Titel
Reden vor Gericht. Plädoyers in Text und Ton


Autor(en)
Hannover, Heinrich
Erschienen
Anzahl Seiten
276 S. + 1 Audio-CD
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gisela Diewald-Kerkmann, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Dass sich in zahlreichen Prozessen, an denen Heinrich Hannover seit den 1950er-Jahren als Strafverteidiger mitgewirkt hat, Zeitgeschichte unmittelbar widerspiegelt, dokumentierten bereits seine bis 1995 reichenden Lebenserinnerungen „Die Republik vor Gericht“.1 Jetzt hat der Rechtsanwalt eine Sammlung von Straffällen mit 17 Plädoyers, die er im Zeitraum von 1963 bis 1993 vor Gericht gehalten hat, in Text und Ton veröffentlicht. Zu Recht wird im Vorwort konstatiert, dass bei gedruckten Plädoyers das direkte Erleben des gesprochenen Wortes im Gerichtssaal, die gespannte – vielfach eher angespannte – Atmosphäre bei der noch nicht entschiedenen Sache ebenso fehlen wie die Reaktionen des nicht immer schweigsamen Publikums, das für oder gegen den Angeklagten eingestellt sein kann. Mit der Intention, einen akustischen Eindruck von Strafprozessen zu vermitteln, aber auch eine größere Authentizität des Gerichtsgeschehens zu erreichen, sind dem Buch Originaltonaufnahmen aus fünf Strafverfahren in Ausschnitten auf CD beigefügt.2

Es handelt sich um folgende Prozesse: gegen Klaus Winter und Obi Ifeobu vor dem Schöffengericht Hamburg im Jahre 1968 („‚Lasst den Schwarzen laufen!​‘ – Eine Demo mit schweren Folgen“); gegen Daniel Cohn-Bendit vor dem Amtsgericht Frankfurt am Main, ebenfalls 1968 („Der Sprung über ein polizeiliches Absperrgitter als ‚Landfriedensbruch‘“); gegen Arthur Sahm vor dem Amtsgericht Burgdorf im Jahre 1971 („Ein CDU-Baron, der Polen als Wanzen bezeichnete“); gegen Karl Heinz Roth 1977 vor dem Landgericht Köln („‚Die Kollegen haben schlecht geschossen, die hätten alle drei kaputt sein müssen‘“); sowie gegen Wolfgang Otto 1986 vor dem Landgericht Krefeld („Ein Nazi-Gewaltverbrecher vor Gericht – Der ungesühnte Mord an Ernst Thälmann“).

Dabei drängt sich die Frage nach der Entstehungsgeschichte dieser Mitschnitte auf.3 Tatsächlich erklärt sich ihre Existenz aus den ständigen Anfeindungen und Drohungen, die Hannovers anwaltschaftliche Redefreiheit einschränken und Ehrengerichtsverfahren einleiten sollten. Vor diesem Hintergrund entwickelte er – mit Genehmigung der Gerichte und der Beteiligten – die Strategie, Plädoyers aufzunehmen respektive „schriftlich auszuarbeiten, um im Bedarfsfall nachweisen zu können, was ich tatsächlich gesagt habe“ (S. 8).4

Während in Hannovers beiden Bänden „Die Republik vor Gericht“ die meisten Straffälle bereits enthalten sind (insgesamt 51), konzentriert sich das vorliegende Buch auf 17 Fälle, die aber weder spezifischen Zeitphasen noch Themenfeldern zugeordnet werden. So bleibt es bei einer chronologischen Aufzählung ohne klar erkennbare Auswahlkriterien. Es wird nicht deutlich, warum gerade der Strafprozess gegen Willi Meyer-Buer vor dem Landgericht Bremen den Anfang respektive derjenige gegen Hans Modrow den Abschluss bildet. Von den 17 Strafverfahren handelt es sich in 14 Fällen um politische Strafsachen, wohingegen drei Beispiele aus dem Bereich der „nichtpolitischen Kriminalität“ gewählt wurden.5 Die politischen Strafverfahren reichen von dem Vorwurf gegen Kommunisten, die Bestrebungen und Ziele der verbotenen KPD einschließlich ihrer verfassungsfeindlichen Fernziele gefördert zu haben, über Anklagen wegen Beleidigungen, Aufruhr, Landfriedensbruch und Körperverletzung an Polizeibeamten, übler Nachrede, versuchten Totschlags, Mordversuch bis zu Sitzblockaden als gewaltsamer Nötigung (§ 240 StGB). Dabei erläutert Hannover zu Beginn jeweils den Entstehungskontext, die Hintergründe und Zusammenhänge des einzelnen Falls sowie partiell seine Strategie als Anwalt. Danach folgt – überwiegend in Ausschnitten – das Plädoyer. In einem dritten Teil des Textes werden das Urteil, Ausschnitte der Urteilsbegründung und die eigene Bewertung dargestellt.

Betrachtet man die einzelnen Strafprozesse, bestätigt sich nicht nur die These des Juristen Peter-Alexis Albrecht, dass der Strafprozess „als Seismograph freiheitlicher Verfasstheit einer Gesellschaft angesehen“ werden könne6, sondern auch die Tendenz, „Abweichungen“ zu kriminalisieren. Wie ein roter Faden zieht sich dieser Versuch durch sämtliche Prozesse, sei es „die Kriminalisierung der Opposition gegen Adenauers Politik“ (S. 12), die „Kriminalisierung von Meinungsäußerungen“ bzw. die Tendenz, „angeklagte Meinungsäußerungen der Angeklagten von ihrem zeitgeschichtlichen Hintergrund zu lösen“ (S. 80f.), oder die „Kriminalisierungsstrategie bundesdeutscher Gerichte gegen die dem nächsten Massenverbrechen dieses Jahrhunderts widerstehenden Demokraten“ (S. 192, Fall: „Richter auf der Anklagebank – Prominente Demonstranten gegen den Atomtod“).

Ungeachtet der Tatsache, dass Hannover bei der Verteidigung von Pazifisten, Sozialdemokraten, Kommunisten, revoltierenden Studenten oder Mitgliedern der RAF massiven Anfeindungen ausgesetzt war, macht er ebenso deutlich, dass er in seiner langjährigen Praxis auch faire Richter und Staatsanwälte erlebt hat, die mit „vorbildlicher Sachlichkeit“ (S. 50) die Hauptverhandlung geführt hätten. Weiter verweist er darauf, dass skandalöse Vorgehensweisen, die meistens mit Obrigkeitsdenken und Antikommunismus verknüpft waren, in bundesdeutschen Gerichtssälen allmählich überwunden werden konnten. Setzt man sich in diesem Zusammenhang mit den Originaltönen auseinander, wird deutlich, dass die sachliche Tonlage Hannovers überwiegt – trotz der Anspannung im Gerichtssaal.

Auf die Frage, welches Mandat seiner 41 Berufsjahre als Anwalt das wichtigste gewesen sei, nennt Hannover weder bedeutende Kommunistenprozesse in den 1950er- und 1960er-Jahren noch Strafverfahren gegen prominente Angeklagte, sondern das Verfahren gegen den Bauarbeiter Otto Becker (S. 85ff.). Dieser Mann mit homosexuellen Neigungen und Alkoholabhängigkeit war zu Unrecht, nicht zuletzt durch fehlerhafte polizeiliche Ermittlungen, in den Verdacht geraten, im Jahre 1971 ein Mädchen vergewaltigt und ermordet zu haben. Tatsächlich glaubte Hannover selbst kaum noch daran, das Gericht von der Unschuld seines Mandanten überzeugen zu können. Das Urteil des Landgerichts lautete dann auch auf 12 Jahre Gefängnis wegen Vergewaltigung und Mord. Nur durch die Anfechtbarkeit des Urteils – so war bei der Schöffenbestellung ein Fehler unterlaufen – und durch das unerwartete Auftauchen einer unterschlagenen Spurenakte war es möglich, das Verfahren nochmals aufzurollen. Die Schwierigkeiten dieses Falls, die einzelnen Schritte der erneuten Hauptverhandlung und schließlich die Auflösung des Schuldvorwurfs werden so detailliert geschildert, dass man mit großer Spannung den Verlauf des Prozesses bis zum Urteil verfolgt. Bedauerlich ist allerdings, dass zu diesem Prozess keine Tondokumente vorliegen.

