K. v. Greyerz: Lebensstufen zwischen Mittelalter und Moderne

Cover
Titel
Passagen und Stationen. Lebensstufen zwischen Mittelalter und Moderne


Autor(en)
von Greyerz, Kaspar
Erschienen
Göttingen 2010: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
303 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Suter, Fakultät für Geschichte und Philosophie, Universität Bielefeld

Kaspar von Greyerz resümiert und erweitert in diesem Buch Ergebnisse zahlreicher Arbeiten, die er und seine Schüler/innen neben Anderen auf dem Gebiet der Selbstzeugnisforschung der Frühen Neuzeit geleistet haben. Er tut dies unter der Fragestellung, wie die Menschen im Zeitraum zwischen 1500-1800 mit den anthropologisch gegebenen Lebensstufen oder „Stationen“: Geburt und Taufe, Kindheit, Jugend und ihre Rituale, Gesellenzeit und Studium, Verlobung und Heirat, Alter, Tod umgegangen sind. Untersucht werden näherhin die Vorstellungen, die die Menschen von diesen Lebensstufen entworfen haben, die grundlegenden zeitspezifischen Erfahrungen, welche sich ihnen durch die einzelnen Lebensabschnitte mitteilten, sowie die Modi, mit denen sie die „Passagen“ vom einem Lebensabschnitt zum anderen gestalteten. Die zentrale, sich an dem von Arnold van Gennep entwickelten Konzept der „rites de passage“ orientierende, These des Buches ist, dass sich zwischen dem Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit auf der einen und der modernen Zeit auf der anderen Seite ein grundlegender Wandel vollzogen habe: „Die Lebensstufen in der Vormoderne sind viel stärker als in der uns vertrauten modernen Welt mit Ritualen und zwischen ihnen mit Phasen der Liminalität verbunden.“ (S. 233)

Materielle Grundlage seiner Studie sind zum einen eine souveräne Kenntnis der demographischen, sozialgeschichtlichen und kulturgeschichtlichen Literatur der letzten Jahrzehnte und zum anderen eine Auswahl von insgesamt 44 deutschsprachigen Selbstzeugnissen, die alle im 16., 17. und 18. Jahrhundert entstanden sind. Acht davon stammen von Frauen, 32 aus dem städtischen und 12 aus dem ländlichen Milieu, 35 der Autoren/innen besaßen eine adlige, städtisch-aristokratische oder kirchlich-pfarrherrliche Herkunft, 9 entstammten umgekehrt aus dem städtischen oder ländlichen Handwerk bzw. der Bauernschaft. Der sich daraus ergebende Blick privilegiert mithin die Perspektive der Männer, der Bewohner des städtischen Raumes sowie der Angehörigen des adligen, städtisch-aristokratischen und kirchlich-pfarrherrlichen Milieus, wofür den Autor jedoch keine Schuld trifft. Die Auswahl spiegelt die einfache Tatsache, dass Lesen und Schreiben in der Frühen Neuzeit kein Allgemeingut, sondern ein Privileg materiell und bildungsmäßig besser gestellter Schichten war. Ergänzt und erweitert wird die Materialbasis durch zahlreiche Bildquellen, die wohlgemerkt nicht als bloße Ausschmückung für den Text dienen, sondern genauso sorgfältig wie die Schriftquellen interpretiert und in den Argumentationsgang einbezogen werden.

