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Titel
Die Schweiz verkaufen. Wechselverhältnisse zwischen Tourismus, Literatur und Künsten seit 1800


Herausgeber
Charbon, Rémy; Jäger-Trees, Corinna; Müller, Dominik
Erschienen
Zürich 2010: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Gerlinde Irmscher, Kulturwissenschaftliches Seminar, Humboldt-Universität zu Berlin

Den Kern des vorliegenden Sammelbandes bilden Referate einer Tagung, die Anfang 2009 von der Gesellschaft für die Erforschung der Deutschschweizer Literatur und dem Schweizerischen Literaturarchiv veranstaltet wurde. In Europa, speziell auch im deutschsprachigen Raum, war die Literaturwissenschaft seit den 1970er Jahren ein wichtiger Motor der Reise- und Tourismusforschung. Am Medium von Reiseberichten wurden ästhetische Themen der Landschaftswahrnehmung ebenso diskutiert wie ethnologische der Suche nach dem Eigenen im Fremden. Von Beginn an interessierten aber auch ganz „profane“ Umstände des Reisens, angefangen von den Routen über die Infrastruktur, die Ausstattung der Reisenden, ihre Lektüre und ihre Mitteilungen über Preise und Gefahren. Die Auseinandersetzung mit Reiseberichten und Reiseführern (die teilweise nicht zu trennen sind) brachte es mit sich, dass auch dem Werden der Fremdbilder nachgegangen und die Auswirkungen des Tourismus auf die Einheimischen thematisiert wurde. Die Schweiz nimmt in diesem Diskurs eine prominente Stellung ein, war sie doch als Reiseziel sowohl für die republikanisch Gesinnten interessant wie auch, dank der Alpen, für die Vorreiter neuer Seh- und Rezeptionsweisen von „Natur“ und des Bergsports.

Dies vorausgesetzt, wollen die Herausgeber von „Die Schweiz verkaufen“ zu einem neueren Forschungsschwerpunkt beitragen, der sich mit den „sozialen und ökonomischen Gegebenheiten“ (S. 7) auseinandersetzt und stärker nach den Auswirkungen des Tourismus auf die Bereisten fragt. Zu diesen gehören auch einheimische Künstler. Wie reagierten sie auf den Zustrom der Reisenden und auf die dadurch hervorgerufenen Veränderungen im Land? Welchen Anteil hatten sie vielleicht selbst an der Vermarktung ihres Landes und an den dominanten Bildern von der Schweiz?

In einer anregenden einleitenden Skizze versucht Dominik Müller, diesem Themengeflecht eine Struktur zu geben und nach den Funktionen zu fragen, die „Bilder, Texte, Bauten oder Filme im Zusammenspiel mit dem Tourismus übernehmen“ (S. 11). Das entspricht dem neueren Trend, Tourismus nicht als eine Art Sonderbereich zu betrachten, der mit dem übrigen Leben der Reisenden wie Bereisten wenig zu tun hat, sondern sich seiner fundamentalen Auswirkungen auf Weltbilder und Verhalten, auf die Konstitution des Fremden und Eigenen wie auch auf die sozialen und ökonomischen Folgen zu besinnen. Müller identifiziert fünf Problemkomplexe: die Konstruktion und Popularisierung der Schweiz als Reiseziel (Erschliessungsfunktion), die „Sicherung des Attraktionswertes“ (S. 11) durch Symbolsetzung, die „Familiarisierung“ mittels Identifikation ermöglichender Geschichten, eine kritische Funktion durch Thematisierung der problematischen Seiten des Tourismus und eine als „Erinnerungskultur“ bezeichnete Funktion (ältere Zeugnisse des Tourismus werden schnell selbst zur Attraktion). Diese Problemkomplexe werden an Beispielen aus der Hochkultur (Ferdinand Hodler) wie dem Trivialen (Plakate der Tourismuswerbung oder dem „Heidi“-Roman) durchbuchstabiert.

