C. Kasper-Holtkotte: Die jüdische Gemeinde von Frankfurt/Main

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Titel
Die jüdische Gemeinde von Frankfurt/Main in der Frühen Neuzeit. Familien, Netzwerke und Konflikte eines jüdischen Zentrums


Autor(en)
Kasper-Holtkotte, Cilli
Erschienen
Berlin 2010: de Gruyter
Anzahl Seiten
736 S.
Preis
€ 189,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Verena Kasper-Marienberg, Institut für Geschichte, Karl-Franzens-Universität Graz

Nachdem die frühneuzeitliche jüdische Geschichte Frankfurts am Main trotz Größe und Bedeutung der Gemeinde im Aufschwung der jüdischen Lokalgeschichtsforschung eher unbeachtet geblieben war, sind in den letzten Jahren einige wichtige Arbeiten zur dieser Gemeinde in ihren sozialen, religiösen, politischen wie rechtlichen Kontexten entstanden.1 Cilli Kasper-Holtkotte2 fügt dem sich neu konstituierenden, differenzierteren Bild der Gemeinde nun umfangreiches neues bzw. neu aufbereitetes Quellenmaterial vor allem aus den Beständen des Frankfurter Stadtarchivs hinzu (S. 15, 689-691).

Ziel der Studie sei es, so die Autorin, die Grundbedingungen frühneuzeitlichen jüdischen Lebens in Frankfurt im Zeitraum zwischen dem Beginn des 16. Jahrhunderts und dem Brand der Judengasse 1711 zu skizzieren. Darüber hinaus geht es ihr darum, Gründe für die nach wie vor ungeklärte kontinuierliche Vorrangstellung der Frankfurter Gemeinde bis ins 18. Jahrhundert zu finden (S. 12). Ein Schwerpunkt der Arbeit liegt dabei auf der Darstellung sozialer Netzwerke innerhalb der Gemeinde, was durch extensiv biographisch gefütterte Fußnoten eingelöst wird sowie durch zwei Kapitel zu bedeutenden Financiers und führenden Familien der Frankfurter Judengasse. Zwar hätte man sich eine etwas klarere theoretische Einbettung der Methodik innerhalb des breiten Spektrums an Netzwerkmodellen gewünscht (S. 13f.). Die Autorin kann dennoch überzeugend zeigen, wie ungeheuer stark Familienpatronage und Klientelbeziehungen zwischen den Oberschichtfamilien in der Frankfurter Judengasse und den umliegenden Großgemeinden, vor allem Worms und Friedberg, die politische und soziale Binnenstruktur prägten.

Der Aufbau der Arbeit bildet die Heterogenität der Quellen ab und den collagenhaft ineinander greifenden Charakter der umfangreichen Bestände. Das erste Kapitel (S. 17-35) führt knapp in die rechtlichen, ökonomischen, verfassungsmäßigen und baulichen Rahmenbedingungen jüdischen Lebens in Frankfurt ein. Die bekannten Informationen aus der Sekundärliteratur werden sowohl durch biographische Informationen ergänzt als auch – hinsichtlich des Abgabensystems – durch präzise aufgeschlüsselte Abgabeleistungen der Gemeinde vor allem aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, wie sie die Autorin in den Rechneiamtsbeständen gefunden hat.

Kapitel 2 (S. 37-94) trägt bereits den die Studie kennzeichnenden, zahlreiche Einzelschicksale integrierenden personalen Charakter, insofern die „Wirtschafts- und Finanzwelt“ des Frankfurter Ghettos anhand ausgewählter Kreditoren, Geld- und Warenhändler sowie Münzwechsler dargestellt wird. Dabei kann die Autorin unter anderem zeigen, dass die meisten jüdischen Geldverleiher in Frankfurt eher kleinräumig als überregional agierten und oftmals lokale Kenntnisse und Bekanntheit aufgrund ihrer Herkunft zum Aufbau stabiler langfristiger Kreditbeziehungen nutzten (S. 40f.). Schwerpunktmäßig bedienten sie dabei neben der nichtjüdischen Bevölkerung Frankfurts die umliegenden hanauischen Gemeinden mit Klein- und Kleinstkrediten (S. 58f.). Gleichwohl war die Frankfurter Judengasse auch Sitz großer europaweit agierender Kapitalgeber, die nicht nur sehr kontinuierliche Kreditbeziehungen zu Adelshäusern aufbauten, die sich teils vom 16. bis ins 18. Jahrhundert verfolgen lassen (S. 80), sondern auch innergemeindlich über mehrere Generationen hinweg die Führungspositionen besetzten, parallel sowohl in Frankfurt als auch in Worms (S. 64).