Zwei weitere Verfahren sind als dichte Dokumente gesellschaftlicher Probleme vor allem zu nennen. Zum einen ist dies der Prozess gegen Willi Meyer-Buer, ein ehemaliges Mitglied der verbotenen KPD; im Leben des Angeklagten spiegeln sich wichtige Zäsuren der deutschen Geschichte wider (S. 11ff.). Da sich Meyer-Buer nach dem KPD-Verbot von 1956 zur Bundestagswahl 1961 als unabhängiger Einzelkandidat um ein Mandat beworben hatte, stand er 1963 erneut vor Gericht. Nach Hannovers Auffassung hatten die Staatsanwaltschaften der bundesdeutschen Länder die Anweisung erhalten, diese Kandidaturen unabhängiger Kommunisten als Verstoß gegen das KPD-Verbot anzuklagen. „Dafür stand ihnen ein generalklauselartiger Straftatbestand zu Verfügung, der praktisch jede politische Betätigung von Kommunisten für strafbar erklärte.“ (S. 13) Bei dem zweiten Fall handelt es sich um ein ungehaltenes Plädoyer „Stammheimer Erfahrungen“ vor dem Oberlandesgericht Stuttgart 1983/84. Hannover berichtet von einem nicht namentlich genannten Mandanten, den er für unschuldig hielt. Gerade für diesen Angeklagten, ein ehemaliges Mitglied der Roten Armee Fraktion (RAF), hat er sich – wie auch andere Personen – mit großer Vehemenz eingesetzt, bis er durch Beweismittel der Bundesanwaltschaft von der wirklichen Tatbeteiligung des Angeklagten an der Entführung des Arbeitgeber-Präsidenten Hanns Martin Schleyer im Jahre 1977 erfahren musste. Hannovers Enttäuschung, der für seinen Einsatz nicht nur von Bundesanwälten als „untaugliches Subjekt“ angegriffen, sondern auch von Teilen der Medien als „Terroristenanwalt“ diffamiert wurde, war dementsprechend groß. (Dass dieser Mandant Peter-Jürgen Boock war, der tatsächlich alle belogen hat, ist inzwischen allgemein bekannt.)

Insgesamt wird deutlich, in welchem Maße die dargestellten Strafverfahren auf politisch-gesellschaftliche Entwicklungen verweisen. Gleichzeitig kann das Buch aber auch als Beleg für wichtige Liberalisierungstendenzen in der deutschen Rechtsprechung gelesen werden. Dass Strafverteidiger wie Heinrich Hannover oder Diether Posser dazu wesentlich beitrugen, ist inzwischen unbestritten und wird durch den vorliegenden Band noch einmal bekräftigt.

Anmerkungen:
1 Heinrich Hannover, Die Republik vor Gericht. Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwalts, Bd. 1: 1954–1974, Bd. 2: 1975–1995, Berlin 1998/99 (und öfter).
2 Die Gesamtspieldauer beträgt 69:27 Minuten.
3 Fast erwartet man zudem eine Diskussion der Frage, ob und inwieweit Tonaufnahmen während einer Gerichtsverhandlung gestattet sind. In der alten Fassung des § 169 Gerichtsverfassungsgesetz stand dazu nichts, es war also nicht verboten. Erst mit dem Strafverfahrensänderungsgesetz 1964 wurden Ton- und Filmaufnahmen untersagt. Das galt aber nur für die berichtenden Medien. Dass das Gericht selbst und natürlich der Strafverteidiger die eigenen Worte aufnehmen durften, war nie umstritten. Probleme ergeben sich im Anschluss, wenn etwa Persönlichkeitsrechte der Prozessbeteiligten verletzt werden durch ihre Erwähnung im veröffentlichten Plädoyer. Aber die meisten Verfahren waren ohnehin im Interesse der Öffentlichkeit; in anderen machte Hannover die Namen unkenntlich.
4 Sämtliche Tonbandaufnahmen und Tonbandnachschriften können beim Deutschen Rundfunkarchiv in Frankfurt am Main und im Bremer Staatsarchiv eingesehen werden.
5 Vgl. hierzu Fritz Sack, Art. „Politische Delikte, politische Kriminalität“, in: Günther Kaiser u.a. (Hrsg.), Kleines Kriminologisches Wörterbuch, Heidelberg 1993, S. 382-392.
6 Peter-Alexis Albrecht, Kriminologie. Eine Grundlegung zum Strafrecht, München 2005, S. 120.

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