A. Braune: Fortschritt als Ideologie

Titel
Fortschritt als Ideologie. Wilhelm Ostwald und der Monismus


Autor(en)
Braune, Andreas
Erschienen
Anzahl Seiten
168 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katharina Neef, Religionswissenschaftliches Institut, Universität Leipzig

Nachdem Wilhelm Ostwald (1853-1932) vor allem Gegenstand der naturwissenschaftlichen Wissenschaftsgeschichte gewesen ist, steigt seit einigen Jahren auch das Interesse der Wissenschaftshistoriker, Kulturwissenschaftler und anderer Geistes- und Sozialwissenschaftler an dem vielseitig interessierten und aktiven Denker des frühen 20. Jahrhunderts – kein Wunder, seine Biografie taugt für Untersuchungen zu verschiedensten Fragestellungen: Als sozialer Aufsteiger betrieb der Deutschbalte nach 1880 die Etablierung der jungen physikalischen Chemie in der Wissenschaftslandschaft, um sich nach 1900 eher der Naturphilosophie zu widmen. Ab 1906 – nach einer frühzeitigen, erbetenen Pensionierung – war Ostwald als Privatgelehrter und Publizist tätig, der anfangs eine Lebensphilosophie, die „Energetik“, entwickelte und diese ab 1911 als Vorsitzender des freidenkerischen Deutschen Monistenbunds (DMB) auch mit einiger Breitenwirkung im Mittelstand und Bürgertum propagierte. Als Präsident des DMB geriet Ostwald – neben dessen Gründer Ernst Haeckel – zu einer Integralfigur der freidenkerischen Bewegung im Wilhelminismus und zu einem Stichwortgeber säkularistischer, kirchen- und religionskritischer sowie kulturreformerischer Kreise. Im bzw. nach dem Ersten Weltkrieg zog der Gelehrte sich zurück und formulierte eine quantitative, auf deren Messbarkeit beruhende Farbentheorie, der er auch Überlegungen zur Harmonie von Farben und Formen folgen ließ.

Die vorliegende Arbeit ist eine in Jena entstandene Magisterarbeit und widmet sich eben der „monistischen“ Phase im Leben Wilhelm Ostwalds, seiner Präsidentschaft in den Jahren 1911 bis 1915, in denen er auch als Redner und Herausgeber der Bundeszeitschrift einigen Einfluss auf die Diskurse der deutschen Freidenker ausübte. Braune erhebt dabei den Anspruch, Denken und Fordern Ostwalds weitgehend unter Ausschluss der „Implikationen dieses Denkens auf die ‚lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz‘ , die 1914 einsetzte und, wenn überhaupt, erst 1945 endete“ (S. 10), zu rekonstruieren – und damit die Fehler etwa Daniel Gasmans zu umgehen, der die Arbeiten Ernst Haeckels von dessen Rezeption durch die Nationalsozialisten her bearbeitet hatte.1 Neben dem Herangehen kritisiert Braune zurecht auch die Ergebnisse dieser Arbeiten und verweist auf die von der Forschung bisher zu wenig beachtete Fraktionsbildung innerhalb des DMB: Während Haeckel tendenziell sozialdarwinistische Positionen vertrat, propagierte Ostwald eher einen sozialreformerischen Kurs, der die Verbesserung der Gesellschaft weniger durch Ausmerzung der Schwachen, denn durch Verbesserung der Lebenssituation selbiger erreichen wollte. Durch die Gegenüberstellung der Konzepte Johannes Unolds und Wilhelm Ostwalds werden diese beiden Flügel denn auch stark kontrastiert: im Rechtshaeckelianismus ein egoistisches Menschenbild, das den „Kampf ums Dasein“ theoretisiert, im sozialreformerischen Neolamarckismus ein optimistisches, kooperativ-soziales Menschen- und Gesellschaftsbild (S. 96 und 109 f.). Allerdings scheint die weitergehende Etikettierung des Ersteren als „kritischen Realismus“ und des Letzteren als „(utopischen?) Idealismus“ (S. 110) als wenig instruktiv; Kategorien wie Pessimismus und Optimismus hätten sich vielleicht als wertfreiere Zuschreibungen angeboten. Denn inwiefern die negative bzw. positive Sicht auf die Natur des Menschen und seiner Vergesellschaftung „realistisch“ oder „utopisch“ sind, liegt doch zuvorderst im Auge des Betrachters und nicht im jeweiligen Entwurf.

Eben dieser linke Flügel dominierte – wie Braune aus der vereinseigenen Publizistik nachweist (S. 17 und Kapitel 3 und 4) – den DMB in seiner „Ostwaldphase“, auch weil unter dessen Ägide Vertreter und Vordenker des Neolamarckismus an den Bund heran- und in diesen hineingeführt wurden (etwa Heinz Potthoff, Rudolf Goldscheid oder Paul Kammerer). In dieser Zeit kam es auch zur Öffnung und intensiven Netzwerkbildung des DMB mit den kulturpolitischen und -reformerischen Bewegungen dieser Zeit, etwa Friedens-, Frauen-, Abstinenz- und Siedlungsbewegung, Bodenreform, Genossenschaftswesen, Sexualreform, Feuerbestattung oder Reformpädagogik und in geringerem und teilweise ambivalentem Verhältnis Lebensreform, Impfgegnertum, Tierschutzbewegung und letztlich auch Sozialdemokratie. Bei der Verbindung mit letzterer scheiterte man im Grunde an Schichtgrenzen, obwohl im gemeinsamen Engagement („Komitee Konfessionslos“) doch einige Achtungserfolge bei der Kirchenaustrittsagitation erzielt werden konnten (S. 85).