Das dritte Kapitel (S. 95-335) bildet inhaltlich wie quantitativ das Kernstück des Buches und bearbeitet Frankfurter, die Juden betreffende Gerichtsverfahren ab der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum ausgehenden 17. Jahrhundert. Ausgewählt wurden dabei vier Zeiträume, die besonders markante Konfliktsituationen markierten: die Judenversammlung in Frankfurt 1603 (S. 110-122), die Ausweisung und Vertreibung der Frankfurter Juden in Folge des Fettmilch-Aufstands 1612-1616 (S. 123-185) sowie zwei innergemeindliche Auseinandersetzungen in den 1620er- und 1670/80er-Jahren (S. 185-267, 267-335). Insbesondere für den Zeitraum vor und nach dem Fettmilchschen Pogrom und der Ausweisung der Juden aus Frankfurt kann Kasper-Holtkotte zeigen, wie intensiv die Frankfurter Gerichte von Bürgerschaft und Judengemeinde in Anspruch genommen wurden und wie ernsthaft versucht wurde, legale und rechtsförmige Regelungen zu finden. Schließlich konnte der Rückgriff auf gewalttätige Konfliktlösungsstrategien seitens der Bürgerschaft zwar nicht verhindert werden, gleichwohl wurden die Geschehnisse umgehend erneut von Gerichtsverfahren flankiert sowie Restitutionsverfahren angestrebt, in denen wiederum prominent die Gemeindevorsteher agierten. Die Justiznutzung blieb also beinahe ungebrochen und erweist sich als wichtiges Vor- und Nachspiel der Geschehnisse, in dem die Judenschaft versuchte, aktiv zu agieren und nach bewährten Schutz- und Lösungsmöglichkeiten angesichts der Bedrohung zu suchen.

Kapitel 4 widmet sich einer weiteren Profilbildung der unter anderem in den Konfliktszenen hervorgetretenen Gemeindeexponenten. Die Autorin wählt dabei wiederum einen personalen Zugriff über neun besonders bedeutende Familien, die sie genauer verortet hinsichtlich Heiratspolitik und Handelsverbindungen, Wohnsituation sowie öffentlichem Auftreten und Agieren für die Gemeinde. Sie kann feststellen, dass „die Gemeinde während des 16. und 17. Jahrhunderts durchgehend von nur wenigen Familien dominiert wurde“ (S. 395), wobei sich Besetzung und Machtkonstellation der Gemeindeführung während des gesamten Zeitraums trotz innergemeindlicher Krisen nicht prinzipiell geändert hätten. Dabei habe die Bestimmungsmacht mit wirtschaftlicher Potenz, Sozialprestige und funktionierenden Netzwerken in der Gemeinde und Nachbargemeinden ebenso wie mit guten Kontakten zur nichtjüdischen Obrigkeit bis hin zum Kaiserhof zusammen gehangen (S. 399). Diese Elite habe dabei nicht nur die Vorrangstellung ihrer eigenen Position, sondern zugleich auch die dauerhafte Stabilitätssicherung der Gemeinde befördert, woraus sich wiederum die kontinuierliche Vorrangstellung der Frankfurter jüdischen Gemeinde herleiten lasse (S. 407).