Wie schon in der Einleitung angekündigt, bestimmen aber neben solchen Überblicksdarstellungen vor allem Detailuntersuchungen den Charakter des Buches. Hier wird allerdings nicht immer deutlich, welchen Beitrag sie zum gemeinsamen Anliegen leisten. Auffällig ist auch, dass die Ambivalenz in der Einschätzung von Folgen des Tourismus, die die Autorinnen und Autoren bei ihren Protagonisten konstatieren, sie auch selbst betrifft. Sind Zivilisationskritiker wie Meinrad Inglin legitime Vorboten heutiger Tourismuskritik und sollten deshalb als „Naturdichter“ neu gelesen werden (Marcena Górecka) oder soll man sich besser darüber freuen, dass „die automatisierten Abwehrreflexe heimatliterarischer Provenienz auch in der romanischen Literatur endgültig überwunden“ (S. 226) sind (so Clà Riatsch)?

Im zweiten Übersichtsartikel untersucht Rémy Charbon, welchen Widerhall der zwischen 1800-1914 anschwellende Tourismus in der Deutschschweizer Literatur gefunden hat - im Fokus dabei „die sozialen und ökonomischen Auswirkungen dieser friedlichen Eroberung“ (S. 75) auf die Bereisten. Die Mehrzahl der Autoren, so das Fazit, habe versucht, den städtischen Lesern die Umwälzung der herkömmlichen Ordnung darzustellen und dafür zu werben, Trauer um „den Verlust einer romantisierten heilen Welt“ sei selten anzutreffen. Kaum werde allerdings die Welt derer geschildert, die die Touristen bedienen; sind sie dem bürgerlichen Leser und seinem Autor vielleicht keiner Darstellung wert, wie sie übrigens auch in Reiseberichten kaum personifiziert auftauchen oder ganz verschwiegen werden. Am Ende des Aufsatzes merkt Charbon an, hier möglicherweise ein „Modell der Beziehungen“ zwischen Einheimischen und Touristen geschildert zu haben, wie es heute im Zusammenhang mit dem Drittwelttourismus diskutiert werde. Das hätte den Herausgebern zu der grundsätzlichen Frage Anlass geben können, welche Möglichkeiten, aber auch Einschränkungen in Kauf genommen werden, wenn ein Weltphänomen wie der Tourismus in nationalstaatliche Grenzen abgehandelt wird.

Auch die dritte Herausgeberin, Corinna Jäger-Trees, ist mit einem Beitrag vertreten, der das Anliegen des Buches, Texte und Bilder daraufhin zu befragen, wie dort soziale und ökonomische Folgen des Tourismus verarbeitet werden, explizit vertritt. Heinrich Federers bekanntes Buch „Berge und Menschen“ wird als „Tourismuskonzept“ gelesen, dem erstaunliche Modernität attestiert wird (als Vergleichsfolie dienen die Forderungen des Tourismusforschers Jost Krippendorf aus den 1980er-Jahren). In einem zweiten Schritt stellt sie Federer als Touristen dar, der selbst durch seine Reisen, aber auch durch Postkarten und Plakate, mit einer bestimmten Darstellungsweise der Schweiz konfrontiert wurde, die zur „Standardisierung des touristischen Blicks“ (S. 132) geführt habe. Dem gehorche Federers literarische Darstellung. Literatur und damit Meinungsbildung beim Lesepublikum seien also mit großer Wahrscheinlichkeit durch Tourismuswerbung beeinflusst. Hier wie auch im noch zu besprechenden Beitrag von Matthias Fischer zeigt sich allerdings, dass den wechselseitigen Bezügen zwischen Tourismuswerbung und etwa der Wahl von Reisezielen wie auch den Bildern in den Köpfen der Touristen nicht wirklich beizukommen ist, ohne diese selbst zu untersuchen.

