C. Defrance u.a. (Hrsg.): Wege der Verständigung

Cover
Titel
Wege der Verständigung zwischen Deutschen und Franzosen nach 1945. Zivilgesellschaftliche Annäherungen


Herausgeber
Defrance, Corine; Kißener, Michael; Nordblom, Pia
Reihe
edition lendemains 7
Erschienen
Anzahl Seiten
412 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Birgit Schwelling, Forschungsgruppe "Geschichte + Gedächtnis", Universität Konstanz

Die Überwindung der deutsch-französischen „Erbfeindschaft“ nach dem Zweiten Weltkrieg wird nach wie vor als ein Prozess geschildert, der durch die persönliche und politische Freundschaft zwischen Konrad Adenauer und Charles de Gaulle gelingen konnte. Insbesondere dem Deutsch-Französischen Freundschaftsvertrag von 1963 kommt in dieser auf die Rolle der beiden Staatsmänner fokussierten Deutung eine herausragende Bedeutung zu, wird dieser Vertrag doch häufig als Meilenstein der deutsch-französischen Annäherung nach dem Zweiten Weltkrieg dargestellt.

Dass der Elysée-Vertrag jedoch keineswegs aus dem Nichts entstand, sondern an vielfältige gesellschaftliche Initiativen anknüpfen konnte, verdeutlicht der von Corine Defrance, Michael Kißener und Pia Nordblom herausgegebene Sammelband auf eindrucksvolle Weise. Der Band geht zurück auf eine interdisziplinäre Tagung, die im September 2007 in Mainz stattfand und zu der sowohl Forscher als auch zivilgesellschaftliche Akteure aus Frankreich und Deutschland zusammenfanden, um über Akteure und Milieus, Kanäle, Formen und Orte der deutsch-französischen Annäherung und Versöhnung zu diskutieren.1 Die deutsch-französische Zusammensetzung der Tagung spiegelt sich auch dadurch im Sammelband wider, dass die Beiträge entweder in französischer oder in deutscher Sprache verfasst sind.

Während die im engeren Sinne politischen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich inzwischen ein gut erforschtes Terrain bilden, sind Studien zu den unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wieder einsetzenden gesellschaftlichen Beziehungen noch immer rar. Einzelne Studien zu Mittlerpersönlichkeiten, zu den Städtepartnerschaften und zu einigen in der deutsch-französischen Aussöhnung engagierten Organisationen vermitteln zwar wichtige erste Anhaltspunkte; das Panorama der vielfältigen Initiativen und Einzelpersonen ist damit jedoch bei Weitem noch nicht ausreichend in den Blick geraten. Zudem fehlen Studien, die eine Synthese der zivilgesellschaftlichen Verflechtungen zwischen der Bundesrepublik und Frankreich bieten. Dabei kommt dem Sammelband ein erhebliches Verdienst zu, denn hier wird eine große Anzahl verschiedener Milieus, Initiativen, Vereinigungen, Organisationen und Akteure in einer Zusammenschau präsentiert. Sicher kann ein Sammelband eine solche Synthese schon aufgrund der Vielzahl an Initiativen nicht erschöpfend leisten. Als Ausgangspunkt für weitere Forschungen ist die Übersicht jedoch hervorragend geeignet, nicht zuletzt deshalb, weil darin wichtige Hinweise auf die nur verstreut existierenden und häufig nicht leicht zugänglichen Quellen enthalten sind.

In 20 Beiträgen wird ein breites Panorama gesellschaftlicher Initiativen aufgespannt, die sich seit dem Zweiten Weltkrieg für die deutsch-französische Verständigung und Aussöhnung einsetz(t)en. In drei Beiträgen zum Engagement von Veteranen und ehemaligen Kriegsgefangenen sowie zu katholischen Gruppen werden Milieus und Akteure der Verständigung untersucht. Weitere drei Beiträge widmen sich verschiedenen Organisationen und Vereinigungen (den Deutsch-Französischen Gesellschaften sowie dem Cercle Français de Kassel) und deren Verbindungen zu den staatlich-offiziellen Akteuren. In fünf Fallstudien werden Städtepartnerschaften untersucht. Eine weitere Sektion nähert sich dem zivilgesellschaftlichen Engagement in vier Beiträgen, die von den Kategorien „Grenze, Raum, Region“ ausgehen. Zwei Beiträge sind den gesellschaftlichen Beziehungen zwischen Frankreich und der DDR gewidmet. Gerahmt werden diese Fallstudien durch zwei konzeptionell ausgerichtete Beiträge, in denen zum einen der Begriff der Zivilgesellschaft ausbuchstabiert wird (Corine Defrance), und zum anderen die Konzepte der Transnationalisierungsforschung auf ihre Tauglichkeit hinsichtlich einer Anwendung auf die deutsch-französischen Gesellschaftsbeziehungen hin geprüft werden (Hans Manfred Bock). Der letztgenannte Autor ist noch mit einem weiteren Beitrag vertreten, in welchem er die Vorgeschichte der Verständigung zwischen Deutschen und Franzosen nach 1945, nämlich die transnationalen Gesellschaftsbeziehungen der Zwischenkriegszeit, anhand der im Jahr 1928 gegründeten Berliner Deutsch-Französischen Gesellschaft thematisiert.