Der Anhang (S. 409-686) korrespondiert mit den einzelnen Kapiteln und bietet in tabellarischer Form statistische Erhebungen, Quellentranskriptionen, Stammbäume, Dokumente im Volltext oder in Zusammenfassung sowie Findbucheinträge, die sicherlich für weitere Forschungen viel Arbeitsmaterial bieten. Über ein umfängliches Personen- wie Ortsregister (S. 704-736) ist ein hilfreiches Instrument zur gezielten Suche nach einzelnen Akteuren an die Hand gegeben worden, das diese Arbeit zu einem wichtigen biographischen Nachschlagewerk für die Frankfurter Judenschaft im 16. und 17. Jahrhundert werden lässt. Die Autorin hat dabei vor allem auf das für Frankfurt ohne Zweifel unverzichtbare, gleichwohl nicht gedruckte und daher kaum zugängliche Werk Shlomo Ettlingers zurückgegriffen. Wohl zugunsten einer besseren Lesbarkeit hat die Autorin auf eine genaue Quellenkennzeichnung für die biographischen Einzelbeschreibungen verzichtet, was die Ungereimtheiten zwischen den einzelnen biographischen Werken sowie Uneindeutigkeiten, wie sie beispielsweise über die jüdische Namensschreibung immer gegeben sind, leider überdeckt. Hier wäre eine Einschätzung der Autorin, wie dem am besten zu begegnen und beizukommen wäre, wünschenswert gewesen.

Kasper-Holtkottes Ansatz, Konflikt- und Netzwerkanalyse zu kombinieren, erscheint als interessante Idee, die zeigen kann, dass jüdische Akteure vor den Frankfurter Lokalgerichten oft zugleich prominente wie polarisierende Akteure innerhalb der Gemeinde waren, die hauptsächlich im verwandtschaftlich vernetzten Gruppenverband handelten. Wenig überraschend liegt daher der Scheinwerfer auf den Funktionsträgern der Gemeinde. Wenngleich oft vermutet, kann Kasper-Holtkotte nun erstmals konkret zeigen, inwiefern die verwandtschaftliche Verknüpfung dieser Führungselite deren Machterhalt selbst in Krisenzeiten zu Gute kam. Ob und inwiefern hier situationsübergreifende Muster zu erkennen sind, wäre nunmehr eine spannende Frage, ebenso wie ein notwendig vergleichender Blick auf nichtjüdische Führungseliten interessieren würde.

Schwäche und Stärke der Arbeit liegen in der schieren Menge an Einzelpersonen und -geschichten, die die Autorin zweifellos darstellerisch gekonnt herausgearbeitet hat. So scheint es dem/der Leser/in unmöglich, den Überblick über Hunderte von Einzelschicksalen und Namen zu behalten oder diese gar in Beziehung zu setzen, wie es von einer klassischen Netzwerkanalyse wohl zu erwarten gewesen wäre. Gleichwohl bietet die Arbeit gerade im dritten Kapitel eine Fülle an faszinierenden, bislang unbekannten Fällen und spannende Einblicke in die völlig heterogenen Konfliktszenarien dieser Gemeinde und die Reichhaltigkeit der Frankfurter Bestände.

Anmerkungen:
1 Andreas Gotzmann, Jüdische Autonomie in der Frühen Neuzeit. Recht und Gemeinschaft im deutschen Judentum, Göttingen 2008; Birgit Klein, Wohltat und Hochverrat. Kurfürst Ernst von Köln, Juda Bar Chajjim und die Juden im alten Reich, Hildesheim 2003; Fritz Backhaus u.a. (Hrsg.), Die Frankfurter Judengasse. Jüdisches Leben in der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 2006; Helen Elhanan / Rivka Ulmer, Turmoil, trauma, and triumph – the Fettmilch Uprising in Frankfurt am Main (1612-1616) according to the Megillas Vintz: a critical edition of the Yiddish and Hebrew text including an English translation, Frankfurt am Main 2001; Edward Fram, A Window on Their World. The Court Diary of Rabbi Hayyim Gundersheim, Frankfurt am Main (1773-1794), Cincinatti 2010 (im Druck); Verena Kasper-Marienberg, Die Frankfurter Judengemeinde und der Reichshofrat unter Joseph II. (1765-90), Innsbruck 2011 (im Druck); Stefan Litt (Hrsg.), Jüdische Gemeindestatuten aus dem aschkenasischen Kulturraum 1650-1850, Göttingen 2011 (im Druck).
2 Die Namensähnlichkeit zwischen Autorin und Rezensentin ist zufällig.

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