S. Boscani Leoni (Hrsg.): Wissenschaft – Berge – Ideologien

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Titel
Wissenschaft – Berge – Ideologien. Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733) und die frühneuzeitliche Naturforschung


Herausgeber
Boscani Leoni, Simona
Erschienen
Basel 2010: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 41,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd Giesen, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Abteilung Geschichte, Universität Bielefeld

Der Sammelband vereinigt deutsch- und italienischsprachige Beiträge einer 2007 veranstalteten Tagung und reiht sich in die nunmehr ein gutes Jahrzehnt währende neue kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Beschäftigung mit dem Zürcher Arzt und Naturforscher Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733) ein.1 Die Herausgeberin Simona Boscani Leoni (Heidelberg) erläutert in ihrer knappen Einleitung, wie sich Scheuchzers Leben und Werk im Spannungsfeld von Wissenschaft, Bergen und Ideologien verorten lässt.

Mit dem Begriff Wissenschaft hebt Boscani Leoni Scheuchzers Forschungsaktivitäten und ihren vergleichsweise hohen empirischen Anspruch hervor. Der Zürcher Naturforscher unternahm zusammen mit Kollegen und Studenten zahlreiche Reisen durch die Eidgenossenschaft und ihre verbündeten Länder (vor allem „Drei Bünde“), vollzog Besteigungen von Voralpengipfeln und erhob auf seinen Erkundungstouren eine Reihe empirischer Daten mithilfe von Instrumenten wie Thermometer und Barometer.

Die Berge erhielten Boscani Leoni zufolge Scheuchzers besondere Aufmerksamkeit, weil ihre Erforschung Einblicke in die geologische Geschichte der Erde sowie in meteorologische und hydrologische Zusammenhänge versprach. Die europäischen Gelehrtenzirkel diskutierten die Gebirgsbildung und Herkunft von Fossilien in engem Zusammenhang mit Debatten über die durch die Bibel überlieferte Sintflut. Scheuchzer sah in Anlehnung an den englischen Arzt John Woodward (1665-1728) in den Fossilien organische Überreste von Tieren und Pflanzen aus der Zeit vor der Sintflut. Da sie die Ähnlichkeit der Welt vor und nach der Sintflut bewiesen, ließen sich auch die Unregelmäßigkeiten der Erdoberfläche als wohlwollende göttliche Vorsehung interpretieren. Die frühneuzeitliche Naturforschung blieb weiterhin eng mit dem Nachweis von Gottes Existenz verbunden.

Scheuchzer ging es aber nicht nur darum, einen allgemeinen Gottesbeweis zu führen, sondern auch die Qualitäten des eigenen, von der „Güte Gottes“ geformten Vaterlands herauszustellen. Dies zeigt sich insbesondere in einem Fragebogen, den Scheuchzer seinen Mitbürgern im „Schweitzerland“ als Anregung und Leitfaden für Erkundungen der heimischen Natur an die Hand geben wollte.2 Scheuchzer entwickelte im Rahmen dieses patriotischen Ansatzes eine Reihe von politischen Ideologien, die die heimische Bergwelt verherrlichen. In diesem Sinne insistiert er auf der zentralen geographischen und hydrographischen Lage der Alpen, stilisiert das Gotthardmassiv gar zur „mater fluviorum“. Die gute Bergluft und die Qualität der heimischen Milchprodukte sieht Scheuchzer als Grund für die gute gesundheitliche Verfassung des „homo alpinus helveticus“, für seine Liebe zur Freiheit und Demokratie sowie für das Heimweh, die so genannte Nostalgia, die die Schweizer Söldner während ihrer Dienste im tiefer gelegenen europäischen Ausland erleiden mussten.