Die Mehrzahl der versammelten Beiträge beschäftigt sich mit literarischen Quellen aus literaturwissenschaftlicher Sicht: dem Reiseschriftsteller Ebel (Klaus Petzold), Dorf- und Heimatschutzgeschichten (Rémy Charbon), dem Wanderer Widmann (Elsbeth Pulver), trivialliterarischen Darstellungen des Matterhorns (Katharine Weder), Bergdarstellungen als medicina mentis (Andreas Solbach), Annemarie Schwarzenbach und ihrem Reisebuch (Gonçalo Vilas-Boas), Ulrich Bechers „Murmeljagd“ (Ulrich Weber), dazu dem Spiel „Reise durch die Schweiz“ (Janine Schiller).

Der Aufsatz von Iréne Minder-Jeanneret wendet sich dagegen der „musikalischen Identität der Schweiz“ (S. 253) und ihrer Konstruktion zu. Am simplen Wechsel nicht der Quellen (es sind Reiseberichte), sondern des Mediums (vom Text zur Musik) zeigt sich die Komplexität der Konstruktion von Schweiz-Bildern wie von selbst. Dazu nimmt die Autorin mehrere Blickwechsel vor. Zunächst macht sie deutlich, dass das, was bis heute als Schweizer Volksmusik gilt, unentwirrbar mit dem Tourismus verbunden ist. Wichtiger als die Trennung von Schweiz und Ausland erweisen sich die sozialen und kulturellen Unterschiede im Lande selbst (auch dies kein Spezifikum der Schweiz). Immer sind es bürgerliche Wohlmeinende, die dem vom (bürgerlichen) Tourismus bedrohten Volk das bewahren oder zurückgeben wollen, was sie für seine Identität halten. Doch was spielten und sangen sie selbst, zu Hause oder im Hotel? Die wenigen Belege deuten darauf hin, dass es die Versatzstücke der europäischen bürgerlichen Salonkultur waren. Vor diesem Hintergrund „der verschiedenen koexistierenden musikalischen Kulturen“ (S. 259) zeichnet Minder-Jeanneret nach, wie aus den schon sprichwörtlichen „singenden Brienzerinnen“ ein Stereotyp, eine „Marke“ wurde, was aber half, bisher nur mündlich Tradiertes vor dem Untergang zu bewahren und den Bereisten ihr Auskommen zu sichern. Daneben erwiesen sich Lieder und Opern über die Schweiz als Souvenirartikel.

Den Abschluss bildet ein Aufsatz von Matthias Fischer, der sich mit Ferdinand Hodlers Beitrag zum touristischen Bild der Schweiz beschäftigt – vor allem einem der wirkmächtigsten: der Schyningen Platte mit Aussicht auf Eiger, Mönch und Jungfrau. Hodler arbeitete im Auftrag von Tourismus-Vermarktern, die wiederum durch fotografische Vervielfältigung seine Kunst publik machten. Im Zuge einer Hodler-Renaissance sei dies bis heute nachzuweisen. Fischer postuliert für die Zeit um 1900 „eine enge Beziehung von touristischer, fotografischer und künstlerischer Erschliessung (S. 285) und belegt dies in lesens- und anschauenswerter Weise. Spekulativ müssen allerdings die zahlreichen Hinweise auf mögliche Wirkungen bleiben. Hodler selbst war auch Reisender und Gast im eigenen Land. Manches konnte er nur malen, weil eine Bahnlinie ihm wie anderen Touristen einen bequemen Zugang zu einem Bildmotiv ermöglichte (wie übrigens auch Fotografen, die zeitgleich dieselben Bildausschnitte wählen). Mit seinen Bildern wurde nicht nur in den Hotels für die dargestellte Landschaft geworben, zwei mit Hodlers Hilfe in Interlaken durchgeführte Kunstausstellungen (von mäßigem Erfolg!) sollten die neue touristische Infrastruktur profitabel machen. Dem diente, so beschließt der Autor das von ihm analysierte „Geschäftsmodell“, auch ein Auftritt des „Malers der Schweiz“ auf einer Internationalen Reise- und Fremdenverkehrsausstellung in Berlin im Jahre 1911, auf der sein Panorama der nun so genannten Schyningen Platte die Bewunderung eines internationalen Publikums fand.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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