Als Grundlagen dieses Engagements identifiziert Braune intensiv das positivistische und entwicklungsoptimistische, durch naturwissenschaftliche Praxis und Auguste Comte geformte Weltbild Ostwalds und seiner Mitstreiter (Kapitel 3 zum „theoretischen Monismus“) sowie das daraus und aus Ostwalds energetischer Naturphilosophie resultierende Menschenbild und Gesellschaftsverständnis (Kapitel 4 zum „praktischen Monismus“). Den praktischen Monismus, also die kulturpolitische und aktive Umsetzung der Programmatik, fasst Braune dabei in vier Dimensionen: als Kirchenkritik und Kirchenaustrittspropaganda, als Debatte „Sozialdarwinismus vs. Soziallamarckismus“, in den formulierten Forderungen an Staat und Gesellschaft und im Zusammenspiel internationalistisch-pazifistischen Engagements und Kriegsausbruch 1914. Bemerkenswert ist dabei die Feststellung, dass es zur Verortung des Monismus in Zeitgeist und Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht taugt, dessen Modernität zu ‚bewerten‘, indem etwa Progressivität oder Konservationspotenzial des monistischen Programms eingeschätzt wird. Die Polarität von Moderne oder Anti-Moderne unterlaufen die Forderungen des DMB konsequent (ebenso wie die Ansätze vieler anderer Bewegungen dieser Zeit; S. 14 und 81). Die Forderung nach einer modernen, areligiösen Ethik etwa deutet Braune schlüssig nicht als Degenerations- und damit Modernekritik, sondern als Forderung nach einer säkularen Moral (S. 81).

Eine wenig ausgearbeitete, aber vielversprechende Überlegung Braunes ist die Kategorisierung Ostwalds als „wilhelminischen Nonkonformisten“ (S. 115-121), die sich letztlich auf Ostwalds (und der linksreformerischen Monisten) Standpunkt zu Monarchie und (Sozial-) Demokratie zuspitzen lässt: Während die Sozialreformer in der (vorsichtigen) Demokratisierung des wilhelminischen politischen Systems einen gesellschaftlichen Gewinn sahen – ohne dabei Antimonarchisten zu sein – sei die konformistische Position ein Ressentiment gegen die Demokratisierungstendenzen des Wilhelminismus aus Angst vor der Vermassung und dem mangelnden Vertrauen in die ‚Weisheit der Vielen‘ gewesen. Braune beschränkt seine Kategorie (leider) nur auf den Standpunkt zum politischen System des Wilhelminismus, statt sie von der eingangs gestellten Frage „was unterschied eigentlich einen Monisten von seinen wilhelminischen Mitbürgern?“ (S. 78) abzuleiten und Nonkonformismus auch als bewusste Inszenierung von Andersartigkeit und Avantgarde publizistisch und in der Lebensführung zu formulieren, wie es die verschiedenen Vertreter der wilhelminischen Reformbewegungen taten – als Abstinenzler, Jugendbewegte, Kommunarden, (Salon-) Sozialisten, Atheisten, Theosophen bzw. später Anthroposophen, Frauenrechtler, Unterstützer der Petition gegen die Strafbarkeit von Homosexualität, Reformpädagogen oder Bildungsreformer.

Der Blick auf den DMB als praktischen Verein, zwar mit Blick auf dessen geistige Wurzeln, aber eben vor allem auf dessen gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Komponenten, ist bisher wenig gewagt worden. 2
Dass dieser Blick vor allem durch die Brille Wilhelm Ostwalds geschieht, ist dabei zwar etwas verengend, aber vor dem Hintergrund des Entstehens der Arbeit verständlich und unter Rückgriff auf den Umstand, dass Ostwald zweifelsohne der monistische Wortführer der Jahre 1911 bis 1914 war, plausibel. Insofern ist das Buch für kulturhistorisch interessierte Leser mit verschiedensten Schwerpunkten lohnenswert.

Anmerkungen:
1 Daniel Gasman, The Scientific Origins of National Socialism. Social Darwinism in Ernst Haeckel and the German Monistic League, London 1971; Ders., Haeckel’s Monism and the Birth of Fascist Ideology, New York 1998.
2 Vgl. Gangolf Hübinger, Die monistische Bewegung. Sozialingenieure und Kulturprediger, in: Rüdiger vom Bruch u.a. (Hrsg.), Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. II. Idealismus und Positivismus, Stuttgart 1989, S. 246-259; Paul Ziche (Hrsg.), Monismus um 1900. Wissenschaftskultur und Weltanschauung, Berlin 2000; Frank Simon-Ritz, Kulturelle Modernisierung und Krise des religiösen Bewußtseins. Freireligiöse, Freidenker und Monisten im Kaiserreich, in: Olaf Blaschke / Frank-Michael Kuhlemann (Hrsg.), Religion im Kaiserreich. Milieus - Mentalitäten – Krisen, Gütersloh 1996, S. 457-473.

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