Eine Reihe von Beiträgen des Sammelbandes fokussiert auf das naturwissenschaftliche Werk Scheuchzers. Paola Giacomini (Trient) untersucht unter Einbeziehung zahlreicher bildlicher Darstellungen aus Scheuchzers „Physica sacra“ das grundsätzliche, äußerst komplexe Beziehungsverhältnis zwischen Gott und Wissenschaft. Während Ezio Vaccari (Varese), Monika Gisler (Zürich) und Urs B. Leu (Zürich) fundierte Einblicke in Scheuchzers geologische Forschungsaktivitäten sowie seine Erdbeben- und paläontologische Forschungen bieten, widmen sich Rudolf Felfe (Berlin) und Claude Reichler (Lausanne) noch einmal den Bildern im Werk von Scheuchzer, die entweder in Form von collagierten Klebebänden erhalten oder in seinen Büchern publiziert sind. Einen besonders interessanten neuartigen Zugang zu Scheuchzers Werk bietet Michael Kempe (Konstanz), der Scheuchzers Aktivitäten als Feldarzt im Toggenburgerkrieg von 1712 thematisiert. Kempe kann zeigen, dass der Zürcher Arzt seine empirischen Verfahren aus der Naturwissenschaft auch auf die Analyse militärischer Vorgänge und Zusammenhänge übertrug und auf diesem Weg begann, seinen Zürcher Patriotismus zu hinterfragen.

Der Tagungsband enthält eine erfreulich große Zahl an Beiträgen, die den Blick für den Stellenwert von Scheuchzers Leben und Werk in langfristiger und überregionaler Perspektive schärfen. Thomas Maissen (Heidelberg) und Guy P. Marchal (Luzern) beschäftigen sich mit der Bedeutung von Scheuchzers patriotischen Deutungen der Alpen für die Schweizergeschichte vom ausgehenden Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Maissen zeichnet auf breiter Quellenbasis den Identität stiftenden Rekurs auf die Berge der Eidgenossenschaft zwischen Albrecht von Bonstetten (1442/43-1504/05) und Johann Jakob Scheuchzer nach. Maissens Beitrag setzt sich eingehend mit den theologischen Alpendiskursen von Zwingli und seinen Anhängern in Zürich auseinander, um in der Folge eine Reihe von interessanten Kontinuitäts- und Entwicklungslinien, aber auch Unterbrechungsphasen bis zu Scheuchzers patriotischen Alpenvisionen aufzuzeigen. Maissens These zufolge hätten die eidgenössischen Alpendiskurse erst spät, bei Scheuchzer aber dann ganz deutlich auch die katholischen Innerschweizer mit einbezogen (S. 177).

Marchal beginnt seinen Beitrag mit einer kurzen Schilderung des modernen schweizerischen Alpenstaatsmythos, wie er sich im 20. Jahrhundert, insbesondere in der Zeit der sogenannten Geistigen Landesverteidigung herausgebildet hat, um in der Folge die historischen Ursprünge dieser ideologischen Vorstellung aufzuspüren. Marchal sieht in der „imagologischen Bastelei der Helvetiker“ (S. 193) den zentralen Ausgangspunkt für die nationalen Alpenprojektionen des 19. und 20. Jahrhunderts. In diesem Kontext sei, so Marchals These, auch auf die Alpenvorstellungen von Scheuchzer zurückgegriffen worden, die sich ihrerseits aufgrund der „wissenschaftlichen“ Fundierung von allen bisherigen Bezugnahmen auf die Alpen unterschieden hätten (S. 189). Gegen Marchals deutliche Trennung der „wissenschaftlich“ begründeten Alpenvorstellungen Scheuchzers von den älteren theologischen Alpendiskursen des 16. Jahrhunderts wendet Maissen jedoch zu Recht ein, dass auch die naturwissenschaftlichen Aktivitäten von Scheuchzer noch grundsätzlich theologisch begründet waren. Andererseits gingen gerade die schöpfungstheologischen Reflexionen von Zwingli und seinen Anhängern auch schon mit einer aufwändigen Erkundung und patriotischen Deutung der heimischen Bergnatur einher, die insbesondere für Conrad Gesner gut dokumentiert sind, in dessen Tradition sich Scheuchzer selbst explizit gestellt hat.

