C. Hämmerle u.a. (Hrsg.): Apokalyptische Jahre

Cover
Titel
Apokalyptische Jahre. Die Tagebücher der Therese Lindenberg 1938-1946


Herausgeber
Hämmerle, Christa; Gerhalter, Li
Reihe
L'Homme Archiv, 2
Erschienen
Köln 2010: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
389 S.
Preis
€ 37,90
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Sabine Grenz, Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien, Humboldt-Universität zu Berlin

In den letzten Jahren häufen sich die Editionen von Tagebüchern und Briefen aus dem Nationalsozialismus. Neben Soldatenbriefen und Tagebüchern von in der Zeit so genannten "arischen" Deutschen und Europäern liegen auch einige Editionen von Tagebüchern europäischer Jüd/innen vor, die während des Nationalsozialismus verfolgt wurden, so zum Beispiel die Tagebücher Victor Klemperers1 oder das „Pariser Tagebuch“ der französischen Jüdin Hélène Berr, das kürzlich ins Deutsche übertragen wurde.2 Selbstzeugnisse wie die nun unter dem Titel „Apokalyptische Jahre“ edierten Tagebücher der Wienerin Therese Lindenberg, die nach dem „Anschluss“ Österreichs in einer „nicht-privilegierten Mischehe“ mit ihrem jüdischen Ehemann lebte, sind in diesem Kontext eine Seltenheit.

Die Bedeutung der hier von der seit 2006 an der Universität Wien
angesiedelten Forschungsplattform zur Frauen- und Geschlechtergeschichte edierten Tagebücher ergibt sich daher bereits aus der sehr gut getroffenen Auswahl der Tagebücher von März 1938 bis August 1946, die nur einen Teil des umfänglichen Nachlasses der Therese Lindenberg ausmachen. Therese Lindenberg hat von 1910 bis 1980 Tagebuch geschrieben, doch die hier ausgewählten Aufzeichnungen stehen in einem thematischen Zusammenhang mit den Tagebüchern Victor Klemperers:4 Therese Lindenberg schildert die Schikanen, denen so genannte Mischehen während des Nationalsozialismus ausgesetzt waren von der Seite der als „arisch“ geltenden Ehepartnerin.

Dieser thematische Zusammenhang wird ganz besonders deutlich, da Therese Lindenberg ihr Tagebuch aus der Zeit, das ihr überwiegend als Trost und Entlastung diente, 1975 noch einmal überarbeitet hat. Diese überarbeitete Version ist von dem Wunsch geprägt, ein Zeugnis über die Zeit zu geben und sich in das kulturelle Gedächtnis einzuschreiben.

Die hier vorliegende Edition, die bereits der zweite Band der Reihe L’homme Archiv ist, weist dadurch auch daraufhin, dass Tagebücher gestaltete Texte sind und spezifische Ziele verfolgen bzw. Funktionen erfüllen. Die bei Selbstnarrativen häufig empfundene Unmittelbarkeit und Vollständigkeit ist eine Illusion, die durch die Lektüre der beiden Fassungen als solche erkannt werden kann.

Obwohl Tagebuchschreiben in dieser Krisenzeit an Bedeutung gewann und Tagebuchtexte häufig als unterstützendes Material für historische Arbeiten genutzt werden, liegen nach wie vor nur sehr wenige Analysen und Interpretationen von Tagebüchern vor.3 Diesem Desiderat begegnet die Edition mit einer ausführlichen, analytischen und kontextualisierenden Einleitung. Zudem eröffnen sie durch die sehr transparente editorische Bearbeitung sowie durch umfängliche Register weitere Forschungsarbeiten über diesen Nachlass und geben Impulse für andere Editionen.

In ihrer Einleitung kontextualisiert Hämmerle unter dem bezeichnenden Titel „Trost und Erinnerung“ die Originaltagebücher der Therese Lindenberg und deren spätere Bearbeitung auf mehreren Ebenen. Sie geht dabei etwa auch auf den Gesamtnachlass, insbesondere das frühere Tagebuchschreiben von Therese Lindenberg ein, und kann dadurch Entwicklungen ihrer disparaten Selbstentwürfe nachzeichnen, die sich keineswegs linear gestalteten. So schwankte Therese Lindenberg schreibend zwischen dem Selbstbild der sich aufopfernden Mutter und Ehefrau einerseits, und der sich nach Freiheit sehnenden Frau andererseits – sei es als Musikerin oder, weniger erfolgreich, als Schriftstellerin und Autorin mehrerer Zeitschriften. Zugleich war sie in den 1920er-Jahren engagierte Sozialdemokratin, die sich insbesondere für die Situation von Frauen der sozialen Unterschicht interessierte. Hämmerle sieht darin auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen ärmlichen Geburt als lediges Kind einer Bauerntochter und eines jüdischen Vaters im Wiener Findelhaus – was sie zeitlebens weitgehend geheim hielt. Neben ihren gesellschaftspolitischen Beobachtungen wandte sich Lindenberg in den 1930er-Jahren verstärkt dem Katholizismus zu, mit dem sie aufgewachsen war; die katholische Konfessionszugehörigkeit hatte sie – den damaligen gesetzlichen Bestimmungen entsprechend – bei ihrer Eheschließung in Form einer „Notzivilehe“ mit dem Juden Ignaz Lindenberg im Jahr 1915 aufgeben müssen, und war seitdem konfessionslos.