Insgesamt vermitteln die Beiträge einen guten Überblick zu zahlreichen gesellschaftlichen Initiativen der deutsch-französischen Annäherung. Zugleich machen sie jedoch deutlich, woran die einschlägigen Forschungen nach wie vor ein wenig kranken. Manche Aufsätze verbleiben zu sehr auf der beschreibenden Ebene und hinterfragen die Selbstdarstellungen der Akteure zu wenig. Dies betrifft beispielsweise die Frage der Kontinuitäten über den Systembruch 1945 hinweg. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist der Grundton der Beiträge ein sehr positiver, selbst dann noch, wenn es um Akteure mit eher zweifelhafter Vergangenheit geht. Ein Beispiel dafür findet sich im Beitrag von Katharine Florin über den Cercle Français de Kassel. Florin zeichnet nach, dass die Gründerin des Cercle, Andrée Rozel-Häger, im Dezember 1944 von Frankreich nach Kassel kam. Sie vermutet – wahrscheinlich zurecht –, dass es Rozel-Hägers „Nähe, wenn nicht Kollaboration mit den Deutschen“ gewesen sei, die sie zu diesem Schritt bewogen oder gezwungen habe (S. 181). Obwohl Rozel-Häger über diesen Abschnitt ihres Lebens und ihre Motive der Übersiedlung nach Deutschland offensichtlich keine Auskunft gegeben hat, nimmt Florin dennoch an, dass sich deren „beharrliches Engagement für die deutsch-französische Versöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Ende ihres Lebens [...] als ihre ganz persönliche Wiedergutmachung“ deuten lasse (S. 182). Anstatt hier umstandslos zu unterstellen, dass alle unter dem Banner der deutsch-französischen Versöhnung segelnden Initiativen per se schon positiv einzuschätzen sind, könnten anhand solcher Biografien die Ambivalenzen und die dunklen Seiten, die mit der Semantik der Versöhnung auch verbunden waren, angesprochen und genauer untersucht werden.

So ist durchaus denkbar, dass unter dem Mantel der transnationalen Versöhnung belastete Biografien maskiert wurden oder in bestimmten Kreisen einer fragwürdigen Verständigungsidee das Wort geredet wurde. Auch die im Band angesprochenen Veteranenverbände wären diesbezüglich noch genauer in den Blick zu nehmen, denn nicht selten verbarg sich in Kreisen ehemaliger Soldaten hinter dem Schlagwort der Versöhnung die Forderung nach Freilassung internierter Kriegsverbrecher. Diese Strategie ist für die Bundesrepublik gut belegt, hat jedoch möglicherweise auch in transnationalen Kontexten funktioniert. Die Frage also, welches Frankreich und welches Deutschland sich versöhnen wollten, und was sich hinter dem Ansinnen nach Versöhnung im Einzelnen genau verbarg, wäre noch präziser aufzuschlüsseln.

Die Beiträge legen weitere, bisher wenig gestellte Fragen nahe, etwa im Hinblick auf „Europa“. In verschiedenen Aufsätzen wird postuliert, dass das Engagement im Sinne einer deutsch-französischen Annäherung auch um der europäischen Einigung willen entstanden sei. Diese These drängt sich insofern auf, als dies von Akteuren häufig selbst behauptet wurde. Näher belegt wird die Annahme jedoch nicht. Künftige Forschungen zu den transnationalen Gesellschaftsbeziehungen nach 1945 könnten sicher davon profitieren, enger mit Arbeiten zu Prozessen der Europäisierung bzw. zur europäischen Integration verbunden zu werden. Das würde beispielsweise beinhalten, die deutsch-französischen Beziehungen stärker in den Kontext anderer transnationaler Gesellschaftsbeziehungen zu rücken. Ebenso gewinnbringend dürfte es sein, nach dem Einfluss des transnationalen gesellschaftlichen Engagements auf den Prozess der im engeren Sinne politischen Integration zu fragen.

Weiterführend wäre es schließlich auch, die Konflikte in den transnationalen Gesellschaftsbeziehungen stärker in den Fokus zu rücken. Diese Ebene wird in zahlreichen Beiträgen zwar angesprochen, jedoch kaum vertieft. Gerade aus der Betrachtung von Konflikten sollte mehr darüber zu erfahren sein, wie die verschiedenen gesellschaftlichen Akteure nach den verheerenden Weltkriegen und der verbrecherischen Herrschaft der Nationalsozialisten in Europa überhaupt wieder miteinander ins Gespräch kommen konnten – und welche Hürden dabei zu überwinden waren.

Der Sammelband liefert wichtige Bausteine zum Verständnis der deutsch-französischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Dass am Ende der Lektüre genauso viele Fragen wie Antworten stehen, ist kein Mangel, sondern verdeutlicht umso mehr sein anregendes Potenzial.

Anmerkung:
1 Siehe den Bericht von Corine Defrance, in: H-Soz-u-Kult, 10.12.2007: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1795> (8.11.2010).