann.

Von den verblüffenden Unklarheiten, die den Terminus „Heimatbuch“ umranken, sollte sich die Fachhistorie dabei nicht entmutigen lassen. Beers Recherchen im Internet, dem jüngsten heimatkundlichen Forum (siehe dazu den Beitrag von Elisabeth Fendel), haben rund 100.000 Einträge für den Begriff, allerdings nicht eine einzige Definition erbracht. Insofern ist es richtig, zunächst einmal alles, was nach einer Drucklegung mit dem Label „Heimatbuch“ ausgestattet ist und einen breit gesteckten ortskundlichen Anspruch erhebt, arbeitshypothetisch dieser Gattung zuzurechnen. Erst aus der Zusammenschau dürften sich Konkretisierungen und Präzisierungen ableiten lassen. Entsprechende Festlegungen oder kategoriale Einteilungen sind, das kann als ausgemacht gelten, auch im Bezug auf die Inhalte erforderlich: Die subjektiven Schwerpunktsetzungen empathischer und meistens historisch bzw. publizistisch ungeschulter Textproduzenten (vgl. den auf hohem Niveau selbstreflexiven Aufsatz vor Renate und Georg Weber) ignorieren zumeist allgemeine Bedingungen, transpersonale Voraussetzungen und prozessuale Veränderungen für die historische Entwicklung des kommunalen Nahraums. Sie blenden unliebsame Erinnerungen allzu bereitwillig aus oder verfremden diese in apologetischer Absicht. Das gilt vor allem im Zusammenhang mit dem – in seinem Umgang mit dem Heimatlichen nicht immer punktgenau erfassten (Jutta Faehndrich, Wolfgang Kessler) – Nationalsozialismus, der in vielen Heimatbüchern als ortsfremder Systemoktroy ausgelegt wurde (Wilfried Setzler), und der Zwangsmigration aus der ‚verlorenen Heimat‘ des Ostens. Die fast notorische Fremd-Eigen-Unterscheidung einer Vielzahl von Heimatbüchern taucht die vermeintlich authentische örtliche Lebensart außerdem oft ins Licht eines unverbrüchlichen Gemeinschaftsgeistes, dem soziale Differenzierung und kulturelle Distinktion unbekannt bleiben.

Zugleich, das heißt hauptsächlich seit den 1980er-Jahren, lassen sich jedoch auch Bemühungen um perspektivische Erweiterungen, um moderatere Darstellungen und ergebnisoffenere Erkenntnisinteressen registrieren, wie Gustav Schöck, Ulrike Frede, Josef Wolf und Georg Schmidt in ihren Beiträgen zeigen. Solche neueren Darstellungen registrieren und durchleuchten multiethnische Koexistenzen in Grenzterritorien, sie würdigen die originären ortsrelevanten Leistungen ‚fremder‘ Observanz, sie benennen die Verfolgungs-, Diskriminierungs- und Denunziationspraktiken kommunaler NS-Akteure usw. Hierbei werden Kenntnisse generiert und Einsichten gewonnen, von denen die akademische Regionalgeschichtsschreibung profitieren könnte.

Das Heimatbuch „entzieht sich“ mithin „präziser Zuordnung“, wie der europaweit tätige Tübinger Kulturanthropologe Friedemann Schmoll mit Kennerblick resümiert (S. 309). Transformation steht neben Tradition, bornierter Eigensinn konkurriert mit multikulturellen Erfahrungen, akribischer Forschungsfleiß markiert den Kontrast zur eilfertigen Konklusion, und die Linie zwischen diesen ‚Polen‘ oszilliert nicht selten erheblich. Die Strukturen und ideellen Triebkräfte heimatlich-lokalistischer Textgattungen in ihrer Ambivalenz sichtbar gemacht und damit Fingerzeige auf eine bedeutungsschwere, immer wieder unterschätzte Institution deutscher Geschichtsbildproduktion und historischer Wissensvermittlung gerichtet zu haben ist dem Herausgeber Mathias Beer sowie den beteiligten Autorinnen und Autoren hoch anzurechnen. Der ersten Forschungsbilanz sollten weitere Untersuchungen folgen. Vielleicht ließe sich über die Grenzen und Konturen des Heimatbuches, über seine temporären und soziokulturellen Resonanzkonstellationen, auch über seine analytischen Chancen und vergangenheitspolitischen Funktionen sogar in einem international vergleichenden Problemrahmen nachdenken.