Neben solchen biographischen Erläuterungen zu Therese Lindenberg führt Hämmerle in den historischen Kontext der edierten Tagebücher ein. Sie stellt die Auswirkungen der nationalsozialistischen Herrschaft auf das Leben von Therese und Ignaz Lindenberg und ihrer 1915 geborenen Tochter dar, sowie deren Strategien, sich zu schützen. So ließ Therese Lindenberg sich noch bevor die Nürnberger Gesetze auch in Österreich in Kraft traten von ihrem katholischen Stiefvater rechtlich als sein leibliches Kind anerkennen und trat wieder in die katholische Kirche ein; mit ihrem Mann schloss sie außerdem die Ehe auch nach kanonischem Recht, während die Tochter aus der jüdischen Kultusgemeinde austrat und zum Katholizismus konvertierte. Doch nur Therese Lindenberg konnte sich in der Folge während des nationalsozialistischen Regimes frei bewegen und Ressourcen wie das katholische Netzwerk nutzen, die jüdischen Österreicher/innen schwer zugänglich waren oder gänzlich verschlossen wurden bzw. blieben. Die Tochter emigrierte im Oktober 1938 auf die Philippinen, Ignaz und Therese Lindenberg mussten aus ihrer Wohnung aus- und im „Judenhaus“ einziehen. Es folgt eine Odyssee durch sich beständig verschlechternde Lebensbedingungen, und sie verlor den Kontakt zu ihrer Tochter.

In einem weiteren Abschnitt untersucht Hämmerle das Schreiben während des Nationalsozialismus. Obwohl das Tagebuchschreiben eine Gefahr darstellte, verstummte Therese Lindenberg nicht, sondern suchte Trost und Entlastung im Schreiben über die Religion, die Natur, spirituelle und spiritistische Erfahrungen. Zudem notierte sie Erinnerungen an die Tochter, zu der sie über Jahre keinen Kontakt hatte. Sie schützte sich, indem sie politische Ereignisse, Deportationen und ähnliches nur andeutete und verschlüsselte. Diese Verschlüsselungen löste sie in der überarbeiteten Form, die als Typoskript vorliegt, weitgehend auf und nahm stattdessen die Beschreibungen der Natur und ihrer spirituellen Erlebnisse heraus. Daran zeigt sich auch der Perspektivwechsel, den Lindenberg vollzogen hat. Er rückt die Bearbeitung in die Nähe von Autobiographien, die eine retrospektive Interpretation des eigenen Lebens darstellen, während das ursprüngliche Tagebuch alltägliche Reflexion und alltäglichen Trost in der Erinnerung an die Tochter und in den Naturbeschreibungen enthält. Die spätere Version hat zudem viel stärker den Charakter des Zeugnisses der politischen Verhältnisse. Dieser dokumentierende Charakter wird auch dadurch unterstützt, dass die zweite Version wesentlich kürzer ist.

In vielen Editionen von Selbstzeugnissen bleiben die notwendigen editorischen Bearbeitungen der Herausgeber/innen überwiegend unsichtbar. Meistens werden nur die Auslassungen gekennzeichnet. Das prozesshafte Schreiben und von den Diarist/innen eingefügte Korrekturen werden dadurch unsichtbar. Auch in diesem Punkt hebt sich die editorische Arbeit der „apokalyptischen Jahre“ von anderen ab. Li Gerhalter, die im Umgang mit originalen Selbstzeugnissen erfahrene Betreuerin der „Sammlung Frauennachlässe“, hat insbesondere die Edition der zeitgenössischen Tagebücher bearbeitet, die denselben Zeitraum umfasst, wie die spätere Bearbeitung der Therese Lindenberg. Besonders hervorzuheben ist hier die Transparenz der editorischen Arbeit, die durch ausführliche Beschreibungen der Originalaufzeichnungen sehr gut gekennzeichnet worden ist. Zum Beispiel werden Durchstreichungen und Zusätze, die mit einem anderen Stift – also vermutlich zu einem anderen Zeitpunkt – vorgenommen wurden, durch Fußnoten gekennzeichnet. An einigen Stellen wird auf fast leere Seiten hingewiesen und, wenn auffällig, wird auch das Schriftbild beschrieben. Beispielsweise lautet eine Fußnote: „Eintrag zunehmend unregelmäßig geschrieben. Einzelne Worte sind verwischt, vielleicht durch Tränen“ (S. 123). Durch diese Hinweise können Leserinnen und Leser der Edition eine Ahnung davon bekommen, wie der ursprüngliche Text ausgesehen haben mag – was eine Besonderheit in der Tagebuchedition darstellt.

Insgesamt empfiehlt sich die gesamte Edition daher ganz besonders für Forschungszwecke: für die Selbstzeugnisforschung und die Forschung zur Erinnerungskultur ebenso wie für die weitere Erforschung der Verfolgung der europäischen Jüd/innen während des Nationalsozialismus sowie die Geschlechtergeschichte. Zudem könnte auch ein breiteres Publikum vor allem die überarbeitete Fassung mit viel Gewinn lesen. Schließlich lässt es sich sehr gut als didaktisches Material einsetzen. Dieser Einsatz wird ebenso wie die Forschung durch die sehr sorgfältigen und mit Lesehinweisen versehenen Personen-, Orts- und Werkregister von Ingrid Brommer und Christine Karner unterstützt, die den letzten Teil des Buchs bilden und auch als Datei auf CD beigefügt sind.

Anmerkungen:
1 Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1945, Berlin 1996.
2 Hélène Beer, Pariser Tagebuch. 1942-1944, München 2008.
3 Die einzige Monographie ist nach wie vor die Dissertation: Susanne zur Nieden, Alltag im Ausnahmezustand. Frauentagebücher im zerstörten Deutschland 1943-1945, Berlin 1993.
4 Alle Tagebuchbände Therese Lindenbergs befinden sich heute in der „Sammlung Frauennachlässe“ an der Universität Wien.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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