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Titel
Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg


Autor(en)
Müller, Tim B.
Erschienen
Anzahl Seiten
736 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernhard Schulz, Der Tagesspiegel, Berlin

Herbert Marcuse arbeitete, wie wohlbekannt ist, einige Jahre lang im amerikanischen Außenministerium. Doch gilt das Jahrzehnt zwischen 1942 und 1952, in dem er nicht mehr als eine einzige Rezension publizierte, gemeinhin als Zeit des bloßen Broterwerbs ohne tiefere Bedeutung für die Entwicklung seines Denkens, das sich – so die Legende – erst in der Kritik an der US-Politik zu voller Höhe entwickelt habe. Tim B. Müller, seit 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung, dreht nun diese Abfolge um. In seinem Buch „Krieger und Gelehrte“ vertritt er die These, dass die Dekade im Staatsdienst für Marcuse eine geradezu formative Bedeutung gehabt habe. In diesem Jahrzehnt habe sich bei Marcuse jenes Denken herausgebildet, das die spätere Protesthaltung insbesondere gegenüber dem Vietnam-Krieg überhaupt erst verständlich mache.

Gegen Ende der imponierend materialreichen Studie, seiner an der Humboldt-Universität zu Berlin entstandenen Dissertation, verdeutlicht Müller, dass der bekannte Konflikt zwischen Herbert Marcuse und Theodor W. Adorno in den späten 1960er-Jahren keineswegs ursächlich an der Gewaltfrage aufgebrochen war. „Nicht philosophische Fragen, sondern historische Umstände hatten das gegensätzliche Verhältnis zu einem Vernunftbegriff, der politisches Handeln legitimierte, auf die Spitze getrieben.“ (S. 645) Marcuse nämlich war im Staatsdienst, zunächst im Office for Strategic Services (OSS) und dann im State Department, „zur Praxis übergegangen. […] Für Marcuse brachten diese Jahre die Erfahrung mit sich, dass Handeln möglich war.“ (S. 646f.) Die kontinuierliche Geschichtserfahrung Marcuses, die anders als die ins Letzte getriebene dialektische Selbstvergewisserung Adornos nicht bis zur „objektiven Unmöglichkeit“ des „Ausbrechens“ verstellt worden war – wie Adorno kurz vor seinem Tod 1969 an den früheren Weggefährten schrieb –, brachte Marcuse „zurück auf den Boden des politischen Systems der USA“ (S. 648). Es ist reizvoll, Müllers Einsichten parallel zu jenen von Thomas Wheatland zu verfolgen, der in seinem 2009 veröffentlichten Buch „The Frankfurt School in Exile“ eine deutlich skeptischere Sicht auf Marcuses Verhältnis zu den USA zeigt.1

Dies ist nur ein Beispiel für die Methode, die Müller in bewusster Umdeutung von Adornos und Horkheimers Buchtitel „Dialektik der Aufklärung“ nennt. Die Mitarbeit am Kampf zunächst gegen Nazi-Deutschland und dann, im anbrechenden Kalten Krieg, gegen die Sowjetunion, veränderte Marcuses eigene Position so sehr, dass er, der erklärte Linke, zum typischen Liberalen der Nachkriegsära werden konnte. Müller entwirft ein Panorama dieser Elite aus Ostküsten-Establishment, Gelehrten und Universitätsmanagern, das allein die Lektüre des Buches lohnt.

Damit ist das weit ausgreifende Anfangskapitel des Buches angesprochen – in dem der Name Marcuse zunächst kaum vorkommt. Müller legt die Konstituierung des amerikanischen Geheimdienstes während des Zweiten Weltkriegs dar und zeichnet minutiös dessen Entwicklung nach – bis zur Ausbildung des National Security State, des „Nationalen Sicherheitsstaates“. Keimzelle war das 1941/42 gebildete OSS, aus dem nach manchen Wirrungen 1947 die Central Intelligence Agency (CIA) hervorging. Im Mittelpunkt des OSS stand die Abteilung Research und Analysis (R&A) mit rund 2.000 Mitarbeitern, darunter Carl E. Schorske – als einziger noch lebender Zeuge dieser Zeit –, Gordon A. Craig, der Kennedy-Biograf Arthur Schlesinger oder der höchst einflussreiche Stuart Hughes. In der Central European Branch hingegen versammelte sich eine historisch einmalige Mischung aus amerikanischen Gelehrten und deutsch-jüdischen Emigranten; genannt seien neben Marcuse nur Franz Neumann und Otto Kirchheimer, aber ebenso der Soziologe Barrington Moore. Diese Geschichte ist in der Forschung gut erschlossen, was Müller vorbehaltlos konzediert. „Dabei begegnet uns ein fundamentaler Prozess der Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert: Wissenschaft und Politik entfalten als Ressourcen füreinander Wirkung“, sie waren „untrennbar miteinander verflochten“ (S. 19).