Marita Hübner (Berkeley) sieht ähnlich wie Maissen deutliche Verbindungslinien zwischen der Bergforschung und dem Protestantismus. Sie deutet die geologischen Forschungsreisen von Jean André Deluc (1727-1817) überzeugend als eine Form protestantischer Erinnerungskultur. Wie die Beiträge von Christian Sieber (Zürich) und Ivano Dal Prete (Yale) über den altgläubigen Glarner Aegidius Tschudi und den venezianischen Dominikaner Valerio Faenzi zeigen, war die gelehrte Auseinandersetzung mit den Alpen jedoch kein exklusiv protestantisches Phänomen. Sieber unterstreicht zu Recht die Bedeutung von Tschudis kulturgeschichtlich ausgerichteten Alpenforschungen und stützt sich dabei unter anderem auf viele interessante, bis Scheuchzer reichende Rezeptionsspuren. Dal Pretes Beitrag über Faenzi zeigt, dass die naturgeschichtliche Forschung in Norditalien in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts sogar weitgehend frei von theologischen und kirchlichen Implikationen war, was sich mit der Gegenreformation dann allerdings änderte. Für den italienischen Alpinismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kann Alessandro Pastore (Verona) wiederum politische, nämlich aus nationalen Ideen und Fortschrittsutopien gespeiste Implikationen nachweisen.

Die Rezeption von Scheuchzers naturwissenschaftlichem Werk im weiteren 18. Jahrhundert thematisiert der Beitrag von Hubert Steinke und Martin Stuber (Bern), die eine Reihe von komplexen Kontinuitäts- und Bruchlinien von Scheuchzers Werk zu Albrecht von Hallers Alpengedicht und Wissenschaftsverständnis nachzeichnen. In der Mitte des 18. Jahrhunderts habe dann, so Jon Mathieu (Luzern) in seinem Beitrag über Alexander von Humboldt, ein „Revisions- und Spezialisierungsprozess“ (S. 299) in der Gebirgsforschung eingesetzt, der die Aktualität von Scheuchzers wissenschaftlichem Werk recht bald in Frage stellte. Für Alexander von Humboldt, dessen Aktivitäten schließlich dazu beitrugen, Gebirgssysteme in einem globalen Zusammenhang zu sehen, gehörte Scheuchzers Welt jedenfalls eindeutig der Vergangenheit an. Das von Scheuchzer und anderen Schweizer Aufklärern propagierte neue Schweizbild fand, wie Uwe Hentschel (Chemnitz) eindrucksvoll zeigt, schon bald Eingang in den so genannten deutschen Philhelvetismus. Die landschaftliche Komponente dieses Bildes ist bis heute in zahlreichen Landschaftsbezeichnungen auf der ganzen Welt präsent.

Die Lektüre dieses in der Breite wie Tiefe exzellenten und unbedingt empfehlenswerten Sammelbandes führt den Nutzen langfristiger diachroner und synchroner Betrachtungen in der Geschichtswissenschaft anschaulich vor Augen. Trotz aller damit einhergehenden Relativierungen bleibt am Ende Johann Jakob Scheuchzer eine faszinierende Gelehrtenpersönlichkeit. Allein die Einteilung und Reihenfolge der Beiträge hätte man vielleicht an manchen Stellen noch etwas besser organisieren können.

Mit Spannung bleibt auf mehrere neue Arbeiten zu warten, die im Band angekündigt werden: so eine neue Scheuchzer-Biographie, die derzeit Urs B. Leu vorbereitet, und eine für 2011 angekündigte vergleichende Geschichte der Berge in der Neuzeit von Jon Mathieu. Die Herausgeberin des Bandes koordiniert derzeit ein vielversprechendes Projekt zum Thema „Helvetic Networks: Science and Politics in the Correspondence of Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733)“. Hingewiesen sei schließlich auf die in einem eigenen Beitrag vorgestellten Forschungen zu Alpenbildern in Reiseberichten von Daniela Vaj (Lausanne) und das damit zusammenhängende Projekt einer Online-Bilddatenbank.3

Anmerkungen:
1 Als wichtiges Werk aus der Anfangsphase der Scheuchzer-Forschung sei hier verwiesen auf Michael Kempe, Wissenschaft, Theologie, Aufklärung. Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733) und die Sintfluttheorie, Epfendorf 2003.
2 Mit der „Entdeckung“ der einheimischen Natur im frühneuzeitlichen Europa beschäftigt sich ausführlich Alix Cooper, Inventing the Indigenous. Local Knowledge and Natural History in Early Modern Europe, Cambridge 2007.
3 Vgl. <http://www.unil.ch/viatimages> (21.10.2010).

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