Es ist hier nicht möglich, all die vielfältigen Beobachtungen und überraschenden Einsichten, welche diese Studie eröffnet und vermittelt, zusammenzufassen. Um dem Leser eine Vorstellung zu geben, was ihn bei seiner Lektüre an einzelnen Lebensstationen erwartet, sollen hier stellvertretend die Ausführungen zur Geburt referiert werden. Frauen durchliefen in der Zeit der Niederkunft in doppelter Hinsicht eine liminale Phase, die sie vom normalen Leben ausgrenzte. Als Gebärende und Wöchnerinnen pflegten sie nur noch den Kontakt zu anderen Frauen, namentlich der Hebamme, der Kindsamme, den Frauen aus der Verwandtschaft und Nachbarinnen, und sie waren auch ihrer normalen Aufgaben bei der Haushaltsführung enthoben. Männliche Frauenärzte, sogenannte „Acoucheurs“, und Ehemänner, die bei der Geburt helfend anwesend waren, sind wesentlich eine Erscheinung des 19. und 20. Jahrhunderts. Auch die Sexualität war aus dem Wochenbett, das entgegen dem Namen in den meisten Fällen mehrere Wochen und Monate dauerte, verbannt. Frauen, die eine Geburt hinter sich hatten, galten als „unrein“. Liminal war der Zustand der Gebärenden und Wöchnerinnen aber auch deshalb, weil Geburt und Wochenbett nach zeitgenössischer Erfahrung eng mit dem Tod verbunden waren. Die Säuglingssterblichkeit war im Vergleich zu heute enorm hoch und auch für die Mutter bedeutete die Geburt ein großes Risiko. Die Zeit der Geburt war deshalb in der Frühen Neuzeit in hohem Maße mit Angst besetzt; sie wurde als eine Phase existentieller Bedrohung erlebt. Dabei waren diese Bedrohungen nicht nur körperlicher, sondern auch spiritueller Art. Der Glaube war weit verbreitet, dass Teufel und Hexen mit Gott um die Seelen der ungetauften Säuglinge kämpften und sich ihrer durch den frühen Tod der ungetauften Kleinkinder zu bemächtigen suchten. Auch die Wöchnerinnen waren den Gefährdungen des Teufels auf besondere Weise ausgesetzt. In dem Maße aber, in dem die gebärenden Frauen und Wöchnerinnen von der übrigen Welt ausgegrenzt waren, mussten sie nach einer erfolgreich durchlebten Geburt und dem Wochenbett durch besondere Rituale wieder in die Gesellschaft zurückgeführt werden. Dies geschah sowohl in der katholischen wie in der lutherischen Konfession durch einen speziellen Kirchgang am Ende des Wochenbettes, welchen die Mutter oft in Begleitung der Hebamme und anderer Frauen absolvierte. Dabei wurden ähnlich wie im jüdischen Glauben bestimmte Reinigungsrituale vollzogen, spezielle Dankgebete für die erfahrene göttliche Hilfe gesprochen und der Wiedereintritt in die kirchliche und weltliche Gemeinschaft augenfällig gemacht.

Wie man sieht, können die hier vorgestellten Ergebnisse zur Phase der Geburt und des Wochenbettes die Hauptthese des Buches, wonach die einzelnen Lebensstationen in der Vormoderne stärker als in der Moderne durch den Aspekt der Liminalität und der symbolischen Einhegung dieser Liminalität durch Separierungs-, Übergangs- und Wiedereingliederungsrituale geprägt waren, überzeugend belegen. Die anderen Kapitel steuern weitere stützende Befunde bei. Eine Ergänzung und eine kritische Anmerkung möchte der Rezensent trotzdem noch anbringen, ohne freilich damit die großen Verdienste dieser interessanten Studie schmälern zu wollen. Die Ergänzung: Auf S. 183 wird ausgeführt, dass die „Rolle von selbstständig agierenden Kaufmannsfrauen des 17. und 18. Jahrhunderts noch nicht systematisch erforscht“ worden sei. Diese Feststellung muss durch den Hinweis auf die wichtige Untersuchung von Susanne Schötz1 stark relativiert werden. Schötz legte eine faszinierende Studie zur Rolle der Kaufmannsfrauen in Leipzig vor und zwar behandelt sie darin sowohl die gehobenen Fernhandelskauffrauen als auch die einfachen und armen Lebensmittelhändlerinnen und Marktfrauen. Die Kritik: Zwar grenzt sich Greyerz auf S. 26 im Anschluss an die von Werner Trossbach und anderen formulierten Einwände ebenfalls deutlich von dem Konzept des „Ganzen Hauses“ ab, das Otto Brunner in den 1950er-Jahren entwickelt hatte.2 Dem materiellen Kern der Kritik an Brunner, dass nämlich die vormodernen Gesellschaften im Unterscheid zur modernen eine sehr große Zahl von mobilen und unverheirateten Menschen (Tagelöhner, Bettler, Soldaten, Schausteller, Hausierer usw.) aufwiesen, die ganz andere Lebensformen als die Angehörigen sesshafter Haushalte von selbstständigen Handwerkern, Bauern, Pfarrherren, städtischen Patriziern sowie von adligen Grund- und Gutsherren entwickelten, kann die Studie von Greyerz jedoch nicht Rechnung tragen. Denn die Selbstzeugnisse der Frühen Neuzeit stammen praktisch ausnahmslos von Autoren, die nicht diesen mobilen Milieus und Schichten entstammten. Für die Angehörigen sesshafter Haushalte stellen die Selbstzeugnisse jedoch eine ungemein aufschlussreiche Quelle dar, wie diese Studie eindrücklich zeigt.

Anmerkungen:
1 Susanne Schötz, Handelsfrauen in Leipzig. Zur Geschichte von Arbeit und Geschlecht in der Neuzeit, Köln 2004.
2 Werner Trossbach, Das "ganze Haus" - Basiskategorie für das Verständnis der ländlichen Gesellschaft deutscher Territorien in der Frühen Neuzeit?, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 129 (1993), S. 277-314.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch