Cover
Titel
Liebe, Lust und Last. Die Pille als weibliche Generationserfahrung in der Bundesrepublik 1960-1980


Autor(en)
Silies, Eva-Maria
Reihe
Göttinger Studien zur Generationsforschung 4
Erschienen
Göttingen 2010: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
484 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christopher Neumaier, Historisches Seminar: Neueste Geschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Eva-Maria Silies analysiert in ihrer Dissertation am Beispiel der Auseinandersetzungen mit der Antibabypille, wie sich in den 1960er- und 1970er-Jahren die Beziehungen zwischen den Generationen und den Geschlechtern wandelten. „Die Pille“ machte die Kontrazeption, im Vergleich mit traditionellen Verhütungsmitteln, einfacher und war zugleich Kristallisationspunkt öffentlicher Kontroversen. In den Debatten wurden insbesondere die möglichen gesundheitlichen Nebenwirkungen der Pille und die Konsequenzen für die gesellschaftlichen Moralvorstellungen diskutiert. Mit der Pille veränderten sich aber auch die Möglichkeiten für Frauen, sicher und eigenständig Schwangerschaften zu verhindern, und damit gingen Änderungen in den Geschlechterbeziehungen einher. Bei der Analyse dieser Aushandlungsprozesse konzentriert sich Silies auf die Perspektive der Frauen und zeigt, wie sich die Erfahrungen der pillennutzenden Töchter grundlegend von denen ihrer Mütter unterschieden.

Sicherlich erleichterte die Pille die Lebensplanung der Frauen, da sie die Entkopplung von Sexualität und Schwangerschaft weitgehender ermöglichte als zuvor. Aber ohne eine Berücksichtigung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bliebe unklar, warum Debatten um Moralvorstellungen und gesundheitliche Nebenwirkungen entbrannten und warum sich die Pille dennoch als Verhütungsmittel erfolgreich durchsetzen konnte. Silies untersucht daher auch, in welchen Kontext Debatten um die Pille und die Erfahrungen von Frauen mit der hormonellen Kontrazeption eingebettet waren und wie sie sich veränderten. Auch stellt sich die Frage, ob die Pille die „sexuelle Revolution“ ausgelöst habe, was von der Autorin verneint wird. Nach sexualwissenschaftlichen Studien sei es nicht zu einer allgemeinen Promiskuität gekommen. Vielmehr hätten diese Untersuchungen gezeigt, dass „junge Paare zwar zunehmend voreheliche Sexualität praktizierten, ein Großteil sich aber zu einem Partner bekannte, mit dem in der Regel eine (längere) Beziehung eingegangen wurde“ (S. 428). Als die Zahl der Pillennutzerinnen gegen Ende der 1960er-Jahre anstieg, konstituierte sich „vielmehr nach und nach ein neuer, kollektiv überwiegend akzeptierter Handlungsrahmen der sozialen Praxis bei Sexualität allgemein und Verhütung im Speziellen“ (S. 428), der die bundesrepublikanische Gesellschaft im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts prägte. Infolge dieses Wandels verschoben sich im öffentlichen und privaten Diskurs die Grenzen des Sagbaren. Sexualität und Verhütung entwickelten sich anhand der Pillendiskussion von Tabuthemen zu einem Gegenstand öffentlicher Diskurse.

In fünf Kapiteln wird gezeigt, wie sich die Diskurse zu Sexualität und Verhütung sowie die Geschlechter- und Generationenbeziehungen zwischen 1960 und 1980 wandelten. Silies spricht sich in diesem Zusammenhang dezidiert gegen eine lineare Interpretation des gesellschaftlichen Wandels aus. Ihre Untersuchungen zeigen, dass mit der Verbreitung der Pille „vielmehr die Ambivalenzen einer modernisierten oder liberalisierten Gesellschaft“ (S. 15) deutlich zu Tage traten. Belegt werden die Thesen der Historikerin auf der Basis eines breiten Quellenmaterials, das insbesondere 17 leitfadengestützte Interviews, statistische Unterlagen, Berichte in Zeitschriften und Zeitungen sowie Dokumente aus dem Bundesarchiv und dem Archiv der Schering AG umfasst.

Eben dieser Pharmakonzern brachte im Jahr 1961 die Pille in Deutschland auf den Markt. Da Empfängnisverhütung zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht öffentlich verhandelt wurde, erwähnte der Konzern diese Produkteigenschaft der Pille lediglich als eine von mehreren möglichen Indikationen. Bereits im darauffolgenden Jahr änderte Schering jedoch die Marketingstrategie – nicht zuletzt wegen des Markteintritts von Wettbewerbern. Jetzt wurde „die Pille“ explizit als Verhütungsmittel angepriesen. Obgleich die Illustrierte „Stern“ im Juni 1961 einen Artikel über das neue Verhütungsmittel veröffentlichte, berichteten die anderen Printmedien erst gegen Mitte der 1960er-Jahre verstärkt über die Pille und machten sie einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Die Artikel setzten sich insbesondere mit der medizinischen Seite wie den Nebenwirkungen und Langzeitfolgen sowie mit den moralischen Konsequenzen für die Gesellschaft auseinander. Dabei ging es auch um die Frage, wer die Pille erhalten sollte. Zum Beispiel sprachen sich die Kritiker gegen eine Abgabe der Pille an unverheiratete Frauen und Mädchen aus, da sie „als Gefahr für Körper und Moral“ (S. 91) galt.