Müllers Schwerpunkt liegt allerdings gerade nicht auf der Geheimdienstgeschichte, sondern auf der Darstellung der „epistemischen Gemeinschaft“, die sich in diesen – geradezu mit Bewunderung geschilderten – Abteilungen herausbildete. Das ist für die Logik des Buches von entscheidender Bedeutung. Denn nur eine solche Wissenschafts- und eben auch Wertegemeinschaft macht verständlich, warum im OSS und später im Außenministerium ein solcher Konsens in der Beurteilung der politischen Lage entstehen konnte – sei es in Nachkriegsdeutschland und Europa, sei es im Hinblick auf den Kommunismus und die Sowjetunion. Dieser Konsens wurde geteilt von New-Deal-Anhängern wie von Konservativen auf amerikanischer Seite, von Sozialdemokraten wie Neumann und Linksradikalen wie Marcuse auf deutsch-exilantischer Seite.

Hochinteressant ist die Rolle, die die Division of Research for Europe im Außenministerium bei der Entstehung des Kalten Krieges spielte. Der Marshallplan, gemeinhin als Bestandteil der Containment-Politik gesehen, wurde Müller zufolge als Angebot zur Entspannung konzipiert, unter Einbeziehung der sowjetischen Satellitenstaaten, aber unter politischer Neutralität Europas, um dem Sicherheitsbedürfnis der Sowjetunion entgegenzukommen. Doch die „linksliberalen Erfinder des Marshallplans“ (S. 100), die sich nach dem Muster des New Deal die Fortsetzung des Wohlfahrtsstaates im Rahmen des westlich-amerikanischen politischen Systems vorstellten, mussten den politischen Realitäten Tribut zollen, das heißt der eisernen Konsolidierung des Ostblocks ab 1948.

Hin und wieder muss sich Müller nach seinen beeindruckenden Ausflügen in unterschiedlichste Regierungsagenturen und -projekte selbst einfangen, um den Blick auf Marcuse nicht zu verlieren. Dessen Thema war die Sowjetforschung. Sie ergab bald, dass die UdSSR mitnichten ein monolithischer Block war, sondern durchzogen von diversen Friktionen. Von der Totalitarismustheorie hielten die Think Tanks gar nichts; diese Theorie war für die Intellektuellen im amerikanischen Staatsdienst erledigt, bevor sie überhaupt ihre Karriere in der universitären Welt begann, von der politischen Öffentlichkeit ganz zu schweigen.

Immer wieder betont Müller das am wissenschaftlichen Ethos ausgerichtete Klima der Planungsabteilungen, nach „dem Modell des Geheimdienstanalytikers als Sozialwissenschaftler“ (S. 133). Das gilt noch stärker für die Arbeiten, die von der Rockefeller-Stiftung finanziert wurden, in den Anfangsjahren des Kalten Krieges der wichtigste private Finanzier überhaupt.2 Am Russian Institute der Columbia University, von Rockefeller quasi ins Leben gerufen, forschte Marcuse über den Kommunismus. Das Ergebnis war das 1958 erschienene „vergessene Hauptwerk“ (S. 448) „Soviet Marxism“, das die ideologiekritische Perspektive ausführt, die Marcuse bereits bei der Implementierung des Projekts 1953 angemahnt hatte. Das Buch entsprang exakt den Vorstellungen der psychologischen Kriegsführung, wie Müller sehr genau herausarbeitet.

Marcuse kam im intellektuellen Milieu der USA zu Ruhm und Ansehen; seine Doppelprofessur in Brandeis und Berkeley bereits 1954 ist ein deutlicher Beleg. Der Kalte Krieg im engeren Sinne indessen neigte sich dem Ende zu, und die Entspannungspolitik, die die intellektuellen Politikberater bereits Mitte der 1950er-Jahre hatten kommen sehen, trat an seine Stelle. Wenn es eine Schwäche des vorliegenden Buches gibt, dann die, die Einordnung als Kalter Krieg ungebührlich bis zum Vietnamkrieg, ja bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion auszudehnen.

Andererseits jedoch – und damit schließt auch Müller den Kreis, den sein Buch ausmisst – verloren die Geheimdienste gerade zu dieser Zeit ihre eigentliche Stärke. „Die Offenheit gegenüber alternativem Denken nahm in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre rapide ab. In dem Augenblick, in dem sich das entspannungspolitische Koexistenz-Paradigma, das aus den strategischen Apparaten stammte, in der Politik durchgesetzt hatte, zerbröckelte die zuvor beschriebene epistemische Gemeinschaft zusehends. […] Die Marginalisierung abweichenden Wissens im Apparat spielte eine verhängnisvolle Rolle auf dem Weg in den Vietnamkrieg.“ (S. 516f.) Herbert Marcuses Altersruhm stand genau mit den Kontroversen um diesen Krieg noch bevor. Aber so vehement er sich gegen den Neo-Imperialismus wenden mochte – er war, auch und gerade darin, längst ein amerikanischer Intellektueller geworden.

Anmerkungen:
1 Thomas Wheatland, The Frankfurt School in Exile, Minneapolis 2009. Rezensiert von Detlev Claussen, in: H-Soz-u-Kult, 22.12.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-4-246> (28.10.2010).
2 Vgl. John Krige, American Hegemony and the Postwar Reconstruction of Science in Europe, Cambridge 2006.