S. Truninger: Die Amerikanisierung Amerikas

Titel
Die Amerikanisierung Amerikas. Thorstein Veblens amerikanische Weltgeschichte


Autor(en)
Truninger, Stephan
Erschienen
Anzahl Seiten
214 S.
Preis
€ 27,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Voigt, Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur, Universität Leipzig

Stephan Truninger eröffnet einen neuen Zugang zum Denken des amerikanischen Intellektuellen Thorstein Veblen. Der 1857 in Wisconsin geborene und 1929 in Kalifornien verstorbene Ökonom und Philosoph norwegischer Abstammung wurde im deutschsprachigen Raum bisher kaum rezipiert, obwohl er aus vielfältigen Gründen für das Verständnis der amerikanischen und europäischen (Ideen-)Geschichte von großer Bedeutung ist. Die amerikanische Diskussion ist nicht losgelöst von der europäischen zu verstehen und europäische Theorien wurden unter den spezifischen Bedingungen Amerikas transformiert. Dass ein Bewusstsein der gesellschaftlichen Differenz gerade erst in der Auseinandersetzung mit Europa entstanden ist, die Amerikanisierung Amerikas demnach selbst als historischer Prozess zu begreifen ist, demonstriert Truninger überzeugend am Werk von Veblen.

Die ursprüngliche Motivation Truningers für die Beschäftigung mit dem Thema entstand durch die Beobachtung eines Anstiegs des Antiamerikanismus nach dem 11. September 2001. Diesem nicht mit einer Lobhudelei auf Amerika zu begegnen, sondern die meist diffuse Rede von der Amerikanisierung genauer zu untersuchen und den analytischen Gehalt des Begriffs durch seine Rückbindung an den realen Verlauf der amerikanischen Geschichte herauszuarbeiten, ist eine Intention des Buches.

Das Buch orientiert sich epistemologisch an der Kritischen Theorie, und die Auseinandersetzung mit Veblen, so Truninger, habe sich aus der Lektüre der Schriften Adornos zu Amerika ergeben.1 Veblens Leben und Werk werden als Material herangezogen und anhand dessen gesellschaftliche Erfahrungen herausdestilliert. Dies ermögliche, die Spezifika der modernen amerikanischen Gesellschaft in den Blick zu nehmen und der Frage nachzugehen, wann ein Bewusstsein davon entstanden sei, sich vom Rest der Welt gesellschaftlich zu unterscheiden. Hierfür sei es nötig, in die Zeit des „melting pot“ um 1900 einzutauchen und Veblens Werk ideologiekritisch zu analysieren. Truninger geht direkt ad fontes.

In der englischsprachigen Diskussion werde Veblen häufig als verschrobener Intellektueller abgetan. Bis heute existierten viele Mythen über sein Leben, die auch durch die wenigen Biografien und Gesamtinterpretationen genährt würden.2 Die Beschäftigung mit seinen Schriften ist in Deutschland so gut wie nicht existent, was auch daran deutlich wird, dass aus dem umfangreichen Werk bisher nur ein einziges Buch übersetzt wurde.3 Truninger plädiert dafür, Veblen als Theoretiker der Amerikanisierung Amerikas zu begreifen und zugleich seine sozialistische Gesellschaftskritik ernst zu nehmen, die Truniger als „Radikaldemokratismus“ bezeichnet. Hierfür muss eine verschüttete Geschichte freigelegt werden, und die Neuinterpretation führt dazu, Veblen als jemanden zu verstehen, „in dessen Leben und Werk sich gesellschaftliche Erfahrungen in Amerikas Mittlerem Westen verdichteten.“ (S. 28) Daran lässt sich zeigen, dass die Neue Welt auch neue analytische Instrumentarien entwickeln musste, um sich einen Begriff von sich selbst zu machen.