Eine Stärke der Arbeit ist, dass Silies nie den eigentlichen Schwerpunkt der Studie aus dem Blick verliert: die fortlaufende „Neu- und Umbewertung von Sexualität und Empfängnisverhütung“ (S. 9) durch verschiedene Akteure. Zu diesen Protagonisten gehörten Frauen, Medien und drei Expertengruppen: die Ärzteschaft, die Beraterinnen und Berater an den Ehe- und Familienberatungsstellen sowie die katholische Kirche. Den Ärzten gelang es aufgrund ihres Fachwissens, sich in der Auseinandersetzung um die Pille als unverzichtbare „humanwissenschaftliche Experten außerhalb des Sozialstaats“ (S. 219) zu etablieren. Bei den Beratungsstellen muss zwischen konfessionellen Beratungseinrichtungen und Pro Familia unterschieden werden. Die konfessionellen Einrichtungen leisteten primär soziale Beratungsarbeit, wohingegen Pro Familia sich auf die „Verhütungsberatung“ (S. 244) konzentrierte. Das schloss die Verschreibung der Pille ein. Infolgedessen waren die Kompetenzen zwischen den Ärzten und Pro Familie nicht klar abgegrenzt, so dass es zu Konflikten kam. Gerade die bei Pro Familia angestellten Ärztinnen und Ärzte trieben diese Kompetenzverlagerung voran. Innerhalb der dritten Expertengruppe, der katholischen Kirche, gab es ebenfalls eine Kompetenzverschiebung: Die Amtskirsche verlor an Einfluss und die katholischen Laien beanspruchten die Rolle der Experten zu Fragen von Sexualität und Verhütung.

Als „zeitliches Scharnier“ (S. 13) sieht Silies das Jahr 1968, da es für die Geschichte der Pille eine entscheidende Wendemarke gewesen sei. Gegen Ende der 1960er Jahre stieg zwar einerseits die Zahl der Nutzerinnen stark an. Andererseits wurden im öffentlichen Diskurs, insbesondere von der Neuen Frauenbewegung, kritische Stimmen zur hormonellen Verhütungsmethode laut. Eine wachsende Zahl von Aktivistinnen habe sich entschieden, die Pille nicht (mehr) zu nehmen, weil sie sich von der Bevormundung durch Ärzte emanzipieren und ihrem Körper nicht den mit der Pille verbundenen gesundheitlichen Risiken aussetzen wollten. An dieser Stelle hätte sich eine internationale Perspektive auf die Nutzung der Pille angeboten, denn es bleibt unklar, ob es einen ähnlichen Bruch auch in anderen Ländern gab. In ihrem Fazit plädiert Silies daher nachdrücklich für eine Geschichte der Pille aus einer international vergleichenden Perspektive. Die Pille sei „ein globales Produkt“ (S. 431) und die Erfahrungen mit dieser Methode der Empfängnisverhütung nicht auf Deutschland beschränkt. Obgleich Silies diesen Anspruch selbst lediglich im Kapitel über die Entwicklungsgeschichte der Pille einlöst, zeigt sie zumindest auf, in welche Richtung zukünftige Forschungsvorhaben zur Sexualität gehen könnten. Wegweisend ist dessen ungeachtet Silies Fazit zur „Pille als eine generationelle Erfahrung von Frauen“ (S. 425). Die Pillennutzerinnen machten grundlegend andere „Erfahrungen mit Sexualität und Verhütung“ (S. 426) als ihre Müttergeneration, da die Pille die Verhütung erleichterte und zuverlässiger machte. Da so das Risiko einer ungewollten Schwangerschaft minimiert wurde, leistete die Pille einen entscheidenden Beitrag dafür, dass eine Pluralität von Lebensformen entstehen konnte. Frauen hatten nun zum Beispiel die Wahl zwischen gewollter Kinderlosigkeit, traditioneller Mutterrolle und der Kombination von Familien- und Berufsleben. Dieser Wandel ging einher mit gesamtgesellschaftlichen Veränderungen, wie zum Beispiel den verbesserten Bildungschancen für Frauen.

Die Unsicherheiten und Ambivalenzen, welche die Geschichte der Pille und ihrer Nutzerinnen prägten, würden der Lesart der Geschichte der BRD als lineare Fortschrittsgeschichte widersprechen, betont Silies. Damit würden die bisherigen Interpretationsätze der Geschichtswissenschaft wie Liberalisierung, Modernisierung oder Amerikanisierung bzw. Westernisierung die von der Pille initiierten Wandlungsprozesse nicht hinreichend erklären. Wünschenswert wäre es gewesen, wenn die Autorin diese tragfähige These nicht nur in Einleitung und Schluss präsentiert, sondern auch im empirischen Teil der Studie explizit herausgearbeitet hätte. Dieser Einwand soll die Leistung aber nicht schmälern. Eva-Maria Silies hat in ihrer überzeugenden Arbeit zahlreiche zentrale Veränderungen im privaten und öffentlichen Bereich zwischen 1960 und 1980 herausgearbeitet und zugleich mögliche zukünftige Forschungsfragen benannt.

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