Truninger teilt das Buch in fünf Abschnitte, die chronologisch durch das Werk Veblens führen. Dieses wird an die Sozialgeschichte rückgekoppelt und aus dieser heraus erklärt. Im ersten Kapitel wird die Hinwendung Veblens zum Sozialismus als Reflex auf die spezifische Situation im Mittleren Westen Ende des 19. Jahrhunderts dargelegt. Die Entstehung einer modernen Industriegesellschaft, das Wachstum der Metropole Chicagos und die Monopole der großen Trusts haben zu einer fundamentalen Veränderung der Situation der Farmer geführt. Die Genese des Populismus sowie die Radikalisierung der Farmer und der Arbeiterschaft sind der Kontext der Politisierung Veblens. Nach seiner Promotion über Kant an der Yale University führte er zunächst ein Leben als ländlicher Bohème. Dieses wurde durch eine Wirtschaftskrise jäh beendet und er war gezwungen, zurück in die akademische Welt zu gehen, wo er sich an der Cornell University dem Studium der Ökonomie zuwandte. Ausgehend von Alltagsbeobachtungen wandte er sich verstärkt dem neuen Phänomen der Freizeit zu. Der Begriff der „conspicious leisure“, der harten Arbeit in der Freizeit, rückte ins Zentrum der theoretischen Reflexion. Klassische Termini der europäischen Sozialwissenschaft, wie beispielsweise die Kategorie der Klasse, taugten zur Erkenntnis der Verhältnisse in Amerika wenig. Dort entstand kein Klassenbewusstsein, weil dem Statuswettbewerb real keine Grenzen gesetzt waren und die Ideologie des American Dream den sozialen Aufstieg für alle versprach.

Die Theorie der Freizeit, die Hinwendung zum Sport und dessen sozialpsychologischen Implikationen sind die Themen des zweiten und dritten Kapitels. Veblen hat diese als wichtige Felder der sozialen Statusauseinandersetzung erkannt und damit zugleich eine spezifisch amerikanische Erfahrung in den Fokus gerückt, die der Absenz einer feudalen Vergangenheit entsprungen ist. Sport, so Truninger, sei für Veblen ein wichtiger Motor der Amerikanisierung geworden und habe als Bindemittel in einer pluralistischen und heterogenen Gesellschaft gewirkt. Die sozialwissenschaftliche Analyse des Sports markiert somit einen wichtigen Schritt zur Amerikanisierung der Sozialwissenschaften.4

Im vierten Kapitel wird der Beitrag Veblens zur Diskussion um den „melting pot“ dargelegt. Truninger betont, dass sein Werk in zwei deutlich zu unterscheidende Phasen zu trennen sei. Dieser Bruch, der in der Forschung bisher überhaupt nicht wahrgenommen wurde, fällt nach Truninger mit der Krise des amerikanischen Schmelztiegels im Ersten Weltkrieg zusammen, als die Selbstzerstörung Europas auch große Auswirkungen auf das amerikanische Selbstverständnis zeigte. Im gleichen Jahr wie dem Erscheinen des Aufsatzes „Democracy versus the Melting Pot“ von Horace Kallen hat sich auch Veblen theoretisch mit der Frage auseinandergesetzt, was es bedeute, Amerikaner zu sein. Er verteidigte das Konzept des „melting pot“ jedoch nicht mit einer Studie über Amerika, sondern mit einer komparativen Sozialgeschichte Deutschlands und Englands, die 1915 unter dem Titel „Imperial Germany and the Industrial Revolution“ erschien. Veblen begriff den Prozess der Amerikanisierung von Immigranten nicht als Anpassung an eine hegemoniale angelsächsische Kultur, sondern als Adaptation des Individuums an industrielle Verhältnisse und damit als Prozess der Traditionszerstörung. In der Erfahrung der Amerikanisierung manifestiert sich die „Gleichzeitigkeit von Säkularisierung und Industrialisierung.“ (S. 126) Somit verstand er unter Amerikanisierung einen globalen Prozess der Entfaltung der industriellen Gesellschaft, der sich beispielhaft im radikal bürgerlichen Amerika vollzog. Der amerikanischen Geschichte verleiht er damit den Charakter von Weltgeschichte.

Das fünfte Kapitel beschreibt Veblens letzte Schaffensphase, die 1923 mit der Veröffentlichung von „Absentee Ownership. Business Enterprise in Recent Times. The Case of America” ihren Abschluss fand. Nachdem Veblen während des Krieges kurze Zeit als Experte der Food Administration mit der Frage befasst war, wie die Getreideernte im Mittleren Westen gesichert werden könne, wurde er durch die in einem Memorandum ausgedrückte Sympathie für die radikale Gewerkschaft „Industrial Workers of the World“ (I.W.W.) zur persona non grata. Daraufhin beschäftigte er sich mit den Eigenheiten der amerikanischen Gesellschaft und der Genese ihrer Traditionen. Die Auseinandersetzung mit Turners These der „frontier“ im Westen als dem geografischen Ort der Amerikanisierung, brachte Veblen zur „country town“ als dem dynamischen Zentrum der Besiedlung. Nicht der autonome, auf sich allein gestellte Farmer, wie der amerikanische Mythos suggeriert, sondern die „country town“, die sich ihr eigenes Umland erschuf, muss im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Doch auch die „country towns“ sind nicht als isolierte Phänomene, sondern nur im Zusammenhang mit der Entwicklung der Eisenbahn zu begreifen. Die mit der Industrialisierung einhergehende Transportrevolution verband die „country towns“ wiederum mit der vom Big Business beherrschten Metropole Chicago, die als Absatzmarkt für die landwirtschaftlichen Produkte diente.

Die Analyse der ökonomischen Situation und seine bald enttäuschte Hoffnung in die durch die Russische Revolution angestoßene Umwälzung der Verhältnisse in Europa, ließen Veblen die Stagnation der amerikanischen Gesellschaft und das Ende der Geschichte proklamieren.

Truninger gelingt es nicht nur, die Relevanz Veblens für die amerikanische Ideengeschichte, sondern zugleich auch seine Aktualität für die heutige Diskussion überzeugend herauszustellen. Vorgelegt wird die erste Gesamtinterpretation des Vebleschen Werks in deutscher Sprache. Die Einbettung in die Sozialgeschichte stellt die historische Verortung der Vebleschen Begrifflichkeiten heraus. Dies kann helfen, die Selbstreflexion der Sozialwissenschaften über ihre historische Genese zu stimulieren. Die deutschsprachige Forschung zu Veblen wird in Zukunft an Truningers Buch nicht vorbeikommen.

Anmerkungen:
1 Theodor W. Adorno, Veblen’s Attack on Culture. Remarks Occasioned by the Theory of the Leisure Class, in: Zeitschrift für Sozialforschung 9 (1942), S. 389-403.
Und Theodor W. Adorno, Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika, in: ders., Gesammelte Schriften 10.2., Frankfurt am Main 1997 (1969), S. 702–738.
2 Die wichtigste Biografie ist nach wie vor Joseph Dorfman, Thorstein Veblen and his America, New York 1961 (1. Aufl. 1934). Für die Gesamtinterpretation noch immer ausschlaggebend ist David Riesman, Thorstein Veblen. A Critical Interpretation, New York 1953. Auch die neuere Veblen-Forschung wird von Truninger scharf kritisiert. Das Buch von Rick Tilman, The Intellectual Legacy of Thorstein Veblen. Unresolved Issues, Westport 1996 sei dürftig. Dem englischen Soziologen Stephen Edgell wirft er vor, neue Mythen zu konstruieren. Stephen Edgell, Veblen in Perspective. His Life and Thought, London 2001.
3 Thorstein Veblen, Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institution, Frankfurt am Main 2004 (1. Aufl. 1958). Der Originaltitel im Englischen lautet The Theory of the Leisure Class. An Economic Study of Institutions, New York 1899.
4 Eine gerade erschienene Publikation widmet sich dem kaum zu überschätzenden Einfluss des Sports auf das Alltagsleben. Im Sport lassen sich sowohl die Effekte der Globalisierung wie auch die Verstärkung einer lokalen und regionalen Identität aufzeigen. Zugleich beschreibt das Buch in aller Ausführlichkeit die Spezifik des Sports in Amerika und seine weltweite Ausstrahlung. Andrei S. Markovits / Lars Rensmann, Gaming the World. How Sport are Reshaping Global Politics and Culture, Princeton 